Canto 19
Dante zweifelt: Kommen Ungetaufte in den Himmel? Die menschliche Vernunft begreift nicht die göttliche Gnadenwahl. – Die Belehrung endet mit einer Strafrede gegen die Könige der Gegenwart.
1 Vor mir zeigte sich mit gebreiteten Flügeln das schöne Adlerbild, zu dem die Seelen sich in süßem Genuß heiter ordneten. Jede war wie ein leuchtender Rubin; der Strahl der Sonne glühte darin so intensiv, als spiegle sich die Sonne selbst in meinen Augen. Und was ich jetzt zu erzählen habe, hat noch nie eine Stimme erzählt, hat keine Tinte je geschrieben und keine Phantasie je vorgestellt. Denn ich sah und hörte den Schnabel sprechen, und seine Stimme klang wie ›ich‹ und ›mein‹, doch der Sinn war ›wir‹ und ›unser‹.[673] Und er begann: »Weil ich gerecht und fromm war, bin ich hier erhöht zu dieser Herrlichkeit, die niemand durch bloßes Wünschen erreicht. Und auf der Erde ließ ich eine solche Erinnerung zurück, daß die bösen Menschen dort sie loben, ohne dem Beispiel nachzuleben.« Wie aus vielen glühenden Kohlen nur eine einzige Hitze strömt, so kam aus dem Adlerbild nur eine einzige Stimme. Darauf ich: »O ihr immerwährenden Blüten der ewigen Freude, ihr vereinigt für mich den Wohlgeruch von euch allen zu einem einzigen: Behebt doch durch euren Hauch den Mangel, der mich seit langem Hunger leiden läßt, ohne daß ich auf der Erde irgendeine Speise fand.[674] Zwar weiß ich, daß die göttliche Gerechtigkeit ein höheres Reich im Himmel zu ihrem Spiegel macht,[675] aber ihr erfaßt sie unverhüllt. Ihr wißt, wie sehr ich bereit bin, euch aufmerksam zuzuhören; ihr kennt den Zweifel, der mich schon seit langem darben läßt.« Wie ein Falke, den man von seiner Haube befreit, den Kopf reckt und mit den Flügeln schlägt, wie er sich schön macht und Lust zum Losfliegen zeigt, so sah ich das Adlerzeichen sich verhalten, das aus Lobgesängen auf die göttliche Gnade gewoben war; es begann mit Gesängen, die nur der kennt, der sich dort oben ihrer erfreut.
40 Dann begann der Adler: »Er, der mit dem Zirkel die Grenze der Welt bestimmte und innerhalb ihrer unsichtbare und sichtbare Wesen unterschied, konnte seine Macht dem ganzen Weltall nicht so mitteilen, daß sein Wort nicht unendlich darüber hinausragte. Der Beweis dafür: Das erste stolze Wesen, der Gipfel aller Geschöpfe, wollte das Licht nicht erwarten und fiel, unvollendet. Daraus ergibt sich, daß jede geringere Natur nur ein kleines Gefäß ist, jenes Gut aufzunehmen, das keine Grenze hat und dessen Maß allein es selbst ist. Euer Sehen ist ein Strahl aus dem Geist, der alle Dinge erfüllt, aber es kann seiner Natur nach nicht so stark sein, seinen Grund weit über das hinaus zu erfassen, was zutage liegt.[676] Deshalb dringt die Erkenntnis, die eurer Welt gegeben ist, in die göttliche Gerechtigkeit ein wie euer Blick ins Meer: Am Ufer seht ihr noch den Grund, auf dem weiten Meer aber nicht. Und doch ist er da, nur verbirgt ihn seine Tiefe. Es gibt kein Licht, das nicht aus der Klarheit kommt, die sich nie trübt. Sonst ist nur Finsternis oder Schatten des Fleisches oder dessen Gift. Aber für dich ist das Versteck jetzt aufgedeckt, in dem die lebendige Gerechtigkeit sich verbarg, nach der du so oft gefragt hast.
70 Denn du hast gesagt: ›Ein Mann wird geboren am Ufer des Indus, und dort ist niemand, der von Christus spricht, von ihm liest oder schreibt. Und all sein Wollen und alle seine Taten sind, soweit Menschenvernunft sieht, ohne Sünde im Leben wie im Reden. Er stirbt ungetauft und ohne den Glauben: Wo ist die Gerechtigkeit, die ihn verdammen könnte?‹ Aber wer bist denn du, daß du zu Gericht sitzen könntest über etwas, das tausend Meilen weit entfernt ist mit der kurzen Sicht von einer Elle? Leitete euch nicht von oben die Heilige Schrift, dann hätte jemand, der sich mit mir da hineingrübelt, tatsächlich viel zu zweifeln. Oh, ihr erdhaften Wesen! Ihr groben Geister! Der erste Wille ist von sich aus gut und hat sich niemals von sich, dem höchsten Gut, entfernt. Gerecht ist, was mit ihm übereinstimmt; kein geschaffenes Gut zieht ihn zu sich herab, sondern er begründet es durch sein Ausstrahlen.«
91 Wie der Storch, nachdem er die Jungen gefüttert hat, über dem Nest kreist, und wie die gefütterten Jungen zu ihm aufblicken, so verhielt sich das heilige Bild, und so erhob ich die Augen, während es die Flügel bewegte, von der Zustimmung so vieler Wesen getragen. Kreisend sang es: »Wie für dich mein Gesang ist, den du nicht verstehst, so ist das ewige Urteil für euch Sterbliche.«[677] Dann kamen die Lichter, brennend vom Feuer des Heiligen Geistes, zur Ruhe, immer noch in dem Zeichen, das die Römer ehrwürdig machte für die Welt. Und es begann: »In dieses Reich stieg niemand auf, der nicht an Christus glaubte, weder bevor noch nachdem er ans Kreuz genagelt wurde. Aber schau: Viele rufen ›Christus, Christus‹, aber beim Gericht werden sie ihm ferner sein als einer, der von Christus nichts weiß. Der Äthiopier wird solche Christen verdammen, wenn die beiden Gruppen auseinandertreten, die eine auf immer reich, die andere arm. Was werden die Perser über eure Könige sagen, wenn sie das Buch aufgeschlagen sehen, in dem all eure Staatsverbrechen stehen?
115 Dort liest man unter den Taten Albrechts die eine, die bald die Feder in Bewegung setzen wird: Er wird das Königreich von Prag zerstören.[678]
118 Dort sieht man das Leid, das ein Mann durch Münzfälschung an der Seine schafft, der durch Zusammenstoß mit einem Schwein zu Tode kommen wird.[679]
121 Dort sieht man den ewig gierigen Hochmut, der Schotten und Engländer verrückt macht, so daß es keiner in seinen Grenzen aushält.[680]
124 Dort sieht man die Ausschweifung und Verweichlichung des Königs von Spanien und des von Böhmen, der Rechtschaffenheit weder kannte noch wollte.
127 Man sieht, wie beim Namen des Ciotto von Jerusalem für seine guten Taten ein I eingetragen ist, für das Gegenteil ein M.[681]
130 Man sieht die Habgier und Feigheit des Mannes, der die Feuerinsel verwaltet, wo Anchises sein langes Leben beschloß.[682] Und damit man sieht, wie wenig er wert ist, verwendet man bei ihm abgekürzte Schriftzeichen, die auf wenig Raum viel aufzuzeichnen gestatten.
136 Offensichtlich für alle werden die wüsten Taten seines Onkels und seines Bruders: Die beiden haben ein hervorragendes Geschlecht und zwei Kronen ruiniert.[683]
139 Dann erkennt man den König von Portugal und den von Norwegen, auch den von der Rasca, der zum Unglück Bekanntschaft gemacht hat mit der Münze von Venedig.[684]
142 O glückseliges Ungarn, wenn es sich nicht mehr schlecht regieren läßt!
Und seliges Navarra, wenn es die Berge, die es umgeben, zur Verteidigung nutzt![685]
145 Und jeder soll glauben, daß als Handgeld fürs Kommende Nikosia und Famagusta schon jetzt Ach und Weh schreien wegen der Bestie, die den übrigen Königen in nichts nachsteht.[686]