Canto 29
Eine feierliche Prozession kündigt sich an mit Lichtglanz und Gesang. Vorneweg sieben Kandelaber. Es folgen vierundzwanzig Greise. Vier Tiere umgeben einen zweirädrigen Triumphwagen, den ein Greif zieht. Rechts von ihm schreiten drei Frauen, links von ihm vier. Zuletzt kommen sieben gekrönte Greise. Die Prozession bleibt vor Dante stehen.
1 Singend wie eine liebende Frau fügte sie am Ende ihrer eigenen Worte hinzu: ›Beati quorum tecta sunt peccata. Glücklich, deren Sünden zugedeckt sind.‹ Und wie Nymphen sich einzeln im schattigen Wald ergehen, die eine will die Sonne sehen, die andere sie fliehen, ging sie nun gegen den Flußlauf das Ufer entlang, und ich mit ihr auf gleicher Höhe, mit kleinem Schritt den kleinen Schritt begleitend. Noch waren es nicht hundert, ihre und meine Schritte zusammen, als die beiden Ufer gleichermaßen eine Biegung machten, so daß ich jetzt nach Osten ging. Wir waren in dieser Richtung noch nicht weit gegangen, da wandte die Frau sich mir ganz zu und sagte: »Mein Bruder, schau und höre!« Und siehe: Plötzlich durchzog ein Lichtschein von allen Seiten den großen Wald, so daß ich ins Zweifeln kam, ob es blitzte. Doch Blitze kommen und gehen schnell, dieses Licht aber blieb und wurde immer heller, daher fragte ich mich in Gedanken: »Was ist das?« Eine süße Melodie durchlief die lichte Luft, und gerechter Zorn ließ mich den Übermut Evas tadeln.[452] Denn dort, wo Erde und Himmel gehorchen, da ertrug es diese Frau nicht – dabei war sie allein und gerade erst erschaffen –, unter einem Schleier zu stehen. Wäre sie ergeben unter ihm geblieben – ich hätte diese unsagbaren Freuden früher und für immer erfahren. Während ich mich erging unter so vielen Erstlingsgaben der ewigen Lust, ganz gespannt und begierig nach weiteren Freuden, da leuchtete die Luft vor uns unter den grünen Zweigen auf wie loderndes Feuer, und der süße Klang wurde vernehmbar als Gesang.
37 O hochheilige Musen, wenn ich je Hunger, Kälte und Nachtwachen euretwegen ertrug, dann drängt jetzt der Anlaß, von euch Hilfe zu fordern! Jetzt muß der Helikon für mich strömen und Urania mit ihrem Chor mir helfen, diese schwer zu denkenden Dinge in Verse zu bringen.[453]
43 Wir gingen wenig weiter. Noch täuschte der lange Zwischenraum zwischen ihnen und uns sieben goldene Bäume vor, aber als ich ihnen so nahe gekommen war, daß das allgemeine Erkenntnisbild, das die Einzelwahrnehmung nicht erfaßt, keinen Zug mehr aufgrund der Entfernung verlor, erkannte die Kraft, die der Vernunft das Urteil vorbereitet, was es wirklich war, nämlich sieben Leuchter, und daß Stimmen das ›Hosanna‹ sangen.[454] Oben die schönen Leuchter strahlten heller als der Vollmond bei klarem Himmel zur Mitternacht. Ich wandte mich, höchst verwundert, dem guten Vergil zu, aber sein Gesicht gab zu verstehen, er sei nicht weniger erstaunt als ich. Ich kehrte mein Gesicht dann wieder den erhabenen Dingen zu, die sich so langsam auf uns zubewegten, daß eine Neuvermählte sie überholt hätte.[455] Da rief die Frau mir zu: »Warum brennst du derart beim Anblick der lebendigen Lichter,[456] daß du gar nicht siehst, was hinter ihnen kommt?« Jetzt sah ich die Leute, die hinter den Leuchtern wie hinter ihren Führern herkamen, weiß gekleidet, von einem Glanz, wie es ihn hier niemals gab. Das Wasser auf meiner linken Seite glühte auf; es gab mir, wenn ich hineinschaute, wie ein Spiegel meine linke Seite zurück. Als ich mein Ufer erreicht hatte, so daß nur der Fluß zwischen ihnen und mir war, hielt ich, um besser zu sehen, meine Schritte an und sah: Die kleinen Flammen gingen voran und ließen die Luft hinter sich gefärbt, gezogenen Pinselstrichen gleich; der Raum darüber zeigte deutlich sieben Streifen in den Farben, aus denen die Sonne den Regenbogen und Delia den Gürtel macht.[457]
79 Diese Farbfahnen reichten nach rückwärts weiter als mein Blick, und zwischen den äußeren schätzte ich einen Abstand von zehn Schritten. Unter einem Himmel, so schön wie ich ihn beschreibe, kamen vierundzwanzig Greise, paarweise, mit Lilien bekränzt. Sie alle sangen ›Benedicta, Gesegnet seist du unter den Töchtern Adams, und auf ewig gepriesen sei deine Schönheit‹.
88 Kaum waren die erhabenen Gestalten mir gegenüber am anderen Ufer zwischen Blumen und frischem Gras vorüber, da kamen hinter ihnen, wie am Himmel Licht auf Licht folgt, vier Tiere, jedes von ihnen mit grünem Laub bekränzt. Jedes war gefiedert mit sechs Flügeln, die Federn voll von Augen, und wären die Augen des Argos lebendig, sie wären wie diese. Aber, mein Leser, um ihre Gestalt zu beschreiben, verschwende ich hier keine weiteren Verse. Es werden noch andere Ausgaben von mir verlangt; ich darf hier nicht freigebig sein. Aber lies Ezechiel, der sie beschreibt, wie er sie im Sturm aus der Kälte kommen sah, mit Wolke, mit Feuer. So wie du sie auf seinen Seiten findest, so waren sie hier, nur daß in der Zahl der Flügel Johannes auf meiner Seite steht und von ihm abweicht.[458]
106 Den Raum zwischen ihnen nahm ein Wagen ein mit zwei Rädern, ein Triumphwagen, gezogen am Hals eines Greifen. Dieser streckte die beiden Flügel nach oben aus zwischen dem mittleren und den jeweils drei anderen Streifen, so daß er keinen, sie trennend, beschädigte. Sie reichten höher hinauf, als man sah. Soweit er Vogel war, bestanden seine Glieder aus Gold, die anderen waren weiß, mit Rot gemischt. Nicht einmal Rom erfreute den Africanus oder auch Augustus mit einem so schönen Triumphwagen, selbst der der Sonne wäre arm neben diesem, ich meine den Sonnenwagen, der entgleist verbrannte auf Bitten der frommen Erdmutter, damals, als Jupiter so geheimnisvoll gerecht war.[459] Drei Frauen gingen tanzend beim rechten Rad daher. Die eine war feuerrot und wäre inmitten eines Feuers kaum aufgefallen; die andere war, als bestünden Fleisch und Bein aus Smaragd; die dritte glich frisch gefallenem Schnee. Einmal schien die Weiße sie zu führen, ein andermal die Rote, nach deren Gesang die anderen ihren Schritt richteten, langsamer oder schneller. Auf der linken Seite feierten vier Frauen, in Purpur gekleidet, den Reigen nach dem Takt, den eine von ihnen angab, die drei Augen im Kopf hatte.[460]
133 Hinter dem ganzen soeben beschriebenen Knäuel sah ich zwei Greise, einander ungleich in der Kleidung, aber gleich in würdiger und ernster Haltung. Der eine erwies sich als Schüler des großen Hippokrates, den die Natur schuf für die Wesen, die sie am liebsten hat.[461] Der andere zeigte mit seinem leuchtenden und scharfen Schwert das entgegengesetzte Bestreben, so daß es mir noch diesseits des Flusses Angst machte. Danach sah ich vier in bescheidener Aufmachung, und hinter ihnen allen kam ein Greis allein, traumwandelnd und mit weitblickendem Gesicht.[462] Und diese sieben waren gekleidet wie die erste Gruppe, nur trugen sie nicht Lilien ums Haupt, sondern Rosen und andere Blumen, weshalb jemand auch aus geringer Entfernung geschworen hätte, Feuer brenne über ihren Brauen. Und als der Wagen mir gegenüber stand, ertönte ein Donnerschall. Es war, als wäre den würdigen Gestalten das Weitergehen untersagt. Sie machten hier Halt mit den vordersten Zeichen.