Canto 3
Das Höllentor. Die Vorhölle der Gleichgültigen. Die Wanderer kommen ans Ufer des Acheron, wo sich die Sünder versammeln, die der Dämon Charon über den Fluß bringt.
1 »Durch mich geht es zur Stadt der Leiden,
Durch mich geht es zum ewigen Schmerz,
Durch mich geht es zu verlorenen Menschen.
Gerechtigkeit bewog meinen hohen Schöpfer;
göttliche Macht erschuf mich,
höchste Weisheit und erste Liebe.
Vor mir wurde nur Ewig-Dauerndes erschaffen,
auch ich daure ewig.
Die ihr hereinkommt: Laßt alle Hoffnung fahren!«[21]
10 Diese Worte sah ich über dem Tor geschrieben in schwarzer Farbe. Deshalb sagte ich: »Meister, ihr Sinn ist mir hart.« Und er zu mir, wie einer, der begriffen hat: »Hier gilt kein Bedenken. Jeden Kleinmut mußt du ertöten. Wir sind dort angekommen, wovon ich dir sagte, du wirst Leute leiden sehen, die das Gut des Intellekts verloren haben.«[22] Dann legte er heiteren Gesichts seine Hand auf meine, ich schöpfte Zuversicht, und er führte mich hinein zu den unterirdisch-geheimen Dingen. Hier ertönten Seufzer, Weinen und laute Schreie durch die sternenlose Luft; ich fing an zu weinen. Verschiedene Sprachen, schreckliche Laute, Schmerzensschreie, Wutausbrüche, schrille und erstickte Rufe und dazu das Aufklatschen schlagender Hände machten Lärm, der in der zeitlos finstern Luft wie Sand im Wirbelsturm ständig kreiste.
31 Und ich, den Kopf benommen vom Zweifel,[23] fragte: »Meister, was ist das, was ich höre? Und was sind das für Leute, die der Schmerz so überwältigt?« Darauf er zu mir: »So elend geht es den schlechten Seelen derer, die ohne Schande lebten und ohne Lob.[24] Unter sie mischt sich der schlechte Chor von Engeln, die gegen Gott weder aufsässig waren noch treu, sondern abseits standen. Die Himmel werfen sie hinaus, denn sie wären sonst weniger schön; und der Höllenschlund nimmt sie nicht auf, sonst könnten die Schuldigen sich das noch zur Ehre anrechnen.« Und ich: »Was ist so hart für sie, daß sie so laut jammern?« Er antwortete: »Ich will es dir ganz kurz erklären: Sie können nicht einmal auf den Tod hoffen, und ihr blindes Leben ist so niedrig, daß sie jedes andre Los beneiden. Die Welt gönnt ihnen keinen Nachruhm, von Mitleid und Gerechtigkeit sind sie verschmäht. Reden wir nicht von ihnen. Schau nur und geh weiter.«
52 Ich schaute hin und sah eine Fahne, die so rasch im Kreis lief, daß ihr sichtlich kein Halten gegönnt war. Hinter ihr kam ein so langer Zug von Leuten – nie hätte ich geglaubt, daß der Tod schon so viele hingerafft hätte. Ich erkannte den einen und den anderen darunter; da sah und erkannte ich den Schatten des Mannes, der aus Kleinmut den großen Verzicht tat.[25] Sofort verstand ich und war gewiß: Das war die Gruppe der Schlechten, die sowohl Gott mißfallen wie seinen Feinden. Diese Jammerfiguren haben nie gelebt; sie waren nackt und ganz zerstochen von Mücken und Wespen, die ihnen folgten. Ihr Gesicht war überströmt von Blut, vermischt mit Tränen. Es ernährte an ihren Füßen ekelhaftes Gewürm.
70 Dann blickte ich mich weiter um und sah Leute am Ufer eines großen Flusses. Daher sagte ich: »Meister, darf ich wissen, welche Leute das sind? Und was ist mit ihnen los, daß sie es mit dem Übersetzen offenbar arg eilig haben, wie ich bei dem fahlen Licht erkenne?« Und er zu mir: »Diese Dinge durchschaust du, wenn wir unsere Schritte anhalten am düsteren Fluß Acheron.« Da senkte ich verschämt die Augen. Ich fürchtete, mein Reden könnte ihm lästig werden, und bis zum Fluß hielt ich mich mit Sprechen zurück.
82 Doch da kam uns auf einem Schiff ein Greis mit schlohweißem Haar entgegen und schrie: »Weh euch, ihr verkommenen Seelen! Hofft nicht, je den Himmel zu sehen. Ich komme, um euch ans andere Ufer zu bringen, in die ewige Finsternis, in Feuer und Eis. Und du dort drüben, lebende Seele, heb dich weg von diesen hier, die tot sind.« Aber dann, als er sah, daß ich nicht wegging, rief er: »Du kommst auf einem andren Weg, aus anderen Häfen zum Ufer, nicht hier. Ein leichteres Boot soll dich tragen.« Und mein Führer zu ihm: »Charon, quäl dich nicht. Es wird dort so gewollt, wo man kann, was man will, und frage nicht weiter.«[26] Darauf kamen die behaarten Wangen des Fährmanns, der um die Augen Feuerringe hatte, auf dem trüben Gewässer zur Ruhe. Aber die anderen Seelen, die matt und nackt da warteten, erbleichten und klapperten mit den Zähnen, kaum hatten sie die rohen Worte gehört. Sie verfluchten Gott und ihre Eltern, das Menschengeschlecht, den Ort und die Zeit, den Samen ihrer Erzeugung und ihre Geburt. Dann zogen sie sich alle laut weinend zurück an das böse Ufer, das jeden erwartet, der Gott nicht fürchtet. Charon, der Dämon mit glühenden Augen, treibt sie mit Gesten ins Boot und schlägt mit dem Ruder nach jedem, der sich’s bequem macht.[27]
112 Wie im Herbst sich die Blätter lösen, eins nach dem andern, bis der Zweig sein ganzes Kleid dem Boden zurückgibt,[28] so stürzt die böse Brut Adams sich vom Ufer, einer nach dem andern – auf bloßen Wink hin wie ein Jagdvogel beim Rückruf. Dann gleiten sie hinüber auf der dunklen Flut, und bevor sie drüben ausgestiegen sind, sammelt sich diesseits eine neue Schar. »Mein Sohn«, sagte der freundliche Meister, »alle, die im Zorn Gottes sterben, kommen hier aus allen Ländern zusammen. Sie zeigen Eifer, den Fluß zu überqueren, denn die göttliche Gerechtigkeit spornt sie an, so daß ihre Angst sich wandelt zu Begierde.[29] Hier setzt nie eine gute Seele über; wenn also Charon sich über dich beschwert, dann verstehst du jetzt, was seine Rede meint.«
130 Kaum hatte er zu Ende geredet, da erbebte die dunkle Landschaft so stark, daß mein Geist sich heute noch vor Schreck in Schweiß badet. Die tränennasse Erde entfachte Sturm; blutrotes Licht blitzte auf und raubte mir das Bewußtsein. Ich stürzte hin wie ein Mensch, den der Schlaf packt.