Vier:
Rückblick
I.
Dante-Bilder
1.
Dante verändert sich
Goethe ging respektvoll auf Abstand zu Dante. Was ihm einfiel zur Commedia, waren: Großheit und Maßlosigkeit. Goethes Urteil erinnert an den geschichtlich-wechselhaften Charakter unserer Dante-Bilder. Kulturelle Bedingungen der Leser gehen ein in das Bild, das sie sich von einem Buch und seinem Autor machen. Deswegen werfe ich einen Blick auf den Wandel der Dante-Auffassungen. Sie sind nicht so stabil und nicht so gesichert, wie der glaubt, der sie jeweils vertritt. Die letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts der Dante-Deutung in Italien boten ein belehrendes Schauspiel: 1968 und davor herrschte in Italien großes Interesse an den politischen Fragen Dantes, also an seiner Prophetie der Rettung Italiens, am Elend Italiens durch die politische Macht der Kirche und an der Entstehung einer neuen Gesellschaft, dreißig Jahre später drängten sich theologische Deutungen vor. Im Kommentar von Anna Maria Chiavacci Leonardi wimmelt es seit 1991 von Bibelzitaten, Liturgietexten und Thomas von Aquino. Es herrscht der Ton frommer Ergriffenheit und devoter Preisung. Wer historisch ein wenig zurückblickt, erkennt kulturelle Voraussetzungen der Dante-Bilder von früher und heute; der Dante-Leser bekommt Gelegenheit zu sehen, wo er steht.
Einen anderen Zweck hat der im Folgenden versuchte Einblick in die Rezeptionsgeschichte nicht. Er will nicht vollständig sein; selbst Autoren, über die ich mich schon im vorliegenden Text und sonstwo geäußert habe – wie Erich Auerbach –, kommen hier nicht vor.[927] Ich will nur anzeigen, wie generelle Prämissen in die Dante-Lektüre eingehen. Auch in meine eigene. Es dürfte klar geworden sein: Sowohl gegen die primär politische wie gegen die primär theologische Dante-Auslegung lese ich die Commedia als philosophierende Poesie mit politischer Absicht. Die philosophische Position Dantes sehe ich weniger durch Thomas von Aquino bestimmt als durch Aristoteles–Averroes–Albert. Dante verband ihre Philosophie, die immer auch in verschiedenen Graden Platonisches enthielt, mit franziskanisch-spiritualistischen Ideen.
2.
Von Petrarca zu Vico (1725)
Dante hat Petrarca und Boccaccio ermöglicht. Von Dantes Tod bis ins hohe 16. Jahrhundert gab es kundige Verehrung für die Commedia; viele Abschriften und zahlreiche Kommentare zeugen davon. Und doch bewegte sich die kulturelle Entwicklung von ihm weg, auch durch Petrarca und selbst beim Dante-Verehrer Boccaccio. Die politische Hoffnung für Italien war erloschen; die christlich-pauperistischen Ideen schienen unanwendbar; die Latinität drängte sich wieder vor, denn der Abstand der Gebildeten zum ›Volk‹ wuchs; Dichter hielten Distanz zu den zerstrittenen Theologien, erst recht nach deren posttridentischen dogmatischen Verhärtung. Eine philologisch-historisierende Zuwendung zu den Literaturen in den Volkssprachen gab es noch nicht. Schlechte Zeiten für die Commedia vom endenden 16. bis ins hohe 18. Jahrhundert; sie erschien mittelalterlich, roh und phantastisch. Dantes Monarchia hatte hingegen Konjunktur, nachdem sie 1559 im protestantischen Basel gedruckt war.[928]
Einen originellen Neuanfang bedeuteten die Überlegungen des neapolitanischen Geschichtsdenkers und Philologen Giambattista Vico. Er hat viel nachgedacht über Homer und das Wesen der Poesie. Er spricht davon in den beiden Auflagen der Scienza Nova von 1725 und von 1744. Er wendet seine Einsichten auf Dante an, vor allem im Brief vom 26. Dezember 1725 an den jungen Dichter Gherardo degli Angioli, der sich für Dante begeisterte – im Gegensatz zu den meisten jungen Leuten, denen Dante zu rauh, zu gewaltsam sei und die eher etwas Glattes und Angenehmes suchten.[929] Vico erklärt die Vorliebe des Gherardo zunächst mit dem melancholischen Temperament des jungen Freundes, dann aber damit, daß er sich der Verführung durch die neueste Philosophie entziehe. Diese nämlich gehe darauf aus, alle seelischen Fähigkeiten abzutöten, die aus der Verbindung der Seele mit dem Leib entstehen, vor allem die Imagination, die man als Mutter aller Irrtümer verdamme (S. 315). Dabei seien doch Gedächtnis und Phantasie die Quellen aller Erfindungen. Deswegen seien die wichtigsten Erfindungen in den barbarischen Zeiten gemacht worden: Der Kompaß, der Blutkreislauf, das Schießpulver, der Buchdruck und das Fernrohr. Gerade diese Erfindungen hätten unser Bild von der Erde, vom Menschen und vom Sternenhimmel am meisten verändert. Es sei der poetische Sinn Gherardos, der ihn Dante habe schätzen lernen, ohne fremde Hilfe und gegen den Geschmack der meisten Jungen, die heute Dante ungebildet und roh finden (S. 316). Gherardo, ein melancholisches Talent, lasse sich seine Einfälle nicht durch ein Übermaß an Reflexion verderben, er schreibe Poesien in einem Wurf. Und er müsse wissen, warum Dante so roh erscheint: Er lebte inmitten wilder Barbarei; Florenz sei durch seine inneren Konflikte zwischen Bianchi und Neri für 200 Jahre verroht. Die Kämpfe seien so hart gewesen, daß die Menschen in den Wäldern oder in den Städten wie in Wäldern lebten (S. 317).
Dantes Lage als Dichter sei vergleichbar mit der Homers: Wie Homer habe auch Dante seine Sprache aus den verschiedenen Dialekten zusammenbauen müssen, und wie Homer, der in der barbarischen Zeit Griechenlands lebte, habe er ausgesuchte Martern geschildert. Die Gesellschaft sei so zerrissen gewesen, daß sprachliche Verständigung kaum möglich war; Gebärdensprache und Schreie, la lingua muta statt der lingua articolata, hätten geherrscht. Nur der Klerus sei eine einheitliche Gruppe gewesen und habe seine eigene Sprache, das Lateinische, gesprochen. Vico sagt es nicht so direkt, aber er deutet an: Dantes Höllenphantasien haben etwas Urtümliches, Phantastisches, Unreguliertes: sie klingen wie die Schreie bei Gestikulationen von Wilden, aber gerade dieses Ungeglättete und Ungeschönte sei die Wurzel der Poesie und habe zu der rohen Zeit gepaßt. Dante als poetisches Urgestein komme uns ungehobelt vor, das aber habe seinen Grund in der Unterdrückung der Phantasie und ihres Erfindungsreichtums durch die Reflexion der neueren Philosophie. Zuhörer zur Zeit Dantes hätten ihre Freude an elementaren Ausbrüchen gehabt, wie ja heute noch die weniger zivilisierten Engländer in ihren Tragödien Grausamkeiten zu schätzen wüßten. Später seien sie ihnen unerträglich erschienen. Eine Humanisierung trete schon in der Odyssee im Vergleich zur Ilias hervor. Dante ändere im Purgatorio die Tonart: Wie die Odyssee die Geduld des Odysseus feiere, so ertrügen im Purgatorio die Seelen ihre Strafen in gleichbleibender Geduld und erfreuten sich im Paradiso ewigen Friedens und Glücks (S. 319). Im Inferno lasse er seiner Phantasie freien Lauf.
Im Jahr 1764 erschien Voltaires Dictionnaire philosophique. Es enthält einen Artikel über Dante. Dieser erzählt den Inhalt des Inferno und stellt dann fest, diese Commedia sei weder komisch noch heroisch, sondern bizarr. Voltaire spottet über die Dante-Erklärer, die sich bemühen festzustellen, wer die Personen seien, die Dante in die Hölle steckt; es wäre gar zu schlimm, wenn wir uns in einer so wichtigen Sache im Irrtum befänden. Voltaire behandelte Dante selbst mit mehr Respekt. Er habe einige Verse geschrieben, die so glücklich und so naiv seien, daß sie seit vierhundert Jahren nicht veralten konnten. Sie werden niemals veralten, ils ne vielleront jamais. Und schließlich errege eine Dichtung, die mehrere Päpste in die Hölle versetzt, ein gewisses Interesse. Voltaires Artikel endet mit einem hübsch gereimten ironischen Gedicht, das die Geschichte Guidos von Montefeltro, Inferno canto 27 (Voltaire schreibt fälschlich: 23), erzählt und sich mit Dante lustig macht über Bonifaz VIII., der im Voraus Absolution verspricht für künftige Kriegsverbrechen, die Guido in seinem Namen begehen wird. Beim Tod Guidos will der Teufel ihn holen; Guido widerstrebt dem, er sei heilig durch das Gewand des heiligen Franz und er habe bereits die Absolution des Papstes. Aber der Teufel hat in Italien genug Theologie gelernt, um zu wissen, daß eine Lossprechung nur Wert hat, wenn dieselbe Sünde nicht noch einmal begangen wird. Das sieht auch Guido ein, und er ergibt sich dem Teufel. Der erteilt ihm zwanzig Peitschenhiebe. Guido betet zu Gott, daß er diese Hiebe weitergebe an Bonifaz VIII.[930]
Voltaire macht aus Dantes Commedia ein komisches Stück. Dessen Spitze richtet sich nicht gegen Dante, sondern gegen die Korruption, um derentwillen Dante sowohl Guido wie Bonifaz in die Hölle steckte.
3.
Deutsche Philosophen: Schelling 1803
Einen markanten Schritt im öffentlichen Nachdenken über die Commedia bildet die kleine Abhandlung von Schelling: Dante in philosophischer Beziehung, die 1803 erschienen ist. Er leitet sie mit der Bemerkung ein: Die Gegenwart ist unerfreulich, schauen wir lieber in die Vergangenheit, aber die Pointe dieses Aufsatzes besteht darin, daß die Betrachtung der Commedia wieder in die Gegenwart zurückführt. Denn die Commedia erklärt uns die Aufgabe der Kunst in der Moderne. Nicht als sei die Betrachtung der Commedia ein Teil der allgemeinen Kunsttheorie: Dantes Werk sei so einzigartig, daß es mit nichts anderem verglichen werden könne; es sei eine eigene Welt und fordere eine eigene Theorie: »ein absolutes Individuum, nichts anderem und nur sich selbst vergleichbar«.[931] Gattungstheoretische Betrachtungen reichen nicht an sie heran; sie ist eine Gattung für sich. Man könnte zwar sagen: Das Inferno ist dramatisch, das Purgatorio episch, das Paradiso lyrisch, wie man auch sagen kann, die erste cantica sei plastisch, die zweite malerisch, die dritte musikalisch, aber das Werk ist die Gesamtheit dieser drei Teile, und jeder muß vom Ganzen her beurteilt werden.
Poesie erstrebt ihrem Wesen nach Universalität. Sie muß jeden Menschen betreffen können. Die antike Dichtung, argumentiert Schelling, sei von der Allgemeinheit ausgegangen, von den Griechen vor Troja bei Homer, von der Gründung Roms bei Vergil. Aber Dante setze bei sich selbst ein. Er nehme seine Besonderheit zum Ausgang, die zur Allgemeinheit werden soll (S. 17). Das kann nur geschehen durch Einarbeitung der ganzen Geschichte dieses Individuums; diese Dichtung werde also historisch, nicht im Sinn der modernen Geschichtswissenschaft, sondern als Erfahrungsfülle der Vergangenheit. Und da bei Dante das Universum selbst poetisch sei, nehme Dante auch dessen Poesie auf in seinem Streben zum Universalen. Daher gehören Astronomie, Philosophie und Theologie in dieses Gedicht, das deswegen aber nicht zum Lehrgedicht werde. Daher stelle Dante der modernen Dichtung die Aufgabe, vom Individuum zum Allgemeinen zu führen, was ohne Aufnahme der geschichtlichen Welt des Individuums nicht möglich ist. Vom Einzelnen aus geht es in die unendliche Vielfalt des Lebens. Das schlechthin Individuelle soll absolut werden. Das wiederum verlangt die »wechselseitige Verschmelzung« von Philosophie und Poesie, »wozu die ganze neuere Zeit sich neigt« (S. 16).
Das habe Dante vorgeführt und sei damit zum »Schöpfer der modernen Kunst« geworden (S. 18). Er habe gezeigt, was der moderne Dichter zu tun hat: »das Ganze der Geschichte und Bildung seiner Zeit, den einzigen mythologischen Stoff, der ihm vorliegt, in einem poetischen Ganzen niederzulegen« (S. 19). Der Künstler der Moderne gehe von sich aus; seine Wahl sei willkürlich, aber dies sei das Schicksal der modernen Kunst: Sie kann »ohne diese willkürliche Nothwendigkeit und nothwendige Willkür nicht gedacht werden« (S. 18). Seine Welt ist einzig, ist eine Welt für sich, »ganz der Person angehörig« (S. 19). Und sie ist als solche zugleich historisch und philosophisch. So nur vereint sie die »absoluteste Individualität« mit Allgemeingültigkeit (S. 21). Es wäre von untergeordnetem Interesse, die Naturauffassung, die Philosophie oder Theologie Dantes aus dieser Einheit von Poesie, Historie und Philosophie wieder herauszulösen, da deren Verschmelzung das Charakteristische der Commedia ist. Klar jedenfalls sei die bestimmende Rolle des Aristoteles, den Dante aber immer in Verbindung mit platonischen Konzepten verstanden habe (S. 20).
Schelling sah die »Kraft und Gediegenheit einzelner Stellen«, die »Einfachheiten und unendliche Naivetät einzelner Bilder« (S. 20), aber damit hielt er sich nicht lange auf. Ihm ging es darum zu zeigen: Die Dreiteilung nach Hölle, Fegefeuer und Paradies sei »unabhängig von der besonderen Bedeutung dieser Begriffe im Christenthum« (S. 21). Die drei großen Gegenstände des Wissens und der Erfahrung: Natur als Grundlage, Geschichte als Erfahrung und Läuterung sowie Kunst als Gestaltung dieser Bereiche kommen nur in der Kunst als gegenwärtig, als »absoluter Zustand« heraus. Nur hier sind sie gegenwärtig, weil die Kunst »die Ewigkeit anticipiert, das Paradies des Lebens ist« (S. 21). Die einzelnen theologischen Vorstellungen nehme Dante auf, weil nur sie seinem unbegrenzten Stoff Form und Begrenzung gaben.
Zur Charakteristik der einzelnen cantiche trägt Schelling über das bereits Gesagte hinaus nach: Das Inferno ist das stärkste im Ausdruck. Schelling erklärt sich und uns den Abscheu der vorausgehenden Jahrhunderte: »Dantes Geist entsetzt sich nicht vor dem Schrecklichen, ja er geht bis an die äußerste Grenze desselben« (S. 23). Aber: »Zwischen den Verbrechen und den Qualen ist nie ein anderer als poetischer Zusammenhang« (S. 23). »Auf einem Theil des Purgatorium ruht eine tiefe Stille, da die Wehklagen der untern Welt verstummen, auf den Anhöhen desselben, den Vorhöfen des Himmels, wird alles Farbe; das Paradies ist eine wahre Musik der Sphären« (S. 23).
4.
Das Individuum wird bleibende Figur: Hegel um 1820
Hegel hat in seinen Vorlesungen über die Aesthetik kurz und nachdrücklich über die Commedia gesprochen. Er geht einen Schritt hinter Schelling zurück, und zwar in zweifacher Hinsicht: Er studiert die Commedia unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der epischen Poesie, also einer einzelnen Gattung, und findet, im gewöhnlichen Sinne sei sie kein Epos, denn es »fehle eine auf der breiten Basis des Ganzen sich fortbewegende, individuell abgeschlossene Handlung« (S. 409).[932] Dennoch zeichne dieses »Epos« sich aus durch »festeste Gliederung und Rundung«. Die Darstellung könne daher nur die Form einer Wanderung durch fertige, unveränderliche Gebiete annehmen. Zweitens rückt Hegel die Commedia ins Mittelalter zurück; von einer wegeleitenden Rolle für die Poesie der Moderne ist bei ihm nicht die Rede. Dante gehört ins katholische Mittelalter. Zwar spiele die Antike herein als »Leitstern und Gefährte menschlicher Weisheit und Bildung«, aber »wo es auf Lehre und Dogma ankommt, führt nur die Scholastik christlicher Theologie und Liebe das Wort« (S. 410). Hegel rückt Dante zunächst weit ab vom Dante-Leser, weiter jedenfalls als Schelling, aber dann holt er zu einer Beschreibung aus, deren Ertrag aus der Dante-Deutung nicht mehr verschwinden konnte, zumal Erich Auerbach sie wiederbelebt hat:
Gegenstand der Commedia sei nicht eine besondere Begebenheit, sondern »das göttliche Handeln, der absolute Endzweck, die göttliche Liebe in ihrem unvergänglichen Geschehen«. Das klingt nun wieder nach Mittelalter und Theologie, aber Hegel fährt fort: Dante »senkt nun die lebendige Welt menschlichen Handelns und Leidens, näher die individuellen Thaten und Schicksale in dies wechsellose Daseyn hinein«. Das sieht zunächst so aus, als sähe Hegel die Individuen im ewigen Licht verschwinden, aber er fährt fort, zugleich stehe »das sonst Vergänglichste und Flüchtigste der lebendigen Welt, objektiv in seinem Innersten ergründet, in seinem Werth und Unwerth durch den höchsten Begriff, durch Gott gerichtet, vollständig episch da. Denn wie die Individuen in ihrem Treiben und Leiden, ihren Absichten und ihrem Vollbringen waren, so sind sie hier, für immer, als eherne Bilder versteinert hingestellt. In dieser Weise umfaßt das Gedicht die Totalität des objektivsten Lebens: den ewigen Zustand der Hölle, der Läuterung, des Paradieses, und auf diesen unzerstörbaren Grundlagen bewegen sich die Figuren der wirklichen Welt nach ihrem besonderen Charakter, oder vielmehr, sie haben sich bewegt und sind nun mit ihrem Handeln und Seyn in der ewigen Gerechtigkeit erstarrt und selber ewig. Wie die homerischen Helden für unsere Erinnerungen durch die Muse dauernd sind, so haben diese Charaktere ihren Zustand für sich, für ihre Individualität hervorgebracht, und sind nicht in unserer Vorstellung, sondern an sich selber ewig« (S. 409). Eine zusammenfassende Formel für das Dante-Bild Hegels könnte lauten: Figuren der wirklichen Welt mit ihrem besonderen Charakter bewegen sich hinein in ihre unzerstörbare, ewige Form. Aber Hegel bewertet dieses Aufbewahrtwerden der Individuen zugleich als Verschwinden oder Versteinerung. Überdies klingt seine Beschreibung, als habe er nur ans Inferno gedacht. Bei ihm ist außerdem Dante, der Wanderer, nur mit dem Besichtigen fertiger Verhältnisse beschäftigt. Daß es um ihn geht, daß er mit leidet, mit geläutert und mit beseligt wird, fällt aus Hegels Betrachtung heraus. Daß die Individualität Dantes der Ausgangspunkt ist und daß er zu seiner Entwicklung den Gang durch die drei Welten braucht, also ein historisches Universum aufarbeitet – diese Einsicht Schellings geht verloren. Hegel stellt klar, daß Dante nicht aus zeitlosem Himmel kam; er spreche die Sprache der antiken Dichtung und der christlichen Theologie. Seine Dichtung hat nichts Vorzeitlich-Urtümliches an sich; sie gehört zur geschichtlichen Welt um 1300. Hegel verengt sie gattungstheoretisch und konfessionell, wenn er die Commedia »das eigentliche Kunstepos des christlichen katholischen Mittelalters« (S. 408) nennt. Schelling sah in den christlichen Inhalten mehr das Allgemein-Menschliche und Mythologische und beschrieb, welchen Nutzen es für die Dichtung brachte: Es gab ihr Form und Begrenzung.
5.
Dante als Ideal des ernsthaften Italien: De Sanctis 1870
Das Dante-Bild Schellings und Hegels zeichnete ein theoretisches Konzept; es hatte keinen Bezug auf die Kämpfe der Dante-Zeit. Die deutschen Denker suchten die Metaphysik Dantes. Das ethisch-politische Programm Dantes fehlte völlig. Von gesellschaftlichen Umbrüchen war nicht die Rede. Das Mittelalter, von dem Hegel redete, bestand nur aus Katholizismus und Theologie und christlicher Liebe; es war eine spiritualistische Entität, nicht der Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Welt. Von der Rolle der Kommunen, von Tuchhandel und Geldwirtschaft war nicht die Rede. Dies änderte sich in der Storia della letteratura italiana des Francesco de Sanctis, deren erster Band 1870 erschienen ist.[933] De Sanctis (1817–1883) war aus dem Königreich Neapel in die Schweiz geflohen; er war von 1855 bis 1859 Professor in Zürich; er eilte, als die italienische Einheit sich abzeichnete, 1860 nach Italien, übernahm hohe politische Ämter, war mehrfach Unterrichtsminister und arbeitete mit Cavour zusammen. Er war ein Mann des Risorgimento. Sein Dante-Bild nahm Bezug auf den gesellschaftlichen Wandel der Zeit um 1300. Diese Entwicklung scharf herausarbeitend, bestand er auf dem Gegensatz von Dante und Boccaccio. An deren Kontrast beschrieb er die gesellschaftliche Entwicklung; bei Schelling und Hegel war von ihr und war von Boccaccio nicht die Rede.
Mit Dante sei das Mittelalter gegangen; auf die religiöse und kavalereske Welt sei die neue Generation der Bürgerlichen gefolgt, die beanspruchen, durch Tüchtigkeit an die Stelle des Adels zu treten. Dante war Laie, aber er übernahm die Funktion des Priesters und Reformers. Er stellte sich selbständig seiner Gesellschaft gegenüber und beurteilte sie nach strengen Regeln. Boccaccio mit seinem Decameron verlasse diese Welt und ihren großen Dichter; er gebe das alles auf: die Kultur der Ritter, die Mythologie und die Allegorie, alle dantesken Reminiszenzen (S. 302). Er teile die Interessen seiner Gesellschaft. Die neue Generation war De Sanctis zufolge schlapp und müde, fiacca e stanca, aber kultiviert und vergnügungssüchtig. Boccaccio passe sich dieser Welt an, die profan und frivol war. Er spiegelt sie, er tritt ihr nicht wie Dante gegenüber. Im Unterschied zu Dante überläßt er sich den wechselnden Eindrücken des Lebens; er sammelt sich nicht wie Dante in sich selbst. Dante und Petrarca waren im Unterschied zu Boccaccio Geister, in sich gesammelt und ekstatisch, spiriti raccolti ed estatici (S. 304). Boccaccio wirft sich auf die Außenwelt; nie kommt er auf sich selbst zurück, nie neigt er ein nachdenkliches Haupt. De Sanctis wußte es noch genauer: Gedankenfalten haben diese Stirn nie berührt. Le rughe del pensiero non hanno mai traversata questa fronte (S. 304). Mit dem Decameron verschwinde alles das, was Dante auszeichnete: die Intimität, die Sammlung, die Ekstase, die unruhige Tiefe des Gedankens, das Leben des Geistes in sich selbst, das sich nährt von Phantasmen und Mysterien. Nach Dante stieg das Leben an die Oberfläche, glättete sich und machte sich schön. Es verzierte sich mit Erzählungen. »Die Welt des Geistes geht, es kommt die Welt der Natur« (S. 304). Es herrscht der Instinkt; die Literatur veranstaltet ihren Karneval der Imagination. De Sanctis spielt an auf die Hundertzahl der Novellen und stellt fest: Der Geist der Commedia ist verschwunden, was zurückblieb, ist nur ihr Knochengerüst. Die Welt draußen ist reicher und vielfältiger geworden. Es ist zum ersten Mal, daß das Fleisch in die Geschichte (der Literatur?) eintritt (S. 320). Aber innen ist diese Bürgerwelt leer; sie ist ohne Mythologie, ohne Glauben und ohne Ekstase; sie ist indifferent in religiöser, politischer und moralischer Hinsicht (S. 305). Dante urteilte nach den Gesetzen einer höheren Gerechtigkeit, Boccaccio überläßt die Welt blinden Naturkräften. Wenn es bei ihm überhaupt Tragik gibt, dann aus dem Zusammenstoß instinktiver Liebe mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Ehre. Eine solche Tragödie bleibe äußerlich und oberflächlich. Dante kannte den Schmerz bis zur Zerfleischung, strazio, Boccaccio würzt damit seine Novellen, die er zum genüßlichen Zeitvertreib der bürgerlichen Gesellschaft erzählt. Bei Boccaccio trete der Zufall an die Stelle Gottes, dessen Name nur rein konventionell weitergebraucht wird. In Boccaccios Welt herrsche der Zufall als Gott: Un mondo, cui dio è il caso (S. 309).
Der Boccaccio des De Sanctis ist der reine Anti-Dante. Ernst ist in ihm nur die Apotheose des Einfallsreichtums, l’apoteosi dell’ingegno, und der Anspruch der Bourgeoisie auf Gleichberechtigung. Diese Bourgeoisie ist gebildet und selbstbewußt; was sie komisch findet, ist die Unbeholfenheit und der Aberglauben der unteren Schichten. Verständlich werde das Decameron nur als Reaktion auf Asketismus und fromme Legenden; es ist die Revolte des Fleisches gegen den Geist; es verdreht alles; es gibt heiligen Wendungen obszönen Sinn. Hier werden die Unschuldigsten am meisten verspottet und gequält, die Ehemänner (S. 311). Offenbar kannte der italienische Minister des Unterrichts andere Ehemänner als ich – und Boccaccio.
Das Decameron ist die Anti-Commedia; es steht als Commedia humana gegen die Commedia divina. Es ist deren Parodie (S. 311). Dante wollte Reform, Boccaccio betreibe Revolution. Er bringe das ganze moralisch-politisch-religiöse Gebäude zum Einsturz. Bei ihm verschwinden: »das Gefühl für die Familie und für das Vaterland, der Glaube an eine höhere Welt, die Sammlung, die Ekstase und die Innerlichkeit, die keuschen Freuden der Freundschaft und der Liebe« (S. 312). Mir kommt es so vor, als hätte ich diese Parolen sonstwo gehört: Der oberflächliche Boccaccio verwüste die hohen Werte: Familie, Vaterland, Glaube, keusche Freuden der Freundschaft und der Liebe.
De Sanctis kritisiert die italienische Entwicklung seit Dantes Zeit. Andere Völker wie das »gläubige Deutschland« oder das fromme Frankreich von Bossuet und Pascal hätten den mittelalterlichen Asketismus auf anständigere Weise überwunden als Boccaccio. De Sanctis nennt Luther als Beispiel und redet von Völkern, deren »inneres Leben stark und gesund war« (S. 313). In Italien traten die gebildeten Klassen in Gegensatz zum einfachen Volk, das moralisch und fromm geblieben sei; die Gebildeten seien zynisch und genußsüchtig geworden, leer an moralischem und religiösem Sinn; ihnen sei eine mißtrauisch und defensiv gewordene Papstkirche entgegengetreten. De Sanctis wollte diese Spaltung beseitigen; er wollte mit Dante eine Reform, nicht mit Boccaccio eine Revolution des Immoralismus. Die nachdanteske Welt habe die Commedia aufgegeben. Sie gehöre nicht mehr zu den Büchern, die lebendig sind. Sie werde interpretiert wie ein klassischer Text, aber wenig gelesen, wenig begriffen; immer bewundert und am wenigsten »geschmeckt« (S. 312). Die korrupte bürgerliche Welt schätze die neuen gefälligen Erzählungen Boccaccios; sie erkenne sich darin wieder. Sie finde sich darin liebenswert. Die Indignation Dantes ist verschwunden. Die Komik dient nicht mehr der Korrektur von Vorurteilen, der Bekämpfung der Ignoranz; sie wolle nicht moralisieren und reformieren, moralizzare, riformare, wie die viel höher stehende Komik des Rabelais (S. 315).
6.
Poesie und Stoff: Benedetto Croce 1921
6.1 Benedetto Croces Buch La Poesia di Dante (Bari 31922) erschien zum Jubiläumsjahr 1921. Es war aber keine Festschrift, sondern eine Polemik gegen die Jubiläumsrhetorik und vor allem gegen das Übermaß positivistischer Gelehrsamkeit, die sich an Dante zu schaffen mache, aber dessen Poesie vergesse. Croce gab dem Abscheu Stimme, der sich gegen die richtete, die alles mögliche Fremde zu Dante herbeischleppten, die ihn einer Stadt oder einer philosophischen Strömung, möglichst dem Thomismus, zuordnen wollten. Croce stellt sich gegen all diese Allegoriker, Historisten, Anekdotenerzähler und Vermuter, allegoristi, storicisti, aneddotisti und congetturisti (S. 26). Er empfahl, sich zunächst einmal auf sich selbst zu beziehen und als einzelner sich dem Dichter Dante und seiner Kunst zuzuwenden: ritrovarsi con Dante da solo a solo (S. 26). Er wischte vieles weg, was seit De Sanctis die Dantisten beschäftigt hatte, vor allem alles Biographisieren und Allegorisieren: Wo Poesie ist, hat Allegorie keinen Platz (S. 20).
6.2 Es ging Croce um ein verbessertes Methodenbewußtsein der Dante-Deutung. Wer die Geschichte der Politik oder der Philosophie der Dante-Zeit erforscht, wer die Dichtung Dantes zurückversetzt in den Kontext ihrer Zeit, tut etwas Nützliches, aber nur dann, wenn er es in die ästhetische Lektüre integriert. Geschieht dies nicht, dann verhindert das Vielerlei von Informationen das Aufnehmen der Poesie (S. 16–17). Wer also die Philosophie Dantes erforscht, wird ihre Quellen und Nachwirkungen untersuchen; er wird ihren Wahrheitsgehalt diskutieren, aber wenn er nicht zeigt, wie Dante diese Theoreme in Vorstellungsbilder verwandelt, führt er von der Dichtung Dantes weg. Diese Theoreme würden dann nur als gedachte Inhalte, nicht als poetisch gestaltete wahrgenommen, nur als ausgedacht, nicht als Vorstellungsbild, pensate, nicht als immaginate (S. 17).
6.3 Wann sind Inhalte poetisch? Croce antwortet: Nur wenn sie Bilder oder Metaphern des andersgearteten Fühlens des Dichters sind, immagini o metafore del vario sentire del poeta (S. 18). Nehmen wir als Beispiel Cato. Man kann viel über ihn ermitteln, aber zur Dichtung Dantes trägt nur bei, wer den Gebrauch studiert, den Dante von diesem geschichtlichen Inhalt macht. Er muß zeigen, wie eine geschichtliche Figur die Bewunderung und die Liebe Dantes zu ihm oder sein Erschrecken über ihn ausdrückt. Croce spricht diese Voraussetzung seiner Erlebnis- oder Gefühlsästhetik entschieden aus: Alles andere habe mit der Poesie Dantes nichts zu tun. Stoffliche Informationen, gerade auch solche der Ausdeutung von Allegorien, erreichten nicht das poetische Bild. Informationen dieser Art seien immer stoffartig und begrenzt, das poetische Bild habe immer unendlichen und spirituellen, geistigen Charakter (S. 21).
Eine philosophische Dichotomie dieser Art liegt dem Poesie-Begriff Croces zugrunde. Hier wären theoretische Diskussionen am Platz, zu denen ich nur so viel sage: Dantes Dichtung ist Gesang. Dante verstand sie als inspiriert von den Musen. Wer singt, läßt den Tatsachengehalt des Sagens zurücktreten, macht ihn aber nicht verschwinden. So nimmt der Dichter aus der Tatsachenwelt in sein Konzept nur auf, was zu ihm paßt. Zu diesem Konzept kann gehören, auch das Nichtpassende, das Niezuverdauende aufzunehmen, aber Auswahl und Präsentation leiten sein Konzept. Croce drückt das neoidealistisch aus: Aller Geschichtsstoff wird in der poetischen Einverwandlung geistig und unendlich, spirituale e infinito (S. 21).
Dante-Gelehrsamkeit, die den Stoff historisch-methodisch präpariert, kann an Dantes Dichtung vorbeigehen. Croces Intervention war der Zuruf: Sucht zuerst das Himmelreich der Poesie, alles Übrige wird euch dazugegeben! Croce erklärt sein Konzept von ›Lyrik‹ oder ›lyrischer Intuition‹: Damit bezeichne er nicht nur eine literarische Gattung neben Epos und Drama, sondern allgemein die Kunst, die sich als Kunst, nicht als bloße Wiedergabe von Außenwelt verstehe (S. 31–32). Auch nicht als direkten Ausdruck von Gefühl, sondern ebenso als verwandeltes Gefühl wie als verwandelte Außenwelt. Croce wollte klassizistische und romantische Kunsttheorien vermeiden. Das poetische Bilden dürfe nicht verwechselt werden mit dem sinnlichen Umkleiden eines spekulativen Gedankens oder einer politisch-praktischen Zwecksetzung. Croce stellte die Dante-Auslegung in den Zusammenhang der Philosophie der Kunst überhaupt.
Croces Botschaft vom Eigensinn und Mehrwert des Poetischen hat Folgen für die Einzelauslegung. Er macht z.B. darauf aufmerksam, das Poetische sei, daß Dante in den Verdammten nicht nur den Grund der Verdammnis sieht, daß er sich mit deren Verurteiltsein nicht begnügt. Dante wiederhole nicht das Strafurteil, sondern sehe das Menschliche im Verurteilten und das Menschlich-Schwache in den Seligen (S. 55). Er hält sich nicht an das abstrakte, das quasi-juridische System von Lastern und Tugenden. Und generell: Das Jenseits als solches war nicht das dominante poetische Motiv der Commedia (S. 58).
6.4 Das ergibt Croces vieldiskutierte Unterscheidung von Struktur und Poesie. Zunächst ist das Mißverständnis fernzuhalten, Croce habe nicht gesehen, daß sie in der Commedia zusammen vorkommen, und zwar ungetrennt. Croces Frage war: Sind Struktur und Lyrik poetisch verbunden? Er drückt das so aus: Schema und Poesie, theologischer Roman und Lyrik lassen sich nicht trennen. Eines beeinflußt das andere, aber sie bilden eine dialektische Einheit (S. 67). Sie sind als Gegensätze vereint. Der hegelsche Begriff der Dialektik bedeutet: Immanentes Ineinanderübergehen gegensätzlicher Bestimmungen. Das könnte heißen: Die Commedia ist der versifizierte Prozeß der ständigen internen Wechselwirkung der beiden einander unentbehrlichen Elemente oder Kräfte. Croces Kritiker haben den Begriff ›dialektische Einheit‹ wohl nicht immer so genau genommen, vielleicht sogar Croce selbst nicht. Die Poesie durchbricht in der Commedia das Schema. Sie stellt sich vor die Struktur. Mehr noch: Sie macht die Struktur vergessen: Wir hören Francesca und verlieren die Höllenkreisordnung aus dem Sinn. Sie will beten für Dante, weiß aber, daß das nichts nutzt. Dante, statt das Urteil über die Ehebrecherin zu bestätigen, bricht bewußtlos zusammen. Die poetische Kunst der Odysseus-Erzählung, ihr Lyrik-Charakter im definierten weiten Sinn von ›Lyrik‹ läßt den Leser die Gründe seiner Verurteilung vergessen. Die Gestalt, die poetisierte, löst sich poetisch heraus aus dem Rahmen; als poetisches Vorkommnis zieht sich die Person heraus aus dem theologischen Roman, der sich bei Dante zudem kompliziert, weil er sich verwickelt mit einer ethisch-politischen Utopie (S. 60). Die soeben sich isolierende reine Poesie wird dadurch wieder eingefügt in eine Mittel-Zweck-Beziehung und ist deshalb bei Dante nie l’art pour l’art.
Damit erteilt Croce dem Leser die Erlaubnis, sich die lyrischen Passagen abzutrennen, sich an die großen Figuren zu halten, also zu individualisieren, das Inferno zu privilegieren und für sich zu lesen. Daran ist zumindest soviel richtig, daß Odysseus zwar der Kategorie der falschen Ratgeber zugeordnet ist, aber poetisch nicht als solcher vor unseren Augen steht, so wenig wie Farinata als Häretiker und Brunetto Latini als Sodomit. Croce verfeinerte philosophisch die Dualität, die De Sanctis beschrieben hatte als den Unterschied zwischen dem, was Dante wollte und was er realisierte, zwischen Dantes Stoff, der unpoetisch war, und dem, was Dante daraus gemacht habe. Croce sah die Struktur, das theologische Gerüst, nicht als Stoff, nicht als anti-poetisch, er wollte das Gedicht nicht zerschnitten sehen. Ihm zufolge war der theologische Roman im Gedicht das dialektisch Andere der Lyrik (im weiten Wortsinn). Die Gefahr isolierender Lesetechnik konnte er so nicht vermeiden. Intratextuelle Bezüge sowie den Zusammenhang einzelner Figuren mit der geschichtlichen Welt ließ er im Schatten.
Die Dante-Forschung ging nur weiter, indem sie diese Engführung verließ. Aber ich unterscheide zwischen Dante-Forschung und Dante-Lektüre des freien Lesers. Für die ästhetische wie für die pädagogische Seite läßt sich aus Croces Dante-Bild folgern: Der normale Leser soll sich heraussuchen, was ihm etwas sagt, da solo a solo (S. 26). Wer vorhat, über Dante erklärend zu sprechen, muß allerdings einen zweiten Durchgang unternehmen und soviel an Forschungsstoff in sein Dante-Bild integrieren, wie es ihm möglich ist. Wer wenig tut, z.B. nur Croce und Thomas von Aquino liest, aber nicht Aristoteles, Albert, Averroes und den Liber de causis, beansprucht in der Forschung wohl kaum Autorität, jedenfalls nicht mehr seit Bruno Nardi.
Dante fachlich zu erforschen, das ist nicht da solo a solo möglich; Gelehrte müssen soviel an Texten daneben legen wie möglich. Dann bewegen sie sich von Dante weg. Sie realisieren, könnte man mit Croces abgelebter Formel sagen, den dialektischen Charakter der Einheit von Struktur und Poesie. Aber der freie Leser – das ist übrigens der Dante-Forscher selbst auch, und zwar zuerst – darf, ja muß zeitweise den Bildungsstoff wegschieben. Es besteht heute durchaus eine Tendenz, das freie Subjekt der ästhetischen Erfahrung abzuschaffen oder es in Dante-Stoff zu ertränken. Dagegen steht Croce. Er ermutigt, selbständig, ›ungebildet‹, an Dante heranzugehen, vormethodisch wie nach-methodisch. Der freie Leser darf sich nicht durch die großen Dante-Forscher zum kleinen Dante-Forscher entstellen lassen. Er hat das Recht, etwas anderes zu suchen als der Spezialist. Dante-Forscher freilich darf man danach bewerten, a) von wie weit her sie Wissensstoff hergeholt haben, von dem sie nachweisen können, daß er den Dante-Text und unser vorwissenschaftliches Dante-Lesen erhellt, b) ob sie von der einzelnen ›lyrischen‹ Passage aus argumentierend zur Kenntnis der Commedia als eines Organismus führen, und c) in der Dante-Forschung etwas charakteristisch Neues, den Status quo der Deutungen nachweislich Förderliches sagen. Die beiden Wege müssen sorgfältig getrennt nebeneinander erhalten bleiben. Freien Zugang, auch deformierenden, fördert Croces Essay; die Forschung ist nach eigenen, strengen Kriterien zu bewerten. Die didaktische Arbeit mit Dante sollte frei bleiben von stofflichen historischen oder theologischen Beschwerungen. Nur indem sie Freude am Lesen vermittelt, erhält sie Dante lebendig.
7.
Ossip Mandelstam und Jorge Luis Borges über Dante
7.1 Dante: Bildertaumel und Aufklärung
Ossip Mandelstam ist 1891 geboren und 1938 in einem Zwangsarbeitslager bei Wladiwostok gestorben. Sein Essay Gespräch über Dante ist 1933 entstanden, durfte aber erst 1967 posthum gedruckt werden. Seine Dante-Lektüre schlägt in die Landschaft der Dante-Deutung ein wie ein Meteorit. Sie ist bestimmt von den Leiden der stalinistischen Verfolgung und dem Hunger nach Erfahrung. Sie spricht aus der Not und der aufgezwungenen Isolation; kein Dante-Bild ist weiter entfernt von akademischer Routine. Mandelstam war kein beruflicher Dante-Forscher, so wenig wie Jorge Luis Borges (1899–1986), aber das war beider Chance: Sie lasen Dante mit dem Auge des Außenseiters und Liebhabers, mit dem Sinn des Dichters für Poesie. Ich stelle sie hier nur vor, um einige Einsichten hervorzuheben, die den Dante-Leser fördern könnten. Mandelstams Essay ist sprunghaft und zu knapp; er wirft sein Programm zukünftiger Dante-Deutung aphoristisch hin. Es genau zu diskutieren, ist nicht der Zweck der folgenden Seiten. Borges’ neun Versuche waren ohnehin kurze Zeitungsartikel, gescheit formulierte Leseeindrücke, keine ausgebreitete Gelehrsamkeit. Gerade deswegen sind sie für diese Einführung von besonderem Wert.
Während der unendlich belesene Borges es liebte, Dante-Kommentare, auch die ältesten, zu zitieren, stellte Mandelstam sich frontal fast gegen alle bisherigen Dante-Deutungen: Es ist alles neu zu machen. Er forderte »einen echten Anti-Kommentar«.[934] Es sollte ein Kommentar werden, der Dantes Verbindungen zur neueren europäischen Literatur offenlegt.[935] Sei doch »die ganze neuere Poesie« »nur eine Freigelassene Alighieris« (S. 179); er forderte die Arbeit, die Ernst Robert Curtius später durchgeführt hat. Denn Curtius hat an einer Fülle von Beispielen bewiesen, wie viele Motive (Topoi) die Nationalliteraturen Dante und seiner Erneuerung der römischen Dichtung verdanken. Und doch kann man nicht sagen, Curtius habe die Forderung Mandelstams nach einer neuen Dante-Deutung eingelöst. Mandelstam wollte viel mehr als eine hochintelligente Fleißarbeit; er wollte eine Revolution. Er hielt Klassiker für »einen Pulverkeller, der noch nicht explodiert ist« (S. 40). Das war Nietzsche-Rhetorik. Aber ihr lag reale Einsicht zum Grund. Damit kritisierte er zunächst eine Dante-Auslegung, die dessen Commedia als Ausdruck der ›mittelalterlichen Kultur‹ las. Die so reden, glauben zu wissen, was ›die mittelalterliche Kultur‹ gewesen sei, und beugen Dantes Text unter das Joch ihrer historistischen Abstraktion. Sie halten sich an eine verallgemeinernde Vorstellung vom ›Mittelalter‹ – etwa in der Manier Oswald Spenglers – und zeigen dann, wie sie sich Dantes Text aufzwingen läßt. Eine andere Variante, die Mandelstam verwirft, ist die mystische Lesart Dantes. Ausleger, die Dante »nicht gewachsen waren«, hüllten ihn »in ein immer größeres Geheimnis. Der Dichter selber strebte nach klarem und exaktem Wissen. Für seine Zeitgenossen war er schwierig, anstrengend, doch dafür gab er einem als Belohnung Erkenntnis. Dann aber wurde es nur noch schlimmer. Üppig gedieh der einfältige Kult einer Dante-Mystik, dem schon wie dem Begriff der Mystik selbst jeder konkrete Inhalt abging« (S. 133).
Ich kenne die Geschichte der Dante-Auslegung in Rußland nicht und weiß nicht, gegen wen genau sich Mandelstams Ablehnung sowohl der kulturhistorisch-einordnenden wie der mystischen Dante-Erklärer richtet. Aber das ist hier auch nicht mein Thema. Es genügt, von der Dante-Lektüre Mandelstams zu profitieren. Und er will zurück zum Text, zum sinnlich erklingenden und laut gelesenen Wortlaut. Er drängt auf die Eigenart poetischen Sprechens. Seine Ablehnung zu stofflicher oder zu vager Auslegungen ist dazu nur der erste Schritt. Mandelstam ist unwillig. Zornig erklärt er, er breche mit herrschenden Ansichten:
»Vor lauter theologischer Terminologie, Schulgrammatik und allegorischen Einfältigkeiten haben wir die Experimentaltänze der Danteschen ›Komödie‹ übersehen« (S. 150). Das entscheidende Stichwort hier heißt »Experimentaltänze«. Dante ›richtig‹ lesen, das hieße demnach, sich weder von Grammatik noch von Theologiegeschichte noch von allegorischen Deutungen noch von Fragen der Art ›Wer ist der Veltro?‹ davon ablenken lassen, daß die Commedia ein »Experimentaltanz« ist. Nun ist Tanzen etwas anderes als Experimentieren. Das vom Übersetzer originell gewählte zusammengesetzte Substantiv kann wohl bedeuten: Experimentieren in wilder Folge, ohne Unterordnung unter einen vorgegebenen Allgemeinbegriff wie ›mittelalterliche Kultur‹ oder ›Mystik‹. Also: Dante lesen als Sichhineinstürzen in ungeregelte Abfolgen. In Abenteuer des Klangs und des Sinns. Das klingt so ungewöhnlich, daß ich es gleich mit Mandelstams Beispielen erläutern muß. Er regt an, den oft gerühmten kristallinen Aufbau der Commedia als bloße Außenseite zu nehmen und die naive Freude am Einteilen und an Zuordnungsdiskussionen hinter sich zu lassen, warum einzelne Sünder in den hierarchischen Stufen oder Schubladen des Universums vorkommen. Der Leser breche mit der moralistischen oder nur theologiegeschichtlichen Pedanterie, Schuld und Strafe auszutarieren. Er lerne, Dante zu denken als den Meister der »umkehrbaren und fortwährend sich wandelnden poetischen Materie«, als den »chemischen Dirigenten« einer »einzig in Fluten und Wellen, einzig im Aufschwung und im Kreuzen existierenden poetischen Komposition« (S. 154).
Mandelstam in seiner politisch bedrohten Lage konnte gar nicht entgehen, daß die Commedia eine ethisch-politische Intervention ist. Aber er sah ihren Charakter als Kunst verletzt, wenn der Leser sie nicht als flutendes Wasser mit seinem Auf und Ab und als Aufprall sich kreuzender Strömungen sieht. Freunde der Ordnung heben an ihr hervor, sie sei so schön nach Zahl und Maß geordnet, Freunde des Lebens und der poetischen Sprache sehen ihre vielschichtige und vielfarbene Bewegung, also das, was Mandelstam ihren »Tanz« nannte. »Die europäische Literaturkritik«, kritisiert Mandelstam, habe das Fließen Dantes, der von sich gesagt hat, er sei extrem verformbar und nicht starr identisch, festgemacht an ein »paar Kupferstichen von Höllenlandschaften« (S. 143). Aber das Lesen Dantes muß hinauskommen übers Einteilen und Zuteilen nach anschaulichen Stufen. Diese kommen in der Commedia vor und spielen ihre Rolle, aber sie werden überströmt und verwandelt. Der Leser soll an Dantes Sprache herantreten und deren kristalline Natur betrachten, sozusagen mit dem »Geologenhammer«, um ihre Vielfarbigkeit, ihre »Einsprengsel und Trübungen« zu sehen (S. 143). Die Vielschichtigkeit der Sprache Dantes ist seit Pasolini und Contini ein Standardthema der Dante-Erklärer geworden; Mandelstam hat es vorweggenommen. Ordnet das Interesse an der äußeren Architektur sich der material-nahen Sprachbetrachtung unter, dann liegt das ganze Poem wie eine einzige Strophe vor ihr (S. 130). Mandelstams »Experimentaltänze« können beginnen. Es sind Forschungen einer höheren Art von »Kristallographie« (S. 130).
Sie gleichen eher einer Gesteinsuntersuchung in der Art Goethes als einer bei Spengler oder Rudolf Steiner erlernten ›Geisteswissenschaft‹. Sie reißen den Leser heraus aus den Schemata pädagogischer Vereinfachungen, die ihm am Anfang unentbehrlich waren und die Dante selbst mit seinen rigorosen Einteilungen in Jenseitsreiche und Gesänge vorgenommen hat. Auch das aristotelische Tugendsystem, das Dante in Inferno 11 zur Orientierung anbietet, muß er, nachdem er es erlernt hat, wieder vergessen. Zahlen und Figuren kommen dem hilfsbedürftigen Dante-Leser entgegen; er behält lieber die Ordnung im Auge, als sich vom reißenden Strom forttreiben zu lassen. Mandelstam gebraucht aufschreckende Bilder, um dem Ordnungssinn beim Dante-Lesen die Führung zu nehmen:
»Würden die Säle der Eremitage plötzlich verrückt, würden sich die Bilder aller Schulen und Meister von den Nägeln lösen und ineinander übergehen, sich mischen und die Luft der Säle mit futuristischem Gebrüll und tobender Erregung der Farben füllen, bekämen wir etwas, was der Danteschen ›Komödie‹ vergleichbar wäre« (S. 172).
Mandelstam empfiehlt bacchantischen Tanz statt der Gewohnheit des Wiedererkennens und Einordnens, zu dem der Dante-Leser anfangs seine Zuflucht nimmt. Er fühlt sich sicher, wenn er Sünder nach ihrer Verfehlung diagnostiziert und straftheologisch korrekt unterbringt. Dabei hatte schon Schelling davor gewarnt, das Verhältnis von ethisch-politischer Fehlhaltung und Strafe juristisch statt poetisch aufzufassen. Die Lust an banalisierender Zurechtlegung sitzt so tief, daß es schroffer Zurufe bedarf, sich von ihr zu lösen. Ein solcher Zuruf ist der Bildertaumel in der Eremitage mit ihrem futuristischen Gebrüll. Diese »Einladung zweiten Grades, Dante zu lesen«, weiß, daß es Dante immer um Erkenntnis ging. Sie opfert das Wissenwollen nicht wildem, irrationalem Treiben. Sie übt »Experimentaltänze«, und der Zögling darf nicht beim Tanzen vergessen, daß er zum Experimentieren gekommen ist. Mandelstam gibt ihm gar den geschichtsphilosophischen Auftrag:
»Dante der Schulrhetorik zu entreißen, hieße der ganzen europäischen Aufklärung einen wichtigen Dienst erweisen« (S. 172).
7.2 Ins Einzelne gehen
Mandelstams Zurufe würden deklamatorisch und leer bleiben, führten sie nicht zu Einzelheiten in Dantes Dichtung. Er beschreibt die Eigenart des Italienischen. Er charakterisiert die Commedia als ganze und ihre poetische Sprache. Und er bewährt an einzelnen Versen seine Dante-Auffassung. Das sind drei Schritte, mit denen er ins Einzelne geht und denen ich kurz folge.
Das Italienische
Mit Dante, schreibt Mandelstam, betrat das Italienische zum ersten Mal die Weltarena (S. 117). Auch wer die Commedia in Übersetzungen liest, hat es mit der Besonderheit dieser Sprache zu tun. Heute beschreiben Linguisten die Eigenart der italienischen Sprache fachlich präziser, als Mandelstam dies tat. Aber der nicht-spezialistische Dante-Leser gewinnt gerade durch sein ›naives‹ Bild des Italienischen. Er beschreibt es, wie jemand, der es zum ersten Mal hört, und staunt über seinen Klang. Als er es näher kennenlernte, begriff er, daß sich im Italienischen »die Sprecharbeit näher zu den Lippen verlagert, zum äußeren Mund. Plötzlich kam die Zungenspitze zu Ehren. Der Laut stürzte zum Riegel der Zähne« (S. 116). Mandelstam beschreibt die eigentümliche Dynamik des Italienischen, die »Infantilität der italienischen Phonetik«, die in ihrer wunderbaren Kindlichkeit die vollen Vokale ausspielt: »Nähe zum Kleinkinderlallen, ein bestimmter uralter Dadaismus« (S. 116). Es hat die Vokale nicht abgeschliffen wie das Deutsche im Lauf der nachmittelalterlichen Sprachgeschichte. Daher hat es in den Endsilben einen Vokalreichtum, der es de facto ausschließt, die Commedia in gereimter Form ins Deutsche zu übersetzen. Im Italienischen reimt sich sozusagen alles. »Jedes Wort bittet um concordanza.«
Poetische Sprache
Was Mandelstam über das Italienische schreibt, sind mehr Ausrufe des Beglücktseins als eingehende Analysen. Seine Notizen über Dantes poetische Sprache sind ausführlicher und genauer. Sie bilden einen Schwerpunkt seines Essays. Mandelstam setzt sich ab vom sowjetischen Kunstprogramm des ›sozialistischen Realismus‹. Die Sprache, zumal die der Dichtung, ist kein Teil der Natur; sie bildet auch nicht die Natur ab, sondern sie »siedelt sich mit einer überwältigenden Unabhängigkeit in einem neuen, außerräumlichen Aktionsfeld an, wo sie die Natur nicht nacherzählt, sondern spielend inszeniert« (S. 113). Sie ist erfinderisch und unableitbar; sonst könnte Dante nicht einige tausend Verse schreiben über Räume, aus denen noch niemand zurückgekommen ist. Sie ist dem Traum verwandt, nicht dem Protokoll, obwohl sie auch den Kunstgriff der Aufzählung oder auch des Katalogs kennt. Nicht, als sei das poetische Sprechen willkürlich; es hat sein inneres Maß, aber es bestimmt sich selbst das Maß. Mandelstam zeigt am 10. Gesang des Inferno – also an der Unterhaltung mit Farinata und Cavalcante –, wie sie entsteht aus den Zeitformen des Verbs. »Wir hören förmlich, wie die Zeitwörter zeitigen« (S. 121).
Der wichtigste Akzent, den Mandelstam bei der Beschreibung der poetischen Sprache setzt: Er arbeitet »entgegen allem eingebürgerten Denken« ihre ›Roheit‹ heraus. Sie sei »unendlich unbehauener als die sogenannte ›Umgangssprache‹«. Charakteristisch für die poetische Sprache sei ihre »rohstoffartige Eigenständigkeit« (S. 177).
Ich versuche das zu verstehen. In der Alltagssprache nimmt der praktische Bezug die Vieldeutigkeit der Wörter zurück. Wenn ich bei meinem türkischen Metzger ›Lamm‹ sage, ist klar, daß ich Fleisch kaufen will. Wenn ein Schüler im Lateinunterricht des Gymnasiums das Wort ›agnus‹ nicht übersetzen kann und ihm der Nachbar das Wort ›Lamm‹ zuflüstert, ist klar, daß er kein Fleisch will. Wenn in der Kirche vom ›Lamm Gottes‹ die Rede ist, weiß jeder, daß die Sanftmut und Geduld Jesu gemeint sind. Die Fachwissenschaften bauen solche Vieldeutigkeiten ab, indem sie ihre Termini methodisch definieren, und einige dieser Festlegungen dringen in die Alltagssprache bereits geregelt vor, so hat z.B. das Wort ›Lautstärke‹ fast immer seine präzise Bedeutung durch Radio- oder Fernsehapparat bekommen. Der Dichter nimmt solche Operationen nicht vor; er läßt das Wort ›Lamm‹ unbehauen in seinem Assoziationsreichtum stehen; er hebt es durch Umstellen des Satzbaus oder durch Reim in seiner ›rohen‹ Form noch hervor. Er beläßt ihm seine Nicht-Eindeutigkeit, die im Alltag stören könnte und die in den Fachwissenschaften ausgeschafft ist. Daher ist jedes Wort der poetischen Sprache ein »Strahlenbündel«. Der dichterische Satz läuft nicht schnurstracks auf einen eindeutigen Sinn zu. Er lädt ein zu sinnierenden Umwegen. »Wenn wir ›Sonne‹ sagen, machen wir eine gewaltige Reise« (S. 127). Wer im Alltag feststellt, daß sie heute scheint, kürzt diese Reise rasch ab. In Dantes Commedia gebe es aber, so Mandelstam, keinen Moment, der nicht die »rohstoffartige Eigenständigkeit« des poetischen Wortes bestätige (S. 177).
Im Inferno trifft Dante, der Wanderer, untereinander verfeindete Sünder, die in der äußersten Kälte zusammengefroren sind und sich nicht voneinander lösen können (Inf. 32, 46–47). Die äußerste Kälte dort läßt ihre Tränen, die von den Lidern zu den Lippen rinnen, gefrieren. Mandelstam zeigt nun, wie Dante das Wort ›Lider‹ durch Bezug auf ›Lippen‹ herausstellt und die ›Lider‹ als ›Augenlippen‹ auffaßt. Er kreuzt die Vorstellungen der Sinnesorgane des Sehens und des Sprechens, um das Leiden in der tiefsten Hölle zu beschreiben. An ihren Wimpern hängen Eiskristalle und bilden eine Kruste, die sie am Weinen hindert (S. 127–128). Spricht die Fachsprache der Augenärzte von ›Lidern‹, vermindert sie die Assoziationsbreite. Die Alltagssprache eilt fast immer fort zu dem Prädikat ›geöffnet‹ oder ›geschlossen‹; sie verweilt nicht bei dem Wort ›Lider‹. Dante vermehrt den Anspielungsreichtum, indem er durch ›Lippen‹ zu den ›Lidern‹ zurückführt. Die zu Eis gefrornen Tränen verkleben die beiden Männer an den Lippen zu einem monströs-absurden Kuß. Dante sieht Lippen und Lider verbunden und hält das gewohnte Forteilen auf.
Hier ist der Text (Inf. 32, 40–51):
Ich hatte mich ein wenig umgesehen und sah jetzt auf den Boden. Dort lagen zwei Männer so eng zusammen, daß ihre Kopfhaare sich vermischten. »Sagt mir, ihr, die ihr so Brust an Brust preßt«, sagte ich, »wer seid ihr?« Sie drehten ihren Hals; ihren Blick hatten sie nun zu mir nach oben gerichtet, da begannen ihre Augen, zuvor schon innen voll von Tränen, zu den Lippen hin zu weinen, aber die Kälte verwandelte die Tränen zwischen den Wimpern wieder zu Eis und verschloß ihre Augen.
Nie verband eine Eisenklammer Holz mit Holz so fest. Daher stießen sie wie zwei Böcke Stirn gegen Stirn; solche Wut hatte sie übermannt.[936]
Entscheidend ist nun aber: Das nicht-festgelegte Wort der poetischen Sprache gewinnt an sinnlichem Laut, an emotiver Kraft und intellektuellen Anreizen. Es blüht auf, wenn es freigehalten wird von der rationalen Disziplinierung auf Eindeutigkeit hin. Es wird zugleich ›geistiger‹ und ›körperlicher‹: ›geistiger‹, weil es den denkenden Hörer zu Entdeckungen einlädt, die der Praxisbezug der Umgangssprache und die methodische Präparierung der Fachsprache verhindern; ›körperlicher‹, denn der sinnliche Klang, der im Alltag und in der Fachsprache unbeachtet mitläuft, tritt nun als Eigenwert hervor. Das ›roh‹ belassene poetische Wort beschäftigt gleichermaßen intensiver das Ohr und den Intellekt. Es ist wuchtiger; es verweist Alltags- und Fachsprache als abgeleitet in ihre Grenzen. Mandelstam verachtet die ›Kultur‹, aber nur, wenn jemand darunter ein sekundäres System der Glättung versteht, die Summe sprachlicher ›Anstandsregeln‹. Die ›wild‹ belassene poetische Sprache spuckt die Welt des festgelegten Sprechens aus »wie ein Gurgelmittel, mit dem man seine Kehle reinigt« (S. 177).
Er illustriert diese umstürzende Macht der Poesie an Dantes Kritik am Papsttum: Die mächtigen Usurpatoren des päpstlichen Throns konnten es gleichgültig hinnehmen oder völlig ignorieren, daß Dante sie in seine Hölle steckte. Aber die »unendliche Rohnatur der poetischen Klangweise« hat sie »entblößt und aufgedeckt«, hat alle zeremoniöse Anerkennung und alle kirchenrechtliche Verteidigung zersetzt. Sie hat sie bloßgestellt und auf die Dauer um die Anerkennung gebracht.
Metaphern
Dante durchbricht die auf eindeutige Information zielende Konstruktion der Sätze in der Alltags- und Fachsprache durch Vergleiche und Metaphern. Er zieht das Auseinanderliegende zusammen. Dadurch wird das einfache Wort zum Strahlungszentrum. Mandelstam zeigt dies an den Vogelvergleichen von Inferno canto 5, vielleicht besser noch an den Flußvergleichen, zum Beispiel am Arno des canto 14 des Purgatorio: Solche Vergleiche führen den Blick vom Fluß zur Landschaft als Ganzes, zu ihrem politischen und kulturellen Charakter, der »so stark von der Mächtigkeit und vom Verlauf der Flüsse bestimmt ist« (S. 131). Dante fordert vom Arno, daß er der Gerechtigkeit halber Pisa ertränke; er behauptet von ihm, er wende vor Arezzo seine Schnauze ab, weil er die Aretiner verachte.
Die Metapher verbindet Antikes mit Gegenwärtigem und verändert dadurch die Erfahrung von Zeit. »Die von Dante gewählte Methode ist anachronistisch« (S. 171). Sie macht dadurch die gegenwärtige Zeit und ihre Not fühlbar. Die Metapher läßt die Zeit stillstehen und gibt damit der Geschichtszeit Dantes Umriß und bleibenden Halt.
Das Vergleichen war für Dante mehr als ein literarischer Kunstgriff; es ergab sich aus seiner Metaphysik. »Ich vergleiche, also bin ich, hätte Dante sagen können. Er war der Descartes der Metapher.« Alles, was ist, ist auf anderes bezogen. »Das Sein selbst ist Vergleich« (S. 187).
7.3 Sehen lernen mit Mandelstam
Mandelstams grauenvolles politisches Schicksal lehrte ihn, das Werk des Exildichters mit neuen Augen zu sehen. Wenn er in der Erzählung von Ugolino das Wort ›Gefängnis‹ ausspricht, füllt das Wort sich mit neuer Erfahrung. Das Gefährliche und Zerstörerische des Kerkers tritt hervor. Aber Mandelstam deklamiert nicht über seine Unglückserfahrung; er führt zum einzelnen Wort zurück. Er sieht die Kristallbildungen in Dantes Sprache. Er wird aufmerksam auf Farbwirkungen und Lichteffekte in der Commedia. Er würdigt das Material der Sprache und die Metaphern neu. Natürlich sind schon andere Leser auf die Metaphern gestoßen. Aber der Blick Mandelstams fiel auf das Seltene, aufs Unglatte, auf das, was widerstrebende Strömungen durchziehen, auf Gestein mit Ablagerungen verschiedener Zeiten. Er sieht die Farbenpracht in Geryons Haut. Geryon ist der urtümliche Flugdrache, auf dessen Rücken Vergil und sein Zögling in den unzugänglichen achten Kreis der Hölle gelangen. Er ist ein Mischwesen aus Mensch, Löwe und Drache, aber Mandelstam interessiert sich für das Farbenspiel seiner Haut. Ihn zieht die »manufakturale Leuchtkraft dieses Vergleichs« an, diese »Textilhändler-Perpektive«: Weder die türkischen noch die tatarischen Teppichweber haben buntere Muster (Inf. 17, 13–18):
Es hatte zwei Pranken, behaart bis zu den Achseln; Rücken, Brust und beide Flanken waren bemalt mit Knoten und Rädchen. Nie haben Türken oder Tartaren Tuche mit mehr Farben – sei’s als Grund, sei’s als Muster – gewoben; nie ersann Arachne solche Gewebe.
Mandelstam regt in seiner wohlbegründeten Abneigung gegen bevormundete Poesie an, über alle Ideenlehre und alle Ideologie hinaus buchstäblich zu Dantes ›Stoff‹ zu kommen, ohne darüber Dantes Abneigung gegen den Wucher der reichen Tuchhändler zu vergessen. Er hört den sinnlichen Klang der Wörter: »Der 32. Gesang des Inferno erkrankt ganz plötzlich an einem Slawenmischmasch, der für ein italienisches Gehör völlig unerträglich und obszön klingt« (S. 184). Im Inferno 32, 25–30 quakt »eine slawische Ente: Osterlic, Tambernic, cric (das lautmalerische Wörtchen ›krach!‹)« (S. 160). Es ist, als habe Dante »alle Sprachdefekte studiert, den Stotterern gelauscht, den Lisplern, den Näselnden, allen Aussprachefehlern« (S. 159).
Was Dantes Metaphern erreichen, zeigt sich bei seinem Abschied von seinem bewunderten Lehrer Brunetto Latini am Ende des 15. Gesangs: Dante hat ihn unter den bestraften Homosexuellen getroffen. Das hat seine Zuneigung und Hochachtung nicht gemindert, und als Brunetto von ihm wegging, da wandte er sich um und lief weg – er sah aus wie einer, der in Verona ums grüne Tuch über das Feld rennt, wie einer von ihnen, der siegt, nicht wie einer, der verliert.
Die Metapher kehrt die Verurteilung des Homosexuellen um: Brunetto ging wie einer, der siegt (S. 119).
Ein äußerstes Beispiel, wie die Metapher Fernliegendes vereint, wie also in ihr gegenläufige Vorstellungsströme zusammenfließen, findet sich in Paradiso 27, 10–15: Dante, berauscht von der Schönheit des richtigen Lebens, vom Lächeln des Universums, sieht die vier ›Fackeln‹ des Paradises, nämlich die Apostel Petrus, Jakobus und Johannes. Bei ihnen steht Stammvater Adam. Da fängt Petrus an, von der jetzigen Kirche zu sprechen; sein amtierender Nachfolger hat aus ihr eine Kloake gemacht. Er wird rot vor Zorn. Dante beschreibt seinen Farbwechsel so:
Die vier Fackeln standen vor meinen Augen in Flammen, und die zuerst gekommen war, begann lebhafter zu werden. Das sah aus, als würde sie zu Jupiter und als wären Jupiter und Mars Vögel, die ihr Gefieder tauschten.
Der Gedanke durchkreuzt sich. Er geht von den vier Personen zu den Sternen, von diesen zu den Vögeln und kehrt zurück: Die vier heiligen Personen sind Fackeln, die in Flammen stehen. Eine von ihnen, Petrus, flammt auf und wird feuerrot vor Zorn; seine Nachfolger haben seine Kirche zerstört. Zuvor stand er in der herrscherlichen Farbe Silber. Aber jetzt ist es, als seien der weiße Jupiter und der rotglühende Mars Vögel und hätten die Federn getauscht. Dante schiebt also mehrere Metaphern ineinander und dynamisiert den Vorgang; durch die Assoziation mit den mächtigen Planeten, die er als Vögel vorstellt, gibt er dem Vorgang mythische Größe. Das ist der Dante, wie ihn Mandelstam sehen lehrt (S. 164). Ich möchte noch einen letzten, einen einfacheren Vergleich nennen, auf den Mandelstam hinweist. Er steht in Inferno 32, 4 und besteht nicht einmal aus einem ganzen Satz. Dante nähert sich dem tiefsten Höllenloch. Er wird unsicher, ob er es beschreiben kann, und sagt:
Hätte ich die rauhen und schrillen Reime, die zu diesem Elendsloch passen, auf dem alle anderen Felsmassen lasten, dann würde ich den Saft meines Konzepts reichlicher auspressen. Aber ich habe sie nicht und fange daher an, mit Furcht und Zittern zu dichten.
Mandelstam bezieht sich auf Dantes Wendung, er würde, hätte er eine rauhere Sprache, aus seinem Konzept weitere Verse herauspressen. Dante sage, die sprachliche Form werde herausgepreßt: Sie ist nicht Hülle, sondern Hervorgepreßtes (S. 128). Die poetische Formbildung geschehe in dem Bewußtsein, Reihen, Perioden oder Zyklen eines Formklanges vorauszusetzen.
An dem knappen Bild, ›sein Konzept auspressen‹ für ›ausführlicher schreiben‹ gefällt Mandelstam die einfache Stofflichkeit, die an eine Zitrone denken läßt. Es mag Leser geben, die es eines philosophischen Kopfes wie Dante unwürdig finden, daß er die Vorstellung nicht ablehnt, man könne einen Begriff ›auspressen‹. Auch manche Dante-Übersetzer ins Deutsche haben mit solchen Grobheiten ihre Mühen. Sie lieben edlere Varianten.
Im Purgatorio tritt eine Frau aus Siena auf, die in die Gegend der Maremmen geheiratet hat und von ihrem Mann umgebracht wurde. Ihr sind nur sieben Zeilen vergönnt (5, 132–136), und sie faßt ihr Leben in dem Satz zusammen (Vers 134):
Siena mi fé, disfecemi Maremma.
Dante setzt ›Machen‹ und ›Kaputtmachen‹ schroff gegeneinander, so daß man übersetzen möchte:
Siena machte mich, die Maremma machte mich kaputt.
Das wäre noch etwas grober als das Bild Dantes vom Auspressen eines Konzepts, das Mandelstam gefiel. Vielleicht könnte er sich mit einer leicht abgeschwächten Wendung zufriedengeben. Etwa dieser:
Siena brachte mich hervor, die Maremma brachte mich um.
Georg Peter Landmann übersetzte es vornehmer, nahm dem Vers aber den sinnlichen Anklang des doppelten Machens und schrieb:
Siena gab mir das Leben, die Maremma nahm’s mir.
Es sind solche Überlegungen, die Mandelstam im Dante-Leser anregt. Er schrieb kein Handbuch. Er bringt, wie Seamus Heaney schrieb, »Dante aus dem Pantheon zurück zum Gaumen«.
7.4 Jorge Luis Borges
Ermunterung, Einwände gegen Dante zu machen
Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899–1986) schrieb seine Neun Essays über Dante zwischen 1950 und 1980. Er war von Beruf Bibliothekar, und seine Lebenszeit wurde nicht vom Staat beschnitten wie die von Ossip Mandelstam; er verfügte über mehr Informationen. Aber seine kurzen Artikel deuten dies nur knapp an; sie bleiben leicht, journalistisch bis literarisch und laden ein zur Lektüre der Commedia. Aber sie tun dies in einem unerbaulichen, ironischen Ton. Daher sind sie dem Dante-Leser von Nutzen. Er kann lernen, Dante zu lieben und zugleich zu kritisieren. Borges langt mit seiner Kritik kräftig zu: Er findet die feierliche Prozession am Ende des Purgatorio von zweifelhafter Schönheit. Das Allegorisieren einzelner Gestalten und Vorgänge, mit dem die Commedia begonnen hat, in den Zwischenteilen zurückgedrängt, beherrscht jetzt wieder das Feld. Geschmacklos sei eine Frau mit drei Augen im Kopf als Tugendfigur.[937]
Borges fand es abstoßend, wie sich die vier Kinder Ugolinos gemeinsam anbieten, er solle von ihrem Fleisch essen; er habe es ihnen gegeben, er könne es sich wieder nehmen (Inf. 33, 61–63). Auch das Bild, das sie gebrauchen – er habe sie mit diesem Fleisch bekleidet, er könne es ihnen wieder ausziehen –, sei mißglückt. Dieses Detail der sonst großartigen Ugolino-Erzählung sei eine der wenigen schwachen Stellen in der Commedia (S. 37). Und doch endet hiermit nicht Borges’ Kritik: Der ganze poetische Aufwand solle, schreibt er, dazu dienen, die früh gestorbene Geliebte wiederzufinden, aber Beatrice bleibe unerreichbar. Zuerst stirbt sie, dann schickt sie Stellvertreter, Vergil und Bernhard, zuletzt zieht sie sich auf ihren Himmelssitz zurück. Dante bleibt allein. Die Commedia ist die Geschichte einer unerfüllten Liebe, eine Traumvision, in der immer etwas dazwischentritt, das ersehnte Glück zu verhindern. Daran ändere auch das Lächeln Beatrices nichts. Dante erträumt sie als zu streng und als unnahbar (S. 94–95).
Borges’ Einwände blenden – obwohl er den 13. Brief für authentisch hält (S. 20 und S. 108) – alles Politische, alles Philosophische und Theologische der Commedia aus; aber ihre Schwäche als Liebesgeschichte hat wohl niemand so frisch und so frech ausgesprochen wie er. Er schafft damit eine Folie, vor der man Dante erneut lesen kann, denn daß die Commedia dies wert ist, daran läßt Borges keinen Zweifel. Im Gegenteil, er erklärt mit Enthusiasmus, niemand habe das Recht, sich der Freude an der Commedia zu berauben (S. 138).
Metaphern
Personen, die bei Dante auftreten, haben oft schon ein Vorwissen von ihrem Gegenüber. Es ist Traumwissen, dessen Entstehen nicht erklärt werden muß, denn wir befinden uns in einer Traumdichtung. Sie haben ein poetisches Wissen, dessen kausalen Werdegang auch den Leser nicht interessiert (S. 27). Nur muß er sich der Vision mit poetischem Glauben öffnen (S. 118). Nicht als sei der Schriftsteller Dante ein Träumer; er ist von raffinierter Intellektualität, und dies zeigt Borges an einigen Metaphern Dantes. Während es Mandelstam darum ging, die Metaphern Dantes als unbehauenes Sprachgestein zu zeigen, wählt Borges andere Metaphern, um ihre intellektuelle Virtuosität als ihre Schönheit herauszuheben.
Im 25. Gesang der Hölle umschlingt eine Schlange einen Menschen. Die Schlange verwandelt sich in einen Menschen und ein Mensch in die Schlange. Dante beschreibt diese Metamorphosen metaphorisch durch den Vergleich mit einem Blatt Papier, das von Feuer zerstört wird, aber eine Weile noch weiße Teile hat: Die braune Farbe steigt aufwärts, noch ist es nicht schwarz, aber das Weiß stirbt (Inf. 25, 62). Borges bewundert die Genauigkeit dieses Vergleichs, der unvergleichlich präziser sei, als wenn es in Liebesgedichten heißt, das Haar der Geliebten sei ›golden‹ (S. 14–15).
In der Dunkelheit des siebten Höllenkreises sind Menschen schwer zu erkennen. Die Verdammten strengen sich an, Dante zu sehen, und kneifen dabei die Augen zu. Dante vergleicht ihren Gesichtsausdruck mit dem von Wanderern, die in der Neumondnacht gefährliche Gestalten wahrnehmen, oder mit dem eines alten Schneiders, der beim Einfädeln die Augen zusammenpreßt. Sie kniffen die Augenbrauen zu uns hin zusammen wie ein alter Schneider vorm Nadelöhr (Inf. 15, 19).
Oder einfacher noch: Dante bezeichnet einen optischen Eindruck mit einem Verb aus dem Bereich des Gehörs. Der Wanderer zieht sich zurück in den Schatten, wo die Sonne schweigt (Inf. 1, 60). Raffinierter ist die Metapher, mit der Dante die Schnelligkeit beschreibt, mit der er in die Mondsphäre aufgenommen worden ist: Und wie ein Pfeil in einem einzigen Augenblick auftrifft, losfliegt und vom Bogen abschwirrt, so sah ich mich dort angekommen, wo Erstaunliches meinen Blick an sich zog (Par. 2, 23–25). Dante dreht die Abfolge des Vorgangs um. Er nennt zuerst das Auftreffen, dann das Losfliegen, zuletzt das Abschwirren, um die Schnelligkeit oder vielmehr Zeitlosigkeit zu verdeutlichen. Die Metapher eint, wie Mandelstam bemerkt, die Zeitmomente, die im irdischen Leben auseinander liegen (S. 115).
Borges liebt solche Einzelheiten. Er nennt einzelne Verse, die ihm nicht aus dem Sinn gehen, wie den am Anfang des Purgatorio, wo er, befreit von Dunkelheit und Gestank der Hölle, die neue Luft sieht (S. 115). Sie war ihm (Purg. 1, 13)
Dolce color d’oriental zaffiro,
Von der süßen Farbe des orientalischen Saphir.
Borges zeigt Einzelheiten; er vermeidet vage Lobreden. Aber er widmet sich auch den großen Gesängen von Ugolino (S. 40) und von Ulisse (S. 132–137). Vor allem die Figur des Odysseus beschäftigt ihn. Dante läßt ihn uns nicht direkt sehen; er hüllt ihn in einen Feuermantel. Darin bleibt er verborgen, weil er seine Kriegslisten in seinem verborgenen Inneren ausgedacht hat. Bei seiner letzten Ausfahrt ging er aus sich heraus, und doch hält Borges es für ›evident‹, daß er ihretwegen in der Hölle steckt. Was ›evident‹ ist, braucht man nicht weiter zu begründen. Offenbar hat nicht nur Dante, wie Borges ihn sieht, schwache Stellen, z.B. im Paradiso (S. 114), sondern auch Borges selbst. Er gewinnt wieder, wenn er die Commedia als ganze charakterisiert und ihre Intensität und zugleich Zartheit bewundert. Seine Neun Essays führen hin zu Dante, haben aber weder die Intensität noch die Zartheit Mandelstams, dem der Gegensatz zur sowjetischen Kulturdiktatur, der er körperlich unterlag, das Äußerste abverlangte. Doch schließe ich dieses Kapitel mit einigen Sätzen des großen argentinischen Autors: »Die Commedia ist ein Buch, das wir alle lesen sollten. Dies nicht zu tun, bedeutet, sich des größten Geschenks zu berauben, das die Literatur uns bieten kann. Es bedeutet, sich zu einer seltsamen Askese zu verurteilen. Warum sollten wir auf die Freude verzichten, die Commedia zu lesen?« (S. 131).
8.
Sprachunterschiede. Pier Paolo Pasolini 1972
Pier Paolo Pasolinis (1922–1975) Interesse an Dante und Boccaccio war von mehreren Seiten her motiviert: Er begann als Dichter im friaulischen Dialekt und durchdachte die Erfahrung des Sprachenpluralismus; Gianfranco Contini hatte ihn als poetische Kraft schon 1942 entdeckt, und Pasolinis Beziehung zu Dante verstärkte das Interesse an der älteren italienischen Literatur.
Pasolinis Programm, von der Tradition antitraditionellen Gebrauch zu machen, war am größten Dichter und seiner Rezeption zu erproben; mit dem Film über das Decameron (1970) gestaltete er sein Konzept von Volksnähe und Sexualität in der vorbürgerlichen Gesellschaft; seine Außenseiterrolle, seine Zuneigung zu christlich-franziskanischen Ideen und zu Häretikern, kurz, die unorthodoxe Aneignung der Orthodoxie gestaltete er in Film (Das Evangelium nach Matthäus) und in der Aufsatzsammlung Empirismo eretico von 1972. Dort findet sich der Essay: In welchem Sinne wollte Dante Dichter sein, La volontà di Dante di essere poeta.
Von Dualität in der Commedia war seit Schelling viel die Rede, bei De Sanctis und bei Croce. Pasolini gab der Betrachtung eine sprachorientierte Wendung und beschrieb die sprachliche Ausweitung, die Dante erreicht habe aufgrund einer Beobachtung der Verschiedenheit der Sprachschichten der Heimatstadt. Er habe den sprachlichen und damit den sozialen Horizont erweitert. Er habe lexikalische und expressive Möglichkeiten vermehrt, habe Unterschichtssprache und Dialekte studiert. Dantes Sprachausweitung erfolge in doppelter Hinsicht: Einmal zum mittelalterlichen theologischen Universalismus und seiner lateinischen Form hin, die er sich aneignet und ins Volgare übersetzt, und dann in der Gegenrichtung auf die verschiedenen Stufen der Volkssprache und ihre gesellschaftlichen Träger. Wenn Dante Personen sprechen lasse, dann sprächen sie nie seine, Dantes Sprache, sondern ihre eigene. Und das sei nicht möglich gewesen ohne psychologische Aufmerksamkeit auf die Personen und auf ihren sozialen Kontext. Kein Mensch kann die Sprache eines anderen wiedergeben oder simulieren, wenn er sich nicht in die psychologische und in die soziale Situation des Redenden versetzt hat. Francesca da Rimini rede in der damals modischen Edelsprache, elegant, aristokratisch in Ausdrücken der Liebesliteratur (S. 1377).[938] Dante habe auf der einen Seite vor dem gewaltigen Block lateinischer Texte gestanden und habe sich aus diesem angeeignet, was er brauchen konnte, aber interessanter sei seine Zuwendung zur Sprachenvielfalt des Volgare. Dante vollzog diese widersprechende Bewegung: nach oben in die universal-klerikale lateinische Kultur, nach unten in die irdische Welt der Volkskulturen mit ihren diversen Sprachschichten ländlicher, handwerklicher, kommunal-politischer und laikal literarischer Herkunft. In diesem Sinn spricht auch Pasolini von der Doppelnatur der einheitlichen Commedia, aber damit meint er die doppelte Sprachaneignung Dantes einmal aus der theologischen Gesamtsicht der Dinge und dann aus der gesellschaftsbeschreibenden Volkssprache. Die Doppelung mache sich auch darin bemerkbar, daß divergierende Zeiterfahrungen ausgesprochen sind, einmal die langsame Regie der Ewigkeitsbetrachtung von oben, sodann die raschen, oft brutal-faktischen Entwicklungen der irdischen Vorgänge. In den Termini von Croce: In der Commedia mischen sich romanzo und poesia, Prosasprache und Poesiesprache. In ›prosaischem Rationalismus‹ ordne Dante die Lyrik der Personen, auch der kleinen Nebenfiguren, an ihrem besonderen Ort ein, um sie dann individuell und schichtenspezifisch reden zu lassen. Dabei öffne sich die Rationalität zum Undefinierbaren, Zweideutigen, Irrationalen (S. 1382). Die doppelte Natur der Commedia, mit der es alle bisherige Dante-Auslegung zu tun gehabt habe, beschreibe er, Pasolini, als zwei verschiedene und entgegengesetzte, aber koordinierte sozio-lexikalische Reihen (S. 1385).
Pasolini analysiert dann knapp und für mich nicht ganz klar folgende Besonderheit der Sprache Dantes: Indem Dante den Blick nach oben nehme und die Sprache des theologisch-lateinischen Universalismus spreche, erweitere er nicht nur den linguistischen Horizont, sondern gebe ihr Ausdrucksstärke und Realismus; er ziehe sie sozusagen in die natürliche, laikale Sprache hinüber. Er drücke die religiöse Geschichtsüberlegenheit aus, indem er sie historisiert, sie also übersetzt in poetische Irrationalität (S. 1387). Er gibt den Engelflügeln Farben, er läßt die Seligen Figuren tanzen und im Zorn aufschreien, dies alles sind Säkularisationen der farblosen und atemporalen Überwelt.
Pasolini weist abschließend auf eine sprachliche Form hin, die Dante gewonnen habe, er nennt sie erlebte Rede, discorso indiretto libero. Das heißt: er läßt jemand reden, ohne zu sagen, wessen Rede es ist, ohne sie, modern gesprochen, in Anführungszeichen zu setzen (S. 1376 und S. 1389). In den Anklagereden gegen Florenz, Pistoia und Pisa rede nicht Dante der Autor, sondern Dante der Wanderer. Seine Rede wird in freier Form indirekt wiedergegeben. Der Autor hält sich zurück, spielt nur als Regisseur mit.