Canto 11
Pause am Übergang zum siebten Kreis. Vergil erklärt die Anordnung der Hölle. Zuletzt begründet er, warum Wucher schlecht ist.
1 Wir kamen nun zum äußersten Rand eines steilen Abhangs, den große Felsbrocken kreisförmig bildeten; wir standen hoch über einer noch grausamer gequälten Menge. Aber wegen des Übermaßes an Gestank, den der Abgrund ausströmt, zogen wir uns zurück unter das Dach einer großen Grabanlage.[79] Dort sah ich eine Inschrift, die sagte: ›Hier liegt Papst Anastasius, den Photinus vom rechten Weg abzog.‹[80] »Wir müssen den Abstieg langsam nehmen, damit unsere Sinne sich erst ein wenig an den ekelhaften Geruch gewöhnen; später brauchen wir darauf nicht mehr zu achten.« So der Meister. Darauf ich: »Dann finde du einen Ausgleich, damit die Zeit nicht ungenutzt vergeht.« Und er: »Schau her: ich bin schon dabei.« Dann begann er zu reden: »Mein Sohn, in diesen Felsen hier gibt es drei Kreise; sie sind abgestuft wie die, die du verlassen hast. Alle sind voll von verurteilten Geistern. Aber damit dir nachher der bloße Anblick genügt, hör dir an, wie und warum sie zusammengepfercht sind.[81]
22 Jede Bosheit, die den Haß des Himmels verdient, zielt aufs Unrecht, das dem Nächsten schadet, sei’s mit Gewalt, sei’s mit Betrug. Betrug ist das spezifisch menschliche Böse, darum mißfällt er Gott mehr; deswegen befinden sich die Betrüger weiter unten und leiden größeren Schmerz. Der erste Kreis gehört ganz den Gewalttätigen. Gewalt wird geübt gegen drei Personengruppen, daher ist sein Bau unterteilt in drei Ringe: Gewalt kann man anwenden gegen Gott, gegen sich selbst oder gegen den Nächsten, und zwar jeweils gegen sie selbst oder gegenüber dem, was ihnen gehört. Das wirst du bald in klarer Beweisführung hören.
34 Dem Nächsten zugefügt werden gewaltsamer Tod oder schmerzhafte Wunden; sein Besitz kann durch Brand zerstört werden oder durch Raub. Deswegen quält der erste Ring Mörder und Gewalttätige, Brandstifter und Räuber, in getrennten Gruppen.
40 Der Mensch kann auch Hand anlegen an sich selbst und gegen seine Güter; daher muß im zweiten Ring jeder vergeblich bereuen, der sich selbst eurer Welt beraubt, seine Habe verspielt und verschleudert. Dahin gehört auch, wer klagt, wo er fröhlich sein sollte.
46 Der Gottheit kann Gewalt antun, wer sie im Herzen verneint oder offen verflucht, auch wer die Natur und ihren Wert verachtet. Darum werden im kleinsten Ring des Kreises Sodomiten und Wucherer gebrandmarkt, auch wer Gott mißachtend lästert.[82]
52 Betrug, der das Gewissen immer beißt, kann der Mensch begehen entweder gegen den, der ihm vertraut oder gegen den, der ihm mißtraut. Diese zuletzt genannte Art zerreißt offenbar nur das Band der allgemeinen Menschenliebe; darum sind im zweiten Kreis die Heuchler, Schmeichler und wer andere verhext. Hier werden Fälschung, Raub und Simonie bestraft; hier stecken Kuppler, Betrüger und ähnliche Dreckskerle. Die zweite Art von Betrug verletzt nicht nur die Liebe, die unsere allgemeine Menschennatur fordert, sondern zudem die, die aus besonderem Vertrauen entsteht. Daher wird jeder, der Verrat übt, im kleinsten Kreis auf ewig gequält, dort unten im Universum, wo der Satan steckt.«
67 Darauf ich: »Meister, deine Erklärung geht sehr klar vor und gliedert gut diesen Abgrund und das Volk, das er einschließt. Aber sag mir: Die oberhalb von hier leiden, die in dem zähen Sumpf und die, die der Sturm jagt und die, die der Regen peitscht und die, die sich so hart mit Worten streiten – warum werden die, wenn Gott sie doch haßt, nicht in der rotglühenden Stadt gestraft?«[83] Und er zu mir: »Warum irrt dein Geist hier gegen deine Gewohnheit so weit ab? Oder worauf willst du hinaus? Erinnerst du dich nicht der Worte, mit denen deine Ethik die drei Haltungen behandelt, die Gott nicht will: Unbeherrschtheit, Bosheit und tierisch-stumpfe Gewalt? Und daß Unbeherrschtheit Gott weniger beleidigt und geringeren Tadel verdient? Wenn du diese Lehre durchdenkst und dir ins Gedächtnis rufst, wer die sind, die weiter oben außerhalb der Satansstadt ihre Buße leiden, dann verstehst du gut, warum sie von den Übeltätern hier getrennt sind und warum die göttliche Vergeltung sie mit geringerem Zorn schlägt.«
91 »O Sonne, du heilst jeden unklaren Blick und erfreust mich so mit deinen Lösungen, daß mir Zweifeln genau so lieb wird wie Wissen. Aber jetzt komme ich noch einmal darauf zurück«, sagte ich, »dass du gesagt hast, Wucher beleidige die Güte Gottes: Löse den Knoten.«[84] »Philosophie« antwortete er, »lehrt den, der sie versteht, in vielen Zusammenhängen, daß die Natur dem göttlichen Intellekt und seiner Kunst entspringt. Und wenn du deine Physik genau liest, findest du nach wenigen Seiten, daß eure Kunst, soweit sie das kann, jene andere nachahmt wie ein Schüler den Lehrer. Daher ist eure Kunst wie die Enkelin Gottes.[85] Aus diesen beiden, wenn du dir den Anfang der Schöpfungsgeschichte in Erinnerung rufst, sollen die Menschen ihr Leben bestreiten und vorankommen. Und weil der Wucherer einen anderen Weg einschlägt, mißachtet er die Natur und ihre Nachahmerin; er setzt seine Hoffnung auf anderes.
112 Doch komm jetzt, ich will gehen. Denn die Fische eilen schon über den Horizont, der Wagen steht ganz im Nordwesten, und weit drüben erst steigt man den Abhang hinunter.«