Canto 20
Im fünften Kreis hören die Dichter von Beispielen glücklicher Armut. Hugo Capet kritisiert die Gier seiner, der französischen Herrscherdynastie. Es folgen Beispiele von bestraftem Geiz. Bei der Befreiung der Seele des Statius entsteht ein Erdbeben. Lobgesang.
1 Gegen das Wollen des Besseren kommt anderes Wollen schlecht an. Deshalb zog ich, um seinen Wunsch zu erfüllen, widerwillig den ungesättigten Schwamm aus dem Wasser.[381] Ich ging weiter, und mein Führer bewegte sich auf den freien Zwischenräumen immer nah am Fels entlang, wie man beim Gang über eine Burgmauer sich dicht an die Zinnen hält. Denn die Geizigen, die mit ihren Tränen Tropfen für Tropfen das Laster zum Schmelzen bringen, das die ganze Welt beherrscht, liegen auf der anderen Seite zu weit nach außen.
10 Verflucht seist du, uralte Wölfin, die du mehr als alle anderen Tiere Beute machst in deiner grenzenlosen Freßgier!
13 O Himmel, von dessen Kreisen man annimmt, daß er das Leben hier unten verändert, wann kommt einer, vor dem sie zurückweicht?
16 Wir gingen langsamen und vorsichtigen Schritts. Und ich gab dabei acht auf die Schatten, die ich erbärmlich weinen und klagen hörte. Und zufällig hörte ich dicht vor uns »Liebe Maria!« rufen – mit einem Stöhnen, wie eine Frau es ausstößt bei der Geburt. Sie fuhr fort: »Arm warst du, wie sehr, das sieht man an der Herberge, in der du deine heilige Last niedergelegt hast.« Und dann verstand ich: »O guter Fabricius, du wolltest lieber Armut mit Tugend als großen Reichtum mit Laster besitzen!«[382] Diese Worte hatten mir so gut gefallen, daß ich vorwärts drängte, um den Geist ausfindig zu machen, von dem sie sichtlich kamen. Er sprach auch von der Freigebigkeit, die Nikolaus gegenüber drei Mädchen übte, um ihre Jugend zu ehrbarer Hochzeit zu führen.[383] »O Seele«, sagte ich, »du redest so gut, sag mir, wer du warst und warum du allein es bist, der diese würdigen Lobsprüche wach hält. Dein Wort soll nicht unbelohnt bleiben, wenn ich zurückkehre, den kurzen Weg des Lebens zu vollenden, das seinem Ende zueilt.« Und er: »Ich will es dir sagen, aber nicht, weil ich Beistand von drüben erwarte, sondern weil aus dir, schon bevor du gestorben bist, so große Gnade leuchtet:
43 Ich war die Wurzel des bösen Baumes, der einen Schatten über die ganze Christenheit wirft, so daß man von ihm kaum gute Frucht erntet.[384] Aber wenn Douais, Lille, Gent und Brügge könnten, käme die Rache bald, die ich von dem erbitte, der alles richtet. Drüben hieß ich Hugo Capet. Von mir stammen die Philippe und die Ludwige, die Frankreich heute regieren. Ich war der Sohn eines Fleischers aus Paris. Als es mit den früheren Herrschern zu Ende ging, mit allen, bis auf einen, der die graue Kutte nahm, lag der Zügel der Regierung des Königreichs straff in meinen Händen; ich bekam so viel an Macht durch neuen Erwerb und eine Fülle von Freunden, daß das Haupt meines Sohnes die verwaiste Krone erhielt. Mit ihm begannen sie den Kult ihrer verdammt heiligen Knochen.[385]
61 Solange mein Blut nicht durch die große Mitgift der Provence alle Scham verlor, richtete es wenig aus, tat aber wenigstens nichts Schlimmes. Von da an begann es mit Gewalt und Lügen seinen Raubzug und nahm sich zum Ausgleich noch Ponthieu, die Normandie und die Gascogne. Karl kam nach Italien, und wie zum Ausgleich opferte er Konradin und schickte Thomas in den Himmel, auch zum Ausgleich.[386]
70 Ich sehe die Zeit kommen, nicht fern von heute, da zieht ein anderer Karl aus Frankreich aus, um sich und seine Leute besser bekannt zu machen.[387] Allein und ohne Waffen, nur mit der Lanze, mit der Judas Turniere bestritt, und mit ihr sticht er zu, daß Florenz der Bauch platzt. Land wird er nicht gewinnen, nur Verbrechen und Schande, ein Schaden, der um so schwerer wiegt, je leichter er ihn nimmt.
79 Den nächsten Karl sehe ich, der einst als Gefangener sein Schiff verließ, ich sehe ihn, wie er seine Tochter verkauft und mit ihr schachert, wie es die Korsaren mit den Sklavinnen der anderen machen.[388]
82 O Habgier, was kannst du uns noch mehr antun, du hast doch mein Blut schon so sehr an dich gerissen, daß es sich um das eigene Fleisch nicht kümmert! Damit das künftige Übel und das, was geschehen ist, weniger schlimm erscheine: Ich sehe die Lilie in Anagni eindringen und wie Christus in seinem Vertreter gefangen wird.[389]
88 Ich sehe, wie er wiederum verspottet wird.
89 Ich sehe, wie er wieder Essig und Galle bekommt und wie er getötet wird zwischen Räubern, die überleben.
91 Ich sehe den neuen Pilatus: Er ist so grausam, daß ihm auch das nicht genügt; wie ein Seeräuber setzt er ohne Gerichtsbeschluß die gierigen Segel gegen die Templer.[390]
94 O mein Herr, wann werde ich die Freude erleben, die Rache zu sehen, die, für Menschen verborgen, in deinem geheimen Ratschluß deinen Zorn süß macht?[391]
97 Was ich zuvor sagte über Maria, die einzige Braut des Heiligen Geistes, und was dich bewog, dich wegen einer Erklärung an mich zu wenden, das singen wir, solange der Tag anhält, als unsere Antwort auf all unsere Gebete. Wird es Nacht, nehmen wir statt dessen die entgegengesetzt passenden Gesänge.[392] Wir nennen dann immer aufs neue Pygmalion, den seine gierige Sucht nach Gold zum Verräter, Dieb und Verwandtenmörder machte, und das Elend des habsüchtigen Midas, das aus seiner gierigen Bitte folgte – zum Gelächter für alle Zeiten.[393] Dann gedenken wir alle des Toren Acham, der die Beute stahl, so daß Josuas Zorn ihn hier immer noch trifft. Dann klagen wir Saphira und ihren Mann an und loben die Huftritte, die Heliodor bekam. Und rings um den Berg kreist die Schande Polymnestors, der Polydor erschlug. Und zuletzt rufen wir hier: ›Crassus, sag’ uns, du mußt es ja wissen, wie Gold schmeckt!‹
118 Manchmal spricht einer von uns laut, ein anderer leise, je nachdem, wie unser innerer Zustand uns anspornt, bald zu größerem, bald zu kleinerem Schritt. Deswegen war ich vorhin bei dem Guten, das hier tagsüber verkündet wird, nicht allein; nur hier in der Nähe erhob gerade kein anderer seine Stimme.«
124 Wir hatten uns schon von ihm entfernt und strengten uns an, den Weg zu überwinden, soweit das unseren Kräften gelang, da spürte ich, wie der Berg bebte, als stürze er ein. Eiseskälte erfaßte mich wie einen, den man zur Hinrichtung führt. Nicht einmal Delos wurde so stark erschüttert, als Latona sich dort ihr Nest baute, um die beiden Himmelsaugen zu gebären.[394] Darauf erhob sich von allen Seiten ein solcher Schrei, daß mein Meister auf mich zutrat und sagte: »Sei unbesorgt, solang’ ich dich führe.« Alle riefen: ›Gloria in excelsis Deo, Ehre sei Gott in der Höhe‹, soweit ich das von denen in der Nähe erfaßte, wo ich den Schrei verstehen konnte. Wir blieben stehen, steif und verwirrt wie die Hirten, die als erste dieses Lied hörten, bis das Beben aufhörte und der Gesang zu Ende war. Dann begannen wir wieder unseren heiligen Gang, auf die Schatten achtend, die am Boden lagen. Sie waren zurückgekehrt zu ihrem gewohnten Jammern.
145 Wenn meine Erinnerung sich nicht täuscht, dann hat mich nie etwas, das ich nicht verstand, so heftig nach Wissen verlangen lassen wie damals, als ich darüber nachdachte. Wegen der Eile wagte ich nicht zu fragen, und von mir aus konnte ich den Grund des Donnerschlags nicht sehen. So ging ich dahin, ängstlich und gedankenvoll.