Canto 30
Dante kommt ins Empyreum. Er wird aufgenommen in die weite, weiße Himmelsrose, die gebildet wird von den Sitzen der Seligen. Beatrice zeigt Dante den leeren Thron für Kaiser Heinrich VII. und verkündet die Verdammung von Papst Clemens V.
1 Vielleicht sechstausend Meilen von uns entfernt brennt die sechste Stunde; hier wirft die Erde ihren Schatten westwärts fast aufs flache Bett. Der Himmelsraum in seiner Tiefe beginnt sich so zu verändern, daß mancher Stern mit seinem Schein nicht mehr durchdringt bis zu unserem Boden, und wenn dann Aurora, die hellste Magd der Sonne, vorankommt, verschließt sich der Himmel von Stern zu Stern bis hin zum schönsten. Nicht anders war für meinen Blick der Triumphzug entschwunden, der den Punkt stets umtanzt, der mich überwältigte und der das umschließt, wovon er umschlossen scheint.[755]
14 Die Augen wieder auf Beatrice zu richten, dazu zwang mich die Liebe und daß ich nichts sah. Würde alles, was bisher von ihr gesagt ist, in einem einzigen Loblied zusammengefaßt, es wäre zu wenig, die Aufgabe zu erfüllen. Die Schönheit, die ich sah, übersteigt nicht nur unser Maß, sondern ich bin mir gewiß, dass allein ihr Schöpfer sich ihrer ganz erfreuen kann. Von dieser Schwierigkeit erkläre ich mich besiegt; ich versage hier mehr als je ein Dichter, sei’s der Komödie, sei’s der Tragödie, vor einem Punkt seines Themas versagt hat. Die Sonne schmerzt im schwachen Auge am meisten, so entreißt das Erinnern an ihr süßes Lächeln meinen Geist sich selbst. Vom ersten Tag an, da ich ihr Auge sah in diesem Leben, bis zu dem jetzigen Anblick war es meinem Gesang geglückt, mich ihr zu nähern, aber jetzt muß ich verzichten, ihrer Schönheit dichtend weiter zu folgen, wie jeder Künstler, der vor seinem Äußersten steht. In einer Gestalt, die zu beschreiben ich einem stärkeren Ausrufer überlassen muß als meiner Tuba, die dabei ist, ihr schwieriges Thema zu beenden. Mit Gestus und Stimme eines Führers, der seine Aufgabe erledigt hat, begann sie wieder:
38 »Wir sind jetzt übergegangen vom größten Körper zu dem Himmel aus reinem Licht, geistigem Licht, voll von Liebe, Liebe zum wahren Guten, voll von Freude, die jede Süße übersteigt.[756] Hier siehst du die beiden Heerscharen des Paradieses; eine von beiden bietet den Anblick, den du sehen wirst beim Jüngsten Gericht.«[757]
46 Ein plötzlicher Blitz betäubt die Sehgeister und hindert das Auge, die Einwirkung selbst stärkster Gegenstände aufzunehmen, so umstrahlte mich lebendiges Licht und hüllte mich mit seinem Leuchten in einen solchen Schleier, daß ich nichts mehr sah. »Immer begrüßt die Liebe, die diesem Himmel die Ruhe schenkt, mit einem solchen Lichtgruß. Sie macht die Kerze aufnahmefähig für ihre Flamme.« Kaum waren diese kurzen Worte in mich gedrungen, da begriff ich, daß ich aufstieg über meine Kraft hinaus. Ich entflammte zu neuer Sicht. Kein Licht ist für sie zu strahlend, als daß meine Augen es nicht ertragen hätten.
61 Und ich sah Licht in Form eines Flusses von rotgoldenem Glanz[758] zwischen zwei Ufern, gemalt in wunderbaren Frühlingsfarben. Aus diesem Fluß traten lebendige Funken aus und setzten sich in die Blumen wie Rubine, die Gold einfaßt. Dann, wie berauscht von den Düften, kehrten sie zurück in den Strudel der wunderbaren Flut, und wenn einer hineinsank, stieg ein anderer heraus. »In dir entbrennt jetzt die hohe Sehnsucht und treibt zu begreifen, was du siehst. Sie gefällt mir um so mehr, je mehr sie anschwillt. Aber zuerst mußt du von diesem Wasser trinken, bevor dein Durst gestillt wird, der so groß ist.« So sprach zu mir die Sonne meiner Augen. Dann fügte sie hinzu: »Der Fluß und die Topase, die hineingehen und herauskommen, auch das Lachen der Pflanzen, sie sind nur schattenhafte Vorwegnahmen ihres wahren Wesens. Nicht als seien diese Dinge in sich unvollkommen, der Fehler liegt bei dir. Deine Augen sind noch nicht herrlich genug.«
82 Nie hat ein Kind, das viel später erwacht als gewohnt, sich mit seinem Mund so heftig auf die Milch gestürzt wie ich, um aus meinen Augen bessere Spiegel zu machen, als ich mich zu der Welle beugte, die entströmt, damit wir besser würden. Kaum trank daraus die Traufe meiner Augenlider, da sah ich schon den langen Fluß zum Kreis gerundet. Dann, wie Leute, die maskiert waren, aber die Maske, in der sie nicht mit ihrer Eigengestalt auftraten, ablegen und ganz anders aussehen als zuvor, so verwandelten sich mir Blumen und Funken in noch größere Festlichkeit, und beide Höfe des Himmels lagen offen vor meinen Augen.
97 O Glanz Gottes, in dem ich den hohen Triumph des wahren Reiches erblickte, gib mir die Kraft zu sagen, wie ich ihn sah.
100 Ein Licht ist dort oben, das den Schöpfer sichtbar macht für das Geschöpf, das seinen Frieden nur findet, indem es ihn sieht. Dieses Licht dehnt seine Kreisform immer mehr aus, so daß sein Umfang selbst für die Sonne ein zu weiter Gürtel wäre. Seine Erscheinung besteht aus einem Strahl, der sich spiegelt am höchsten Punkt des Erstbewegten, des Primum mobile, das von ihm Leben und Kraft empfängt. Und wie ein Abhang sich spiegelt im Wasser zu seinen Füßen, als wolle er sich sehen in seinem Schmuck, wie er mit Grün und Blumen prangt, so sah ich rings im Kreis alle von uns, die dorthin zurückgekehrt sind, rund um das Licht sich auf mehr als tausend Schwellen spiegeln. Schon die unterste Stufe empfängt derart großes Licht – wie gewaltig ist dann die Weite dieser Rose an den äußersten Blättern! Mein Blick verlor sich nicht in der Weite und Höhe, sondern faßte Umfang und Art dieser Freude genau auf. Nah oder fern, das fördert dort nichts noch hindert es etwas; denn wo Gott unmittelbar regiert, hat das Gesetz der Natur keine Bedeutung.
124 Mitten hinein ins Gelb der ewigen Rose, die sich ausdehnt, abstuft und den Wohlgeruch des Lobs verströmt zu der Sonne ewigen Frühlings, zog mich, der ich schwieg, aber reden wollte, Beatrice und sagte: »Schau, wie groß sie ist, die Versammlung weißer Gewänder! Schau unsere Stadt, welch weiten Umkreis sie umfaßt! Schau, wie unsere Sitze besetzt sind; es fehlt nicht mehr viel Volk. Und auf diesem großen Sessel, auf den du die Augen richtest, wegen der Krone, die bereits darauf gelegt ist, dort wird, bevor du bei diesem Hochzeitsmahl speist, die Seele des großen Heinrich sitzen. Er wird unten Herrscher sein, und er wird kommen, Italien zurechtzurücken, bevor es dafür reif ist. Die blinde Gier hat euch um den Verstand gebracht; ihr seid wie ein Kind geworden, das vor Hunger stirbt, aber die Amme verjagt. Der Vorsteher der göttlichen Behörde wird dann einer sein, der offen und verdeckt nicht den gleichen Weg geht wie der Kaiser. Aber Gott wird ihn nicht lange dulden im heiligen Amt; er wird hinabgestürzt nach unten, wo Simon Magus ist durch eigene Schuld, und er wird den Mann von Anagni noch weiter nach unten stoßen.«[759]