Canto 13
Dante betritt einen Wald, dessen Bäume die Seelen von Menschen bergen, die sich selbst getötet haben. Harpyen nähren sich von deren Zweigen. Dante bricht einen Zweig ab und hört die Stimme von Pietro delle Vigne, des Kanzlers von Friedrich II., über seinen Suizid. – Strafen der Verschwender.
1 Nessus war noch nicht drüben angekommen, als wir uns einem Wald näherten, in dem kein Weg zu erkennen war. Nichts Grünes. Sondern Laub von dunkler Farbe, keine glatten Zweige, sondern knorrige und krumme. Keine Früchte gab es da, nur Dornen und Gift. Ein so dichtes und wildes Gestrüpp bewohnen nicht einmal die wilden Tiere, die zwischen Cecina und Corneto das bebaute Land hassen.[95] Hier nisten die häßlichen Harpyen, die von den Strophaden die Trojaner vertrieben mit der düsteren Ankündigung künftigen Unheils.[96] Sie haben weite Flügel, Hals und Gesicht von Menschen, Füße mit Krallen; ihr dicker Bauch ist gefiedert; mit Klagegeschrei sitzen sie auf unheimlichen Bäumen.
16 Und der gute Meister: »Bevor du weiter eindringst«, begann er zu sagen, »mußt du wissen, daß du im zweiten Ring bist.[97] Und darin bleibst du, bis du zu dem grauenvollen Sand kommst. Sieh daher genau hin, denn du wirst Dinge sehen, die dich an meinen Worten zweifeln lassen könnten.«
22 Ich hörte Wehgeschrei von allen Seiten, sah aber keinen Menschen, der es ausstieß, und blieb deshalb ganz verwirrt stehen. Ich glaubte, daß er glaubte, ich glaube, die vielen Stimmen kämen aus dem Geäst von Menschen, die sich vor uns versteckten. Deswegen sagte der Meister: »Knick einen kleinen Zweig von einem dieser Bäume, dann knicken auch alle Gedanken, die du da hast.«
31 Ich streckte meine Hand ein wenig aus und brach einen kleinen Zweig von einem großen Dornbusch. Da schrie sein Stamm: »Warum schlitzt du mich auf?« Dann wurde er dunkelrot vom Blut und begann wieder zu schreien: »Warum zerreißt du mich? Hast du keinen Hauch von Mitleid? Menschen waren wir; jetzt sind wir Gestrüpp. Selbst wenn wir Seelen von Schlangen wären, sollte deine Hand mitleidiger sein.« Wie aus einem grünen Scheit, das an einem Ende angezündet wird und am anderen Ende zischt und tropft wegen des Dampfes, der entweicht, so quollen aus dem abgerissenen Stück Worte und Blut zugleich. Der Zweig fiel mir aus der Hand; ich stand verdutzt da wie ein Mann, den Angst überfällt. »Du verletzte Seele«, sagte ihm mein Weiser, »hätte er vorher glauben können, was er nur aus meinen Versen kannte, er hätte nie die Hand gegen dich ausgestreckt, aber weil die Sache unglaublich ist, brachte ich ihn dazu, das zu tun, was mir selbst leid tut. Aber sag ihm, wer du warst, damit er es ein wenig wiedergutmachen kann, indem er deinen Ruhm in der Welt oben erneuert, wohin er zurückkehren darf.«[98]
55 Darauf der Stamm: »Du schmeichelst mir mit so gutgesetzten Worten, daß ich nicht schweigen kann. Es möge euch nicht zur Last fallen, wenn ich ein wenig auf den Leim gehe und mit euch rede. Ich bin der, der beide Schlüssel zum Herz Friedrichs besaß.[99] Ich schloß damit auf, ich schloß damit zu, aber so sanft, daß ich aus seinem Vertrauen fast jeden anderen Menschen verdrängte. Ich verwaltete mein ruhmreiches Amt so treu, daß es mir Schlaf und Leben raubte. Die Hure, die niemals ihre käuflichen Augen vom Haus des Kaisers abwandte – ich meine den Neid, den Tod allen Lebens und das Laster der Höfe –, brachte alle gegen mich auf, und die Aufgebrachten brachten den Kaiser so auf, daß aus heiteren Ehrungen düstere Trauer wurde. Ich in meinem verachtungsvollen Sinn glaubte, durch den Tod der Verachtung zu entrinnen; er machte mich ungerecht gegen mich Gerechten. Bei den jungen Wurzeln dieses Baumes schwöre ich euch: Niemals brach ich meinem Herrn die Treue; er war der Ehre so sehr würdig. Und wenn einer von euch zurückgeht in die Welt, dann stärke er die Erinnerung an mich, die noch daniederliegt von dem Schlag, den der Neid ihr versetzte.«
79 Er hielt ein wenig inne, dann sagte der Dichter zu mir: »Verlier keine Zeit! Da er schweigt, rede du und frage ihn, was du willst.« Darauf ich zu ihm: »Frag du ihn doch nach dem, was du meinst, was mich interessiert. Ich kann es nicht, das Mitleid greift mir zu sehr ans Herz.« Dann begann er wieder: »Gern erfüllt jemand den Wunsch, den deine Worte ausdrücken, aber sage uns doch bitte noch, du eingekerkerter Geist, wie die Seele sich an diese Knorren bindet, und sag uns, wenn du kannst, ob jemals eine sich aus solchen Gliedern löst.« Da schnaubte der Stumpf heftig, dann wandelte sich sein Lufthauch in diese Stimme: »Kurz möchte ich euch antworten. Wenn eine wilde Seele, die vom Körper sich losriß, davongeht, dann schickt Minos sie zum siebten Höllenschlund. Sie stürzt dort ins Gestrüpp. Dort ist ihr kein bestimmter Ort zugeteilt, sondern wo der Zufall sie hinwirft, dort keimt sie wie Dinkel. Sie wächst auf zum Schößling und wilden Strauch, die Harpyien fressen seine Blätter, schaffen ihr Schmerzen und den Schmerzen ein Fenster. Wir werden wie alle andren zu unseren Hüllen zurückkehren, aber nicht, damit die Seele sich damit bekleide, denn es ist nicht gerecht, zu besitzen, was man sich wegnahm. Wir schleifen sie mühsam hierher, und in dem traurigen Wald werden unsere Leiber aufgehängt, jeder an dem Baum des Schattens, der ihm zum Verderben wurde.«
109 Wir standen noch aufmerksam bei dem Stamm, in dem Glauben, er wolle mehr noch sagen, als wir von Lärm überrascht wurden wie ein Jäger, der auf seinem Platz den Eber und die Meute kommen hört; er hört die Tiere und die Zweige rascheln. Und siehe da: Zwei kamen von links gelaufen, nackt und zerkratzt, in wilder Flucht, so daß sie im Wald alles Unterholz brachen. Der vordere: »Tod, komm doch, komm doch!« Der andere kam sich zu langsam vor; er rief: »Lano, so flink waren deine Beine nicht beim Turnier von Toppo.«[100] Und dann, wohl weil ihm der Atem ausging, machte er aus sich und einem Busch einen einzigen Knoten. Hinter beiden war der Wald voll von schwarzen Hündinnen, gierig und schnell wie Jagdhunde, von der Kette gelassen. Sie schlugen die Zähne in den, der sich versteckte; sie zerfleischten ihn Fetzen um Fetzen und schleppten die blutenden Glieder mit sich fort.
130 Dann nahm mich mein Begleiter an der Hand zu dem Strauch, der wegen der blutigen Brüche vergeblich weinte. »O Giacomo von Sant’Andrea«, sagte er zu ihm, »was hat es dir geholfen, bei mir Schutz zu suchen? Welche Schuld habe ich an deinem schlechten Leben?« Als der Meister bei ihm stehenblieb, sagte er: »Wer warst du, daß du aus so vielen Öffnungen zugleich Blut und schmerzende Rede ausstößt?« Darauf er zu uns: »O ihr Seelen, ihr seid gekommen, die schändliche Mißhandlung zu sehen, die mir meine Blätter entrissen hat, sammelt sie am Fuß dieses elenden Buschs. Ich stamme aus der Stadt, die den Täufer gegen ihren ersten Schirmherrn tauschte, der deshalb mit seiner Kunst ihr immer schaden wird.[101] Und bliebe nicht an der Arnobrücke eine Art Zeichen von ihm – die Bürger hätten umsonst gearbeitet, die sie über der Asche neu gründeten, die Attila zurückließ.
151 Ich machte aus meinem Haus meinen Galgen.«[102]