III.
Sprache
1.
Die italienische Verspätung
Die italienische Literatur beginnt im europäischen Rahmen mit auffallender Verspätung. Es gab Dichtung und wissenschaftliche Prosa längst in der deutschen, der englischen und französischen Sprache: Die Anfänge der italienischen Literatur liegen später, im 12. Jahrhundert. Sie gewinnen mit dem Sonnengesang des heiligen Franz und mit dem Novellino eine gewisse Bedeutung, aber damit sind wir schon im 13. Jahrhundert, und erreichen nicht die literarische Höhe von Chrétien de Troyes, Gottfried von Straßburg, des Nibelungenlieds und Wolframs, von den frühen Autoren wie dem englischen König Alfred und dem Mönch Notker von Sankt Gallen zu schweigen.
Die italienische Verspätung in ihrer geschichtlichen Eigenart zu erklären hat Ernst Robert Curtius versucht. Frank-Rutger Hausmann hat das Bild der ältesten italienischen Literatur erweitert, indem er ein Rätsel aus Verona (Indovinello veronese, um 800, der älteste volkssprachliche italienische Text) und eine Inschrift aus San Clemente in Rom (kurz vor 1100) untersuchte. Aber es handelt sich um wenige Zeilen, und der große Zeitabstand zwischen diesen Dokumenten legt nahe, daß die volkssprachliche verschriftlichte Produktion karg war. Die normative, die ›richtige‹ Sprache war das Lateinische; es war die Sprache Roms und die Sprache der Klassiker. Italien zerfiel vor 1200 in kleine politische Einheiten und ökonomische Kleinzonen mit ihren Dialekten; die Zersplitterung war stärker als im Heiligen Römischen Reich, dessen Herrscher früher den Wert volkssprachlicher Heldengedichte und Heiligenlegenden für die Konsolidierung ihrer Macht erfaßten als die im Entstehen begriffenen italienischen Kommunen. In Italien waren es am ehesten Bischöfe und einige mächtige Abteien, die an volkssprachlicher Literatur interessiert waren, zumal seit dem 12. Jahrhundert die Kirche ihre religiöse Erziehung dem wachsenden Laienpublikum zuwenden mußte, wenn sie es nicht an die zahlreicher werdenden häretischen Gruppen verlieren wollte. Sie mußte Beichtformeln in der Muttersprache anbieten. Richter mußten Wendungen für Zeugenbefragungen bereithalten. Die Ablösung feudaler Gewohnheiten durch privatrechtliche Verträge drängte ebenfalls zum Gebrauch des Italienischen. Durch diese Prozesse begann die Volkssprache sich seit dem 10. Jahrhundert in einem langsamen Prozeß zu verschriftlichen. Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts fand die Dichtung der Troubadoure auch in Italien Freunde; die lateinische, die okzitanische (provenzalische) und französische Literatur boten Vorbilder für die ersten italienischen Dichtungen. Die italienische Dichtung begann also nicht, wie man oft noch liest, mit dem Sonnengesang des San Francesco.[859]
Dies sind willkommene Verfeinerungen, aber das Gesamtbild bleibt: Vor 1200 kann sich die italienische Literatur nicht mit den großen Werken der englischen, der französischen und der deutschen Dichtung messen. Dafür suchte Curtius die Gründe:
Am Anfang stand die karolingische Bildungsreform. Sie war keine deutsche Erfindung. Curtius erklärte ihren Erfolg damit, daß der galloromanische Geschmack an künstlicher Rede zusammentraf mit der soliden Disziplin der englischen Schulung (S. 392). Vielleicht war diese Erklärung zu feuilletonistisch und zu sehr noch an der alten Völkerpsychologie orientiert; Tatsache ist, daß Karls und Alkuins Reform auf dem Boden des heutigen Frankreich noch im 9. Jahrhundert so Bedeutendes hervorbrachte wie das denkerische Werk des Johannes Eriugena. Aber länger konnte die Blüte sich nicht halten, so wenig wie der unter den Ottonen erreichte kulturelle Vorsprung nördlich der Alpen. Um so wichtiger wurde der Neuanfang im 12. Jahrhundert. Curtius sah eine Zeitenwende der Dichtungsgeschichte um 1170. Um diese Zeit, zeigte er, erfolge auf dem Boden des heutigen Frankreich ein Rückgriff zunächst auf die lateinische Literatur, auf Vergil und Ovid, aber auch auf die gesamte spätlateinische Kultur zwischen Statius und Boethius. Dies erkläre den epochalen Neubeginn in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts und den Vorsprung, den Frankreich vor Italien und Deutschland jetzt gewann. Eine lateinische Renaissance war die Vorbedingung der nationalen Literaturen. »Das Latein hat dem Französischen die Zunge gelöst.« »Die lateinische Bildung und Dichtung geht voraus, die französische folgt« (S. 387).
Italien hatte vor 1200 eine hohe Jurisprudenz, hatte Medizin und Briefkultur, aber es hatte kein organisiertes Studium der lateinischen Autores. Dieses mußte sich erst vom Westen her auswirken, bevor sich das Volgare als Literatursprache neben dem Lateinischen etablierte. Dann erst konnte Italien in Volgare dichten. Dann aber nahm es mit Dante, Petrarca und Boccaccio die erste Stelle in Europa ein, während in Frankreich im Lauf des 13. Jahrhunderts die aristotelisierende, arabisierende Wissenschaft dominierte und eine Entzweiung bewirkte zwischen ›Grammatik‹ und Wissenschaft, zwischen Poesie und Philosophie.
Um die Bedeutung der lateinischen Texte des Mittelalters für die neuere Dichtung nur an einem einzigen Beispiel zu illustrieren: der Reim ist die große Schöpfung des lateinischen Mittelalters (S. 393). Die Antike kannte ihn nicht. Die nationalen Literaturen entnahmen ihn den lateinischen Mustern.
Curtius hat bei seinen ausgedehnten Lektüren eine grundlegende Entdeckung gemacht: Er fand in der neueren Literatur eine Reihe von Wendungen, Bildern, Motiven – er nannte sie Topoi –, die antiken Ursprungs waren, denen er aber eine lange Vermittlungsreihe nachweisen konnte. Neuere Historiker der Nationalliteraturen hätten diese Schlüsselworte und wiederkehrenden Bilder unbeachtet gelassen oder der Schöpferkraft eines Autors als Original zugeschrieben. Die neueren Literaturwissenschaften – Anglistik, Germanistik, Italianistik, Hispanistik etc. –, fand er, seien Produkte des nationalen Zeitalters; sie versagten bei makrohistorischer Betrachtung. Sie hätten Goethes Konzeption der »Weltliteratur« verlassen. Curtius stellte seinem Werk folgende Sätze Goethes voran:
»Vielleicht überzeugt man sich bald, daß es keine patriotische Kunst und patriotische Wissenschaft gebe. Beide gehören, wie alles Gute, der ganzen Welt an, und können nur durch allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden, in steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist, gefördert werden.«[860]
Diese Sätze Goethes sind 1801 geschrieben, als sich in Deutschland unter der Wucht napoleonischer Übergriffe ein neues Nationalbewußtsein bildete. Es erfaßte bald auch Dichtung und Literaturwissenschaft und bestimmte gegen Ende des Jahrhunderts das Bild der Geschichte fast allein. Goethes Wunsch, das Verlangen nach »patriotischer Wissenschaft« werde bald wieder verschwinden, ging nicht in Erfüllung, sondern Literatur- und Geschichtswissenschaften definierten sich zunehmend national. Ihnen ging es um die Geschichte der Völker und der »Nationalliteraturen«. Goethe hatte die freie Wechselwirkung aller Lebenden und zugleich die stete Aufmerksamkeit auf die Geschichte gewünscht; er hatte angedeutet, daß es zu Traditionsverlusten gekommen war. Einen solchen Traditionsverlust entdeckte Curtius beim Studium der neuen und neuesten Literatur: Die national konzipierte Literaturwissenschaft hatte das lateinische Mittelalter ignoriert oder minimiert. Das Wort ›Mittelalter‹ darf hier nicht täuschen: Es geht um die Bildungswelt von der lateinischen Spätantike bis ins 18. Jahrhundert, von Lukan und Statius bis Diderot und Goethe. Vom Denk- und Bildervorrat dieser langen Zeit haben die neueren Literaturen gezehrt, aber die national verengte Literaturwissenschaft war in aller Regel nicht vorbereitet, dies wahrzunehmen. Diese Blindheit beseitigte Curtius mit einer Fülle von Einzelbelegen. Curtius wollte nicht mutmaßen und nicht interpretieren, sondern belegen. Er bewies mit gesicherten philologischen Fakten. Er wollte zur Evidenz, zur realen Anschauung führen. Sein Buch gab eine »neue Anschauung vom inneren Zusammenhang der europäischen Literatur« (S. 385), und er hob hervor, er verstehe unter »Anschauung« nicht Intuition, nicht Hineinfühlen oder die Assoziationskunst der ›Geisteswissenschaften‹, sondern harte Philologie. Und er sah in Dante die entscheidende Erneuerung des poetischen Reichtums der römischen Antike. Deren Einverwandlung in eine nationale Sprache durch Dante habe die neueren Nationalliteraturen ermöglicht. Er wollte damit auch das Vorurteil bekämpfen, die Deutschen besäßen aufgrund ursprünglicher Verwandtschaft mit den Griechen einen »Sonderweg« in die Antike, an Rom vorbei.
2.
Drei Spracherneuerer um 1300
Im Lauf des 13. Jahrhunderts traten Latein und Volgare in ein neues Verhältnis. Die von Frank-Rutger Hausmann beschriebenen Wandlungen kamen jetzt in Italien zum Durchbruch: Das Anwachsen der Städte, die Diskussionen der kommunalen Politik, das Selbstbewußtsein und die rechtlichen Ansprüche von Kaufleuten, Bankiers und Handwerkern, eine neue Sensibilität für eigene, individuelle Gefühle, vor allem der Liebe drängten zu einer Neubewertung des Volgare. Die von den Dichtern besungenen Geliebten verstanden kein Latein. Wollten Liebeslyriker verstanden werden, mußten sie im italienischen Dialekt schreiben. Die eigene, die ›natürliche‹ Sprache drängte vor in bisher dem Lateinischen zugeeignete Felder: des Gerichtswesens, der Religion, der Theologie, der Philosophie und der Wissenschaften. Dieser Prozeß lief in mehreren Sprachgebieten fast gleichzeitig: Raimundus Lullus († 1316) bewirkte ihn fürs Katalanische wie Meister Eckhart († 1328) fürs Deutsche, Dante († 1321) fürs Italienische. Ihre Voraussetzungen waren verschieden, aber gemeinsam forderten sie: Sie wollten dem Stadtpublikum, das vernünftige Erklärungen verlangte, die Wahrheit des Christentums zeigen. Das Volgare, das sie vorfanden, war nicht dazu ausreichend, aber die es sprachen, drängten, weil sie sich ausdrücken und die Bildungswelt aneignen wollten. So wuchs ihr ausgreifender Impuls. Ein Laienpublikum mit neuen Ansprüchen und aus aufsteigenden sozialen Schichten war entstanden, das kaum Lateinisch sprach. Die genannten Autoren griffen die Volkssprache auf und schufen sie um. Dadurch haben sie eine neue Sprache für große Themen erschlossen.
Das Werk der drei Sprachgenies war 1320 abgeschlossen. Fortan standen Autoren vor der Alternative, ob sie in Lateinisch schrieben oder in Volgare. Für Norditalien und Florenz ist immer auch ans Französische und Okzitanische zu denken: Brunetto Latini schrieb seinen Tresor in Französisch. Französisch galt als geschmeidiger und als passender für die schöne Literatur. Dante schreibt sowohl in Lateinisch wie in Italienisch: Vita nova, Convivio und Commedia in Volgare, De vulgari eloquentia, Monarchia und die späte Quaestio de aqua et terra in Lateinisch. Petrarca war bis zu seiner Rückkehr aus der Provence nach Italien ein lateinischer Autor und hat für die nächsten Jahrhunderte das Volgare zurückgedrängt, in der Prosa großer Themen, nicht im Alltag. Seine Lyrik schrieb er in Volgare; Boccaccio war bis zum Abschluß des Decameron ein italienischer Autor, bewegte sich dann immer mehr in der Richtung Petrarcas, verfaßte aber seine Dante-Erklärung, die Esposizioni sopra la Comedia, in Volgare. Die endgültige Ablösung des Lateinischen für Poesie und Wissenschaft erfolgt erst im 18. Jahrhundert; noch Kant und Hegel schrieben lateinische Bücher.
3.
Nur der Mensch spricht
Die Veränderung des Lesepublikums und das Anwachsen des Volgare in Quantität und Qualität hat Dante gründlicher und ausführlicher als Lull und Eckhart durchdacht; seine Rolle beim Entstehen eines neuen Sprachbewußtseins ist unvergleichlich wichtiger. Niemand hat wie er das Nachdenken über Eigenart und Stellung des Volgare gefördert. Dante kam mehrfach auf das Problem der Sprache zurück, mit zunehmender Anerkennung des Volgare: Zuerst im 1. Buch des Convivio, dann in den Anfangskapiteln von De vulgari eloquentia, zuletzt in Paradiso (26, 124–138).[861]
Was Dante anfaßte, machte er originell. Das unterlief ihm nicht, das wollte er so. Er wischte zunächst die scholastischen Diskussionen über die Sprache der Engel vom Tisch: Die Engel haben keine Sprache, sie brauchen sie nicht; sie sind einander vollkommen durchsichtig. Ob man dann noch lieber ein Engel als ein nie ganz offenliegender Mensch wäre, ist eine andere Frage, jedenfalls faßte Dante die Sprache als spezifisch menschlich: Nur der Mensch spricht. Die Tiere brauchen keine Sprache, in ihnen überwiege die spezifische Natur, also das Arthafte das Individuum so sehr, daß sie über ihre Mitwesen das Wichtigste aus sich selbst erfassen können. Der Mensch ist als Individuum nur in seiner Species vollkommen. Er steigert seine individuelle Form nur, wenn er sich verallgemeinert; er ist wesenhaft sozial; die Sprache realisiert diesen wesenhaften Sozialbezug. Die Vernunft ist das Vermögen des Allgemeinen in einem Einzelnen. Gleichzeitig sind die Individuen auch in ihrer Vernunft untereinander verschieden. Ihre Unterscheidungsgabe ist verschieden stark; sie urteilen verschieden, und jeder zieht jeweils etwas anderes vor. Es ist, als bilde jeder von ihnen eine eigene Art, ut fere quilibet sua propria specie videatur gaudere (De vulgari eloquentia 3, 1–3). Dadurch hat fast jeder jedem etwas zu sagen, worauf der andere allein nicht hat kommen können. Die Sprache realisiert zugleich Individualität und Art; beide sind Kommunikation. Daher ist Sprache ein hoher Wert. Sie ist die wesentliche Auszeichnung des Menschen. Gott selbst hat dem Menschen die Sprache gegeben, doch durch den Hochmut der Erbauer des Turms von Babel ist die Einheit der Sprachen zersplittert.
Bewahrt das Hebräische die ursprüngliche Sprache Adams? In De vulgari eloquentia bejahte Dante diese Frage, in Paradiso 26, 114–138 verneint er sie. Die Sprache beruht auf Verabredung, die menschliche Vernunft ist wandelbar. Dantes Bewußtsein von der Wandelbarkeit aller menschlichen Dinge hat zugenommen; er korrigiert sich selbst und legt diese Selbstkritik Adam in den Mund, den er im Paradies trifft. Adam sagt:
Die Sprache, die ich benutzte, war schon ganz erloschen, bevor Nimrods Leute das Werk begannen, das sie nicht vollenden konnten. Nichts, was Vernunft je hervorbrachte, hat für immer gedauert, denn das Verlangen der Menschen ändert sich mit dem Lauf der Sterne. Es gehört zur Natur, daß der Mensch spricht, aber ob so oder so, das überläßt die Natur euch, wie es euch gefällt … Dieser Wandel mußte sein, denn die Gewohnheiten der Sterblichen sind wie Laub am Zweig, das kommt und geht.
Fortuna regiert die Geschichte, sie gibt einmal diesem, dann jenem Volk die Vorherrschaft, Macht und Reichtum. Keine Sprache bleibt identisch: Kämen heute die Bewohner der alten Stadt Pavia zurück, sie würden glauben, ein fremdes Volk halte ihre Stadt besetzt, so wenig würden sie ihre damalige Sprache wiedererkennen.
4.
Lateinisch oder italienisch
Hat Latein oder Volgare den Vorrang? In dieser Frage gibt es bei Dante eine Entwicklung von Convivio Buch 1 zu den Anfangskapiteln von De vulgari eloquentia: Auch das Lateinische ist von Menschen geschaffen und insofern wandelbar. Aber Menschen haben ihm früh ein Regelsystem gegeben; es ist grammatica und hat den Vorzug der Stabilität und der verbindlichen Allgemeinheit vor dem Volgare. Es hat den größeren, subtileren Wortschatz; es unterscheidet genauer und dient insofern mehr der Mitteilung von Wissen.[862] Es beruht auf einer Wissenschaft, ars, die eingeführt wurde, um den Wandel einzugrenzen, während das Volgare im Gebrauch besteht und sich mit ihm verändert. Das war Dantes Position in Convivio Buch 1. Dann, in De vulgari eloquentia, heißt es vom Volgare, es folge der Natur, nicht nur der Gewohnheit. Jeder versteht sein Volgare, jeder gebraucht es, alle können es. Jetzt überwiegt in Dantes Sprachbetrachtung das Bewußtsein, die Muttersprache sei das Ursprünglichere. Das Volgare werde ständig im Alltag gebraucht, besonders in der Stadt, vor allem in der kommunalen Politik. Es drückt spontan Gefühle aus, die Liebeslyrik lebt von ihm; die Frömmigkeit des Einzelnen spricht sich in ihm aus. Es steht immer am Anfang: Das Lateinische erlernen wir nur in der Muttersprache.
Der Vorzug des Lateinischen besteht fort. Die Frage des Vorrangs entscheidet sich verschieden je nach dem gewählten Gesichtspunkt. Ich möchte das Ausmaß der Lehrentwicklung in Dantes Sprachansicht nicht übertreiben. Seine beiden Traktate, beide unvollendet, liegen nur ein, zwei Jahre auseinander, beide entstanden wohl zwischen 1303 und 1305/1306.
Dantes Interesse war, das Volgare aus der Zone des Verächtlichen zu reißen. Es ist spontaner, direkter und unentbehrlich für alle. Schon im Convivio steht das Lob des Volgare. Dante sagt von ihm: Ohne es wäre ich weder entstanden, denn es hat meine Eltern miteinander verbunden, noch hätte ich mich ohne es bilden können. Es hat mir den Zugang zum Wissen ermöglicht, es war mein größter Wohltäter (grandissimo benefattore, Conv. 1, 13, 2–5). Die Instabilität der Volkssprache läßt sich vermindern, indem man sie einbindet in Zahlverhältnisse, also in Rhythmen und Reime. Die Volkssprache ist enger mit mir verbunden als das erlernte Latein. Womit ich am meisten verbunden bin, dessen engster Freund bin ich. Die Volkssprache braucht, wer Wissen ins Volk bringen will. Das Lateinische ist eine Sonne, die nur wenigen leuchtet, das Volgare bringt allen Licht. Dante beendet das erste Buch mit folgender feierlicher Erklärung über die Volkssprache (Conv. 1, 13, 12):
Questo sarà luce nova, sole nuovo, lo quale surgerà là dove l’usato tramonterà, e darà luce a coloro che sono in tenebre e in oscuritade per lo usato sole che a loro non luce.
Diese wird das neue Licht sein, die neue Sonne. Sie wird dort aufgehen, wo das bisher Gewohnte untergehen wird. Es wird denen Licht geben, die in Finsternis und Dunkelheit sitzen wegen der bisherigen Sonne, die ihnen nicht leuchtet.
In De vulgari eloquentia untersucht Dante die Volkssprache genauer. Er beschreibt ihre Vielfalt und sieht die Notwendigkeit, sie zu vereinheitlichen über die vielen Dialekte hinaus. Er faßt die Idee einer gehobenen, gereinigten Volkssprache, eines volgare illustre. Alle italienischen Dialekte haben etwas von ihm, mit keinem ist es identisch (1, 16, 1). Die Florentiner bilden sich zwar ein, ein solches zu haben, aber sie sind verrückt, nur wenige Autoren nähern sich der gesuchten Form. Dichter könnten es entwickeln: Sie müßten feierlich-großartige Vokabeln (grandiosa vocabula) nutzen, die kindlichen weibischen und bäuerlichen Wörter ausscheiden. Nur vornehmste Vokabeln kommen in Frage, vocabula nobilissima. Die Lehrer eines neuen Italienisch müssen den Wortschatz kritisch durchgehen und die Syntax regeln. Von ihrer Norm her wären alle einzelnen Dialekte zu bewerten (1, 16, 6). Diese neue italienische Sprache würde sich dem Lateinischen nähern: Sie würde geregelt und dadurch allgemein. Ein solches höheres Volgare sah Dante im Entstehen (1, 18, 19). Er hat diesen Vorgang bewußtgemacht und dadurch zur Nationbildung Italiens beigetragen.
5.
Dantes Sprache in der ›Commedia‹
5.1 Dantes Ausgangsfrage lautete: Sollte er lateinisch oder florentinisch schreiben? Es gibt alte Nachrichten, er habe die Commedia in lateinischer Sprache begonnen und sich dann fürs Italienische entschieden. Wir haben keine lateinische Commedia, sondern nur die in Volgare. Warum wohl?
Sie ist ein persönlicher Bericht, sie spricht über seine Gefühle, Eindrücke des Schreckens, der Zerknirschung, der Hoffnung, der Freude im Licht. Er sagt von der ersten Zeile an erstaunlich oft ›ich‹. ›Ich‹ ist der Wanderer, auch der Autor spricht als ›Ich‹ den Leser an. Nach dem, was er im Convivio über das Volgare gesagt hat, paßt zu dieser persönlichen Situation die Sprache, die am engsten mit ihm verbunden ist.
Auch der Zweck der Commedia verlangte das Volgare. Sie ruft auf zur Besinnung, sie diagnostiziert die ethisch-politische Lage; sie ist persönlicher Aufschrei und ethisch-politischer Aufruf. Beides sollten möglichst viele verstehen können. Also mußte Dante die Bedenken, ob die Volkssprache zum hohen Jenseitsthema passe, produktiv überwinden. Er mußte dafür eine eigene Sprache erfinden. Das war eine historisch einmalige Situation, für die es kein traditionelles Muster gab, auch wenn sie ohne die Hilfe der antiken Epik, vor allem Vergils und Ovids, nicht zu bestehen war.
5.2 Dante stellte sich die Aufgabe, Unsichtbares sichtbar zu machen. Er mußte eine Sprache erfinden für eine fiktive Vision. Er stilisierte einen Reisebericht über Gegenden, in denen noch niemand war, und das nicht mehr für wundersüchtige Mönche. Er mußte drei Bereiche plausibel machen, die unterschiedlicher kaum sein konnten und denen er zuerst, weit über alles Tradierte hinaus, eine Architektur, einen geographisch-kosmologischen Aufbau geben mußte. Er sicherte die Einheitlichkeit des Gesamtwerks durch die Identität des Wanderers Dante und seine Sprache, aber auch durch die dogmatisch vorgegebene Dreiteilung in Inferno, Purgatorio und Paradiso. Diesen drei Bereichen baute er parallele Strukturen von Kreisen ein – Kreise im Höllentrichter, Rampen auf dem Berg, Sternsphären im Himmel. Darin ordnete er die große Vielfalt seiner Weltbesichtigung und die vielen Personen. Er schuf rigide Ordnung und gab damit der Phantastik Raum. Er nutzte die Fiktion aus, als erster nach Aeneas und Paulus im Jenseits gewesen zu sein, um seiner Imagination freien Lauf zu lassen. Er schuf eine Art Traumerzählung: Er steigt ab in die Tiefe, er quält sich auf der antipodischen Seite den Berg hinauf; er wird in den Himmel erhoben; überall besichtigt er die Situation von Seelen Verstorbener. Er verwickelt sie in sinnliche Aktion, in Rede und Gegenrede. Sie stehen auf, sie begrüßen ihn. Er läßt sie ziemlich leibhafte Schatten sein; sie lachen und weinen, gehen auf ihn zu und empfinden Schmerz. Der Schatten des Vergil bringt es fertig, den lebendigen Leib Dantes ein Stück weit zu tragen. Szenen der Marter, des Aufstiegs und der Ekstase zeichnet Dante direkt, sinnlich, ›realistisch‹. Es ist der ›Realismus‹ von Traumbildern. Nur so wird plausibel, daß der Erzähler wirklich dort war und Wirkliches gesehen hat. Das ist so einzigartig nicht, wie es zunächst scheinen mag; es ist die ›normale‹ Situation von Dichtung. Niemand war bei der Belagerung von Troja dabei, niemand saß an Fausts Schreibtisch in dessen Arbeitszimmer: In der Hinsicht der Simulation von Realität ist Dantes Jenseitspoesie Dichtung wie jede andere auch. Sie ist Fiktion, die abstreitet, Fiktion zu sein.
Die Sprache, in der die Traumreise berichtet wird, entspricht dem Unterschied der drei Reiche und der Mannigfaltigkeit der Szenen in diesen Reichen.[863] Wie sie reden und wie mit ihnen geredet wird, kann nicht uniform sein. Wir lernen in der Commedia etwa 600 Personen kennen. Sie gehören verschiedenen Ständen und Städten an. Die Sprache der Commedia stellt Härte und Weichheit, deftige Anschauung und philosophische Axiome dicht nebeneinander. Insofern kann die Sprache der Commedia nicht die edle Volkssprache (volgare illustre) sein, die Dante in De vulgari eloquentia forderte. Dieses sollte die Vielheit der italienischen Dialekte vereinigen, also die Aufgabe übernehmen, die bisher das Lateinische erfüllt hatte. Seine einheitliche Stilhöhe als volgare illustre schloß vulgäre Ausdrücke aus, aber Dante gebraucht solche in der Commedia. Es sollte die Dialekte überwinden, aber Dante selbst setzt sie in der Commedia dort ein, wo sie passen, also wenn ein Lucchese lucchesisch spricht. Ein Mensch aus Bologna sagt sipa statt si (Inf. 18, 21). Der sprachliche Einfluß der sizilianischen Dichter macht sich bemerkbar, wenn es lo giorrno statt il giorno heißt (Inf. 2, 1). Ähnlich wirkt die Sprache der provenzalischen Troubadoure ein.
Da die Commedia nicht nur Traum ist und Vision, sondern auch Lehrgedicht und private Beatrice-Liturgie, mischt Dante in der Commedia Latinismen dazwischen. Personen von hohem Rang wie Kaiser Justinian brauchen mehr Latinismen als andere (Par. 6). Im Paradiso verstärken die Latinismen die Durchsichtigkeit und Klarheit. Sie markieren Unterschiede und Würde. Dante sagt für unser Wort ›Spiegel‹ spechio, zuweilen auch speglio, aber Engel als Spiegel des göttlichen Lichts nennt er feierlich lateinisch speculi (Par. 29, 144). Insgesamt kommen in der Commedia etwa 500 Latinismen vor. Passagen aus der lateinischen Kirchensprache geben Purgatorio und Paradiso die liturgieartige Feierlichkeit. Bei theoretischen Themen greift Dante aufs Latein der Scholastiker zurück und fragt zum Beispiel: Si est dare primum motum esse. Was man nicht ohne Umständlichkeit übersetzen kann als: Ob man voraussetzen darf, es gebe unter allen Veränderungen eine erste (Par. 13, 100).
Dante ringt als erster mit einem neuen, großen Thema; er gibt einen individuellen Reisebericht aus dem Jenseits aus persönlicher Sicht. Dazu passen neue Wortbildungen; zum volgare illustre gehören sie nicht. In der Commedia hat man an die hundert Neologismen gezählt; im Purgatorio fällt das Wort dismalare (Purg. 13, 3) für: sich vom Bösen befreien; im Paradiso kommt das Wort imparadisare vor für: ins Paradies einführen (Par. 28, 3).
Dante wählt Vokabular und Stilhöhe jeweils neu; dabei kann er sich nicht an seine Regeln für das volgare illustre halten. Jetzt braucht er Vielfalt: Ein Gauner aus der korrupten Stadtverwaltung von Lucca redet anders als sein Ahne Cacciaguida, der aber auch mitten im Paradiso sagen kann: Sie sollen sich kratzen, wo es sie juckt. Im Inferno fallen Wörter wie cul, Arsch, und trulla, Furz (Inf. 21, 139 und 28, 24). Auch die Heiligen im Paradies verschmähen nicht, wenn sie kirchenkritisch losdonnern, derbe Wendungen. Beatrice nennt die korrupten Kleriker kurz und kräftig: porci, Schweine (Par. 29, 124). Erst unter dem Einfluß Petrarcas und der Renaissanceästhetik galt so etwas als unfein.
Also alles in allem: Dante spricht florentinisch, allerdings ein individuell weitergebildetes, ein situationsbezogen abgewandeltes Florentinisch, eine lingua fiorentina dantesca. Er nimmt aus anderen Regionen Vokabeln auf, vorab solche, die in der stilnovistischen Literatur schon vorkamen; er mischt französische Wörter ein und bildet ein neues Florentinisch. Petrarca und Boccaccio haben es aufgenommen. Dadurch wurde es die Grundlage des Italienischen.
5.3 Reich entwickelt sind in der Commedia die Metaphern, die Vergleiche und die poetischen Assoziationen. Sie machen das Jenseits Dantes irdisch, zugänglich, sinnlich. Sie verbinden die drei Weltbereiche untereinander und mit der irdischen Natur. Der Vergleich kann ganz kurz sein, so wenn etwas verschwindet wie der Schnee in der Sonne (Par. 33, 64). Italien heißt verwitwet, weil der Kaiser sich nicht um es kümmert (Purg. 6, 113). Die Dunkelheit der Hölle beschreibt Dante als den Ort, wo die Sonne schweigt (Inf. 1, 60) oder wo jedes Licht stumm ist (Inf. 5, 28). Anspielungen bringen mittelalterliche Standardbilder wie Wald und Stadt, Licht und Schatten, Burg und Buch. Der Vergleich wächst sich zu einer kleinen Szene aus, wenn Seelen sich durch einen Durchgang zwängen wie eine Schafherde ihr Gehege verläßt (Purg. 3, 79–87). Der Vergleich stammt oft, wie bei der Schafherde, aus der Landwirtschaft. Der Aufstieg im Purgatorio wird manchmal so eng, heißt es, wie wenn die Weinbauern die Wingertwege verrammeln (Purg. 4, 19–24). Aber zu agrarisch dürfen wir uns Dantes Welt nicht denken; auch technische, handwerkliche und kommerzielle Vorgänge gestaltet er vergleichend zu Metaphern: Der alte Schneider, der beim Einfädeln die Augen zukneift (Inf. 15, 20–21), oder die sportlichen Kampfspiele in Verona (Inf. 15, 121–123). Ein mächtiges Bild der Hölle bietet im Inferno 21, 7–15 das Arsenal von Venedig.
Szenen des sozialen Lebens spielen ins Jenseits hinein: Die Seelen drängen sich an den Wanderer heran wie die Freunde und Bekannten an jemanden, der in der Lotterie gewonnen hat (Purg. 6, 1–12). Die Funktion solcher Vergleiche macht folgendes Beispiel deutlich: Die Seelen am Fuß des Läuterungsberges hören das Liebeslied des Sängers Casella und vergessen ihre Aufstiegspflicht, Cato donnert sie an, und sie erheben sich wie Tauben, die bisher ruhig am Boden Körner aufgepickt haben, aber aufgescheucht wurden durch einen plötzlichen Knall (Purg. 2, 124–133). Der Vorgang verliert übernatürliche Fremdheit; wir können uns vorstellen, wie ein Taubenschwarm plötzlich hochfliegt. Das kann man in der Stadt erleben, in Venedig besonders, aber die agrarischen Metaphern ziehen die jenseitigen Vorgänge ins Anschauliche, Nahe. Tiervergleiche zeigen Verwandtschaften. Von den Verdammten im Pechsee (Inf. 17) heißt es: Sie wehren sich wie im Sommer die Hunde bald mit der Schnauze, bald mit der Pfote, wenn Flöhe, Mücken oder Bremsen sie gestochen haben.
Oder in derselben tristen Umgebung sieht jemand aus wie einer, der den Mund verzerrt und die Zunge herausstreckt wie ein Ochse, der sich die Nase leckt (Inf. 17, 74–75).
5.4 Die Sprache der Commedia kann und will ihre Herkunft von der antiken Epik nicht verleugnen, von Vergil vor allem, auch von Ovid, Lukan und Statius. Dante erklärt (Inf. 1, 85–87), er verdanke seinen Stil dem Werk Vergils; er bezieht sich im Inferno ausdrücklich auf Ovids Metamorphosen und verspricht radikalere Umwandlungen. Er löst die Vorstellung substantiellen Personseins auf und übertrifft in der Hölle die Radikalität von Kafkas Verwandlung. Die Kommentare verzeichnen ständig Anklänge an die römische Dichtung. Sie bieten großen Nutzen, wenn der Leser auch den abwandelnden Gebrauch mitbedenkt, den Dante von Vorlagen macht. Dantes Gedicht geht auf dem Teppich der antiken Sprache, aber er geht seinen eigenen Weg. Diese Integration des Erbes der antiken Dichtung, ihrer Mythologie und ihrer Metaphern, ihrer Phraseologie, war nach Ernst Robert Curtius die Stiftungstat Dantes, mit der er die moderne europäische Literatur ermöglicht habe. Dadurch bilde er die Spange zwischen Antike, lateinischem Mittelalter und den Nationalliteraturen.
5.5 Dante verstand Dichtung als Rhetorik und Musik. Der rhythmisch gegliederte Klang ist entscheidend. Ihn zu erzeugen, gibt es mehrere Mittel: Lautmalerei, Wiederholung, besonders die Wiederholung des Vokals wie der hellen e und i in
Trivia ride tra le ninfe eterne (Par. 23, 26)
oder des dunklen o in
O Tosco che per la città del foco (Inf. 10, 22),
das die beiden folgenden Verse verstärkend am Ende wiederholen.
Das wichtigste Mittel ist der Reim. Die Commedia ist gereimt. Die antike Dichtung kannte keinen Reim, die lateinische Lyrik des Mittelalters hat ihn entwickelt, die entstehenden volkssprachlichen Dichtungen haben ihn übernommen; Dante gab ihm mit den von ihm erfundenen Terzinen seine eigene Form. Sie reimen nach dem Schema aba bcb cdc usw.
Die drei Zeilen erinnern an die Würde der Zahl Drei. Sie bilden zugleich je eine in sich schließende Einheit dreier Verse und ein gleichförmiges Band über das große Gedicht von über 14 000 Versen hin und sind einer der Gründe, warum es trotz der Vielfalt seiner Personen und Szenen einheitlich wirkt.
Wer Dante liest, und sei’s in Übersetzung, muß einmal über die sprachlichen Möglichkeiten des Reims nachdenken. Am besten, er übt es gleich, wie Helena in Goethes Faust II. Die Griechin kennt den Reim nicht, aber sie hört den anderen Ton, in dem die Worte einander freundlich sind. Ein Wort gesellt sich zum anderen, es zu liebkosen. Faust übt es mit Helena (Faust II. Innerer Burghof, Verse 9365 bis 9384):
HELENA
Vielfache Wunder seh’ ich, hör’ ich an,
Erstaunen trifft mich, fragen möcht’ ich viel.
Doch wünscht’ ich Unterricht, warum die Rede
Des Manns mir seltsam klang, seltsam und freundlich.
Ein Ton scheint sich dem andern zu bequemen,
Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt,
Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen.
FAUST
Gefällt dir schon die Sprechart unsrer Völker
O so gewiß entzückt auch der Gesang,
Befriedigt Ohr und Sinn im tiefsten Grunde.
Doch ist am sichersten wir übens gleich,
Die Wechselrede lockt es, ruft’s hervor.
HELENA
So sage denn, wie sprech’ ich auch so schön?
FAUST
Das ist gar leicht, es muß vom Herzen gehen.
Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt,
Man sieht sich um und fragt –
HELENA
– Wer mitgenießt.
FAUST
Nun schaut der Geist nicht vorwärts nicht zurück,
Die Gegenwart allein –
HELENA
– ist unser Glück.
FAUST
Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand;
Bestätigung, wer gibt sie?
HELENA
– meine Hand.
Goethe zelebriert das Zusammenkommen von Antike und neuer Welt; Dante vollzieht es de facto in seiner reimenden Dichtung. Er verbindet elfsilbige Versrhythmen und Reim, bleibt aber in der Syntax meist einfach und überschaubar. Freilich erfolgen Wortwahl und Wortstellung manchmal schon des Reimes willen; seltene und neugebildete Vokabeln finden sich häufiger als Reimwort am Versende. Doch sind seine Verse durchweg von klassischer Reinheit. Aber Dante hatte auch Schwierigkeiten beim Reimen. Daß die meisten seiner Verse ungezwungen klingen, war nicht allein das Werk eines poetischen Genies; seine Muttersprache gab ihm damals dazu zwei unschätzbare Voraussetzungen. Ihre Substantive haben volltönende Vokale am Ende: Auf ›casa‹ reimen kann fast jeder, auf ›Haus‹ reimt sich höchstens Maus und Klaus und aus. Das ältere Deutsch hatte einmal volltönende Vokale am Wortende, aber sie sind abgeschliffen, oft ersetzt durch ein unbetontes e. Ein zweiter Umstand kam hinzu: Das damalige Italienische konnte Worte verkürzen. Sprachwissenschaftler sprechen von Elliptik, also vom Weglassen eines Wortendes, das aus dem Zusammenhang ergänzt werden kann. Italienische Grammatiken nennen das elisione oder ellissi, also die Unterdrückung eines Vokals, und bringen als einfaches Beispiel: Aus una ora wird: un’ora. Dante hat dafür viele, weitergehende Beispiele:
›Sie waren‹, das heißt im heutigen Italienisch: furono. Aber Dante standen dafür eine Reihe von Formen zur Verfügung: Er konnte schreiben: fuor fuoron fuorono.
Er konnte zwei Vokale zu einer Silbe zusammenfassen; so nahm er Dio als eine Silbe, andererseits konnte er einen Diphthong in zwei Silben zerlegen. Dadurch hatte er für die Einhaltung der Elfsilbigkeit und für den Reim drei ungekünstelte Ausgangsmöglichkeiten, die ihm ein freieres Spiel erlaubten, als wir mit unserem ›waren‹ haben. Hinzu kommt die Möglichkeit der Enklise: Ein schwachbetontes Wort lehnt sich ans Vorhergehende an und verliert dabei Laute, wie soeben bei meinem Wort ›ans‹ statt ›an das‹. Dies erlaubte Dante – mehr als im neueren Italienisch, auch als im Deutschen – Verkürzungen, Silbeneinsparungen, umgangssprachliche Knappheit und sentenzenhafte Strenge. Sprachwissenschaftler beschreiben die Phänomene der Vokalauslassung (Elliptik) und der Wortanlehnung (Enklise) genauer, als ich es hier tue; ich habe mich auf das Nötigste beschränkt.
5.6 Dantes Syntax ist geschult an den klassischen römischen Schriftstellern. Sie begnügt sich nicht mit der Aneinanderreihung einfacher Sätze, sondern baut komplizierte Satzgebilde mit mehrfachen Unterordnungen. Es gibt Sätze, die über drei, sogar vier Terzinen hinweglaufen, z.B. der Anfang von Purgatorio 30, 1–12. Eine Prosaübersetzung kann daher nicht das Ziel haben, für jede Terzine je einen Satz zu bilden. Es war nicht nur antiken Vorbildern zu danken, daß Dante die parataktische Satzreihung oft verläßt; dies forderte sein eigenes Konzept logischer Strukturen; er wollte zeigen, welche Folgerungen er aus welchen Prämissen zog. Je lehrhafter die Teile der Commedia werden, um so häufiger kommen diese großen Satzgebilde vor; ihre Zahl nimmt zu vom Inferno zum Paradiso. Die Terzine fällt zunehmend weniger mit dem Satz zusammen. Aber auch daraus macht Dante einen poetischen Effekt, indem er auffällige Alliterationen über die einzelne Terzine hinaus vorkommen läßt; sie machen den größeren Bogen fürs Gehör fühlbar. Das gelingt Dante zum Beispiel auch dadurch, daß er die Rede Cacciaguidas über vier Terzinen hin mit einem pathetischen Non beginnen läßt (Par. 15, 100–111), wenn er aufzählt, welche Mängel das alte Florenz nicht hatte. Hämmernde Wortwiederholung am Versanfang bringt die Überschrift über dem Höllentor mit dem dreifachen (Inf. 3, 1–3):
Durch mich geht man …
Im canto der Francesca kehrt das Wort ›Amor‹ dreimal am Anfang einer Terzine wieder und hält so die sieben Verse Inferno 5, 100–106 zusammen.
Der Abschied von Vergil erhält Gefühlsintensität durch dreifache Nennung des Namens (Purg. 30, 49–51):
Ma Virgilio n’avea lasciati scemi
Di sé, Virgilio dolcissimo patre,
Virgilio a cui per mia salute d(i)e’mi.
Aber Vergil hatte uns verlassen, Vergil, mein liebster Vater, Vergil, dem ich mich für mein Heil ergab.
Die trostlose Gegend der Selbstmörder beschreibt der 13. canto des Inferno mit dreimal einsetzendem Non am Anfang der ersten drei Terzinen (Inf. 13 1–8). Dies ist der terzinenübergreifende Effekt der sog. Anaphora.
Ähnliche Wirkung im Gebet Bernhards zu Maria (Par. 33, 19–20):
In te misericordia, in te pietate,
in te magnificienza, in te s’aduna.
Dante kennt noch raffiniertere Möglichkeiten, mehrere Terzinen fürs Gehör aneinander zu binden, z.B. durch die Wiederkehr auffallender, betonter Reimwörter wie nacque … acque … piacque (Inf. 26, 137, 139, 141). Noch kunstvoller oder auch gesuchter ist das Akrostichon, bei dem die Anfangsbuchstaben mehrerer Zeilen ein Wort oder einen Spruch ergeben, z.B. im Paradiso 19, 115–141.
5.7 Uns Heutige überrascht, daß Dante sein Buch ›Komödie‹ genannt hat, denn es ist klar, daß er kein lustiges Theaterstück geschrieben hat. Das Wort ›Komödie‹ hatte bei ihm eine andere Bedeutung. Die Form ›Tragödie‹ verpflichtete zu feierlichem Stil; er nahm sich aber verbale Freiheiten heraus, die als unpassend zum hohen Ton der ›Tragödie‹ gefunden wurden. Er mischt die Sprachebenen, stellt hohe Latinismen neben derbe Ausdrücke, Vergil-Anspielungen neben lokale Dialekte. Das war die verhaltene Sprache, der sermo humilis, der seit Erich Auerbach berühmt wurde: Alle sollten Dantes Buch verstehen. Die einfache Ausdrucksweise, neben hochspekulativen Passagen stehend, war an der Sprache der Bibel orientiert, die er für die Literatur der Fischer hielt. Dante benutzt die Vulgata; er zitiert vor allem die Psalmen, das Hohe Lied, Jesaias und Jeremias, die Evangelien, die Paulusbriefe und die Apokalypse. Wörter, die er in De vulgari eloquentia 1, 13, 2 noch von der hohen Literatur fernhalten wollte, gebraucht er jetzt. In Inferno 28, 27 fällt das Wort merda, Scheiße. Machiavelli fand das schmutzig; aber auch schon Zeitgenossen beklagten diesen Gassenjargon.
Er hatte noch andere Gründe außer seinem Sprachstil, sein Buch ›Komödie‹ zu nennen. Deren klassische Definition, die der Brief an Cangrande anführt (10, 28), sagte, daß sie vom Elend zum Glück führt. Sie beginnt mit Unglück und endet mit Seligkeit. Ihr Anfang ist hart, ihr Ausgang gut. Dies, zusammen mit der Freiheit der Wortwahl und Themen liegt zugrunde, wenn Dante keine ›Tragödie‹ hat schreiben wollen. Ganz zufrieden war er mit dem Wort ›Komödie‹ nicht. Er gebrauchte diesen Titel, um nicht den hohen Anspruch des Vergil zu erheben, z.B. Inferno 21, 2. Dessen Aeneis nannte er eine hohe Tragödie (Inf. 20, 113). Aber er wußte, daß sein Werk nicht ein bloßes Exemplar einer Literaturgattung war. Er gab ihm einen Namen außerhalb anerkannter Kategorien. Er nannte es heiliges Poem (Par. 23, 62).