Canto 2
Dante zögert. Er zweifelt, ob er für die Jenseitswanderung geeignet ist. Vergil erklärt ihm Grund und Zweck der Reise. Drei heilige Frauen haben ihn gebeten, Dante zu führen. Dante faßt Mut.
1 Der Tag ging dahin, und die dunkle Nacht nahm alles, was auf Erden lebt, aus seinen Mühen. Nur ich, ich ganz allein, rüstete mich zu dem Kampf mit dem Weg und der Angst,[11] den meine Erinnerung nun treu darstellt.
7 O ihr Musen, o hoher Geist, jetzt helft mir![12] O Erinnerung, die aufschrieb, was ich sah, hier zeigt sich dein vornehmes Wesen!
10 Ich begann: »Dichter, du führst mich, doch prüfe meine Kraft, ob sie stark genug ist, eh du mir den schweren Weg zutraust. Du erzählst, daß der Vater des Silvius, noch im vergänglichen Leib, die unsterbliche Welt betrat und sich dort leibhaftig aufhielt. Der Feind alles Schlechten war ihm gnädig und dachte an die hohe Wirkung, die von ihm ausgehen sollte und um wen und was es ging. Das war angemessen und leuchtet jedem einsichtigen Menschen ein, schließlich war er im höchsten Himmel ausersehen zum Vater der heiligen Roma und ihres Reichs. Die Wahrheit zu sagen – seine Bestimmung war das römische Reich, dieser heilige Ort, an dem der Nachfolger des großen Petrus seinen Sitz hat.[13] Bei diesem Gang, für den du ihn rühmst, hörte er Dinge, die der Grund wurden für seinen Sieg und den Kaisermantel des Papstes.[14]
28 Später ging dorthin auch das Gefäß der Erwählung, um den Glauben zu stärken, mit dem der Weg der Erlösung beginnt. Aber ich, was soll ich dort? Oh, wer hat es erlaubt? Ich bin nicht Aeneas, ich bin nicht Paulus. Weder ich noch sonst jemand glaubt, ich sei dessen würdig. Ließe ich mich auf diesen Gang ein, wäre es eine verrückt-gewagte Fahrt. Du bist weise, du verstehst es besser, als ich es sage.« Und wie einer, der verzichtet auf das, was er wollte, und der aus neuen Gründen seinen Plan ändert und damit gar nicht erst anfängt, so tat ich an diesem nächtigen Abhang: Ich wurde nachdenklich und gab das ganze Unternehmen auf, zu dem ich anfangs schnell bereit war.
43 »Wenn ich dein Wort recht verstanden habe«, antwortete der Schatten des großgesinnten Mannes, »so hat Kleinmut dein Herz befallen. Oft versperrt er dem Menschen den Weg und bringt ihn ab von einem ehrenvollen Vorsatz. So scheut ein Tier, wenn ein Schatten es täuscht. Damit du diese Angst abstreifst, will ich dir sagen, warum ich gekommen bin und was ich erfuhr im ersten Augenblick, als du mir leid tatst. Ich gehöre zu denen, die im Zwischenzustand sind, dort sprach mich eine Frau an, so selig und schön, daß ich sie bat, mir zu befehlen. Ihre Augen leuchteten mehr als ein Stern, und sie sagte mir mit Engelsstimme süß und klar in ihrer Sprache:[15] ›O liebenswürdige mantuanische Seele, deren Ruhm in der Welt anhält und so lange bestehen wird wie die Welt – ein Mann, der mein Freund, aber kein Freund der Fortuna ist,[16] wird am einsamen Hang auf seinem Weg so sehr bedrängt, daß er aus Furcht umgekehrt ist. Nach dem, was ich im Himmel über ihn gehört habe, hat er sich schon so verirrt, daß ich fürchte, ich habe mich zu spät zu seiner Hilfe erhoben. Jetzt geh und hilf ihm mit deiner schönen Sprache und mit allem, was er zum Weiterkommen braucht, so daß ich darüber beruhigt sein kann. Ich bin Beatrice, die dich bittet zu gehen. Ich komme von dort, wohin ich zurückkehren will. Liebe ist es, die mich bewegt hat und mich reden macht.[17] Wenn ich wieder vor meinem Herrn sein werde, will ich dich gern und oft vor ihm loben.‹[18]
75 Dann schwieg sie, und ich begann: ›O Frau, du hast all die Tugend, durch die allein das Menschengeschlecht alles überragt, was unter dem kleinsten Himmelskreis vorkommt, mir ist dein Wunsch so willkommen, daß es mir zu langsam ginge, selbst wenn ich schon dabei wäre, ihn zu erfüllen. Mehr zu sagen ist nicht nötig. Aber sag mir den Grund, warum du nicht davor zurückscheust, in diese Enge herabzukommen aus dem weiten Raum, in den zurückzugehen du brennst?‹ ›Da du es so genau wissen willst‹, antwortete sie mir, ›will ich dir kurz sagen, warum ich keine Angst habe, hier hereinzukommen. Fürchten muß man nur, was mächtig genug ist, einem zu schaden. Alles andere nicht, weil es keine Angst einjagen kann. Gott – ihm sei Dank – hat mich in einen Zustand gesetzt, in dem euer Elend mich nicht angreift; die Flamme dieses Brands springt mich nicht an. Aber im Himmel ist eine edle Frau, ihr mißfällt die Verhinderung, zu der ich dich schicke, so sehr, daß sie das harte Himmelsurteil darüber bricht.[19] Diese Frau bat Lucia zu sich und sagte: ›Jetzt hat dein Verehrer dich nötig, ich empfehle ihn in deine Hände.‹ Lucia, allem Schrecklichen feind, brach auf zu dem Ort, wo ich neben der alttestamentlichen Rachel saß. Sie sagte: ›Beatrice, du wahrer Lobpreis Gottes, warum eilst du nicht dem Mann zu Hilfe, der dich so liebte, daß er durch dich über das gewöhnliche Volk hinauswuchs? Hörst du denn nicht sein verängstigtes Weinen, siehst du nicht, wie der Tod ihn angreift an dem Fluß, dessen kein Meer Herr wird?‹[20]
109 Niemand in der Welt hat je so schnell einen Vorteil wahrgenommen oder Schaden abgewendet, wie ich hier herunter kam von meinem seligen Sitz. Ich kam, kaum hatte ich diese Worte gehört, im Vertrauen auf dein würdiges Reden, das dich selbst ehrt und die, die es hörten.‹ Nachdem sie mir das gesagt hatte, wandte sie ihre strahlenden Augen weinend ab. Das bewegte mich, noch schneller zu kommen. Und ich kam zu dir, wie sie es wollte; ich befreite dich von dem Untier, das dir den kurzen Weg zum schönen Berg versperrte. Also: Was ist nun? Warum, warum nur stehst du still? Warum behältst du so viel Feigheit im Herzen? Warum fehlt dir Wagemut und Freiheit, wenn drei so gesegnete Frauen sich am himmlischen Hof um dich kümmern und meine Rede dir ein so hohes Gut verspricht?«
127 Wie kleine Blumen, die der Nachtfrost beugt und verschließt, sich alle sogleich geöffnet aufrichten auf ihrem Stengel, wenn die Sonne sie anstrahlt, so geschah mir mit meiner matten Kraft, so viel guter Mut strömte mir ins Herz, daß ich wie ein freier Mensch anfing: »Oh, wie voller Mitleid ist die Frau, die mir zu Hilfe kam! Und wie edel bist du, daß du so schnell den wahren Worten gehorcht hast, die sie dir bot! Mit deinen Worten hast du so sehr mein Herz mit dem Willen zum Aufbruch erfüllt, daß ich zurückkomme auf meinen ersten Entschluß. Geh nun los, jetzt ist ein einziger Wille in uns beiden: Du kennst den Weg, du bist der Herr, und du der Meister.« So sagte ich ihm; er brach auf, und ich betrat den steilen, wilden Weg.