Inferno
Canto 1
Dante findet sich zur Mitte des menschlichen Lebens in einer Krise. Er erwacht aus Umnachtung in einem wilden Wald. Er sieht einen erleuchteten Hügel und will ihn besteigen. Drei wilde Tiere stellen sich ihm in den Weg. Vergil tritt auf, ihm zu helfen. Er wird mit ihm eine andere Reise antreten.[1]
Vers 1 In der Mitte unseres Lebenswegs kam ich zu mir in einem dunklen Wald. Der rechte Weg war da verfehlt.[2]
4 Ach, wie schwer ist es, davon zu sprechen, wie er war, dieser Wald, so wild, so rauh und dicht! Wenn ich nur daran denke, kommt mir wieder die Angst. Bitter war er, fast wie der Tod. Aber um vom Guten zu sprechen, das ich da fand, rede ich von den anderen Dingen, die ich dort sah.
10 Ich kann nicht recht sagen, wie ich dort hineingeriet, so schlaftrunken war ich, als ich den wahren Weg verließ. Aber ich kam dann an den Fuß eines Hügels, wo das Tal endete, das mein Herz mit Angst durchbohrt hatte; ich blickte in die Höhe und sah den Bergrücken schon bekleidet mit den Strahlen des Planeten, der Menschen auf allen ihren Wegen richtig führt.[3] Schon war die Furcht, die im See meines Herzens geherrscht hatte – in der Nacht, die ich mit so viel Angst verbrachte –, ein wenig beruhigt. Und wie jemand, der mit keuchendem Atem dem Meer ans Ufer entronnen ist, sich zurückwendet auf das gefährliche Wasser und es anstarrt, so wandte sich mein Geist, immer noch auf der Flucht, zurück, die Enge zu betrachten, die noch kein Mensch lebend verließ. Dann, nachdem ich den müden Leib ein wenig ausgeruht hatte, nahm ich den Weg wieder auf über den verlassenen Abhang, wobei der ruhende Fuß stets der untere war.[4]
31 Da kam plötzlich fast am Fuß des Hangs ein Gepard mit geflecktem Fell, sehr schnell und wendig. Er wich nicht aus meinem Gesichtskreis, sondern verlegte mir den Weg; mehrmals war ich dabei umzukehren. Es war früh am Morgen, die Sonne ging auf mit jenen Sternen, die bei ihr waren, als die göttliche Liebe erstmals diese schönen Wesen bewegte.[5] Tagesstunde und Frühjahrsglanz gaben mir Zuversicht gegen das wilde Tier mit dem gefleckten Fell. Aber da sah ich einen Löwen kommen, und es erfaßte mich neue Angst. Er lief auf mich zu, mit erhobenem Haupt und wildem Hunger; es war, als zittere selbst die Luft vor ihm. Und dann kam eine Wölfin, mager, aber sichtlich voll Gier; schon vielen Menschen hat sie elendes Leben gebracht. Ihr Anblick versetzte mich in schwerste Angst, ich gab die Hoffnung auf, die Höhe zu erreichen. Wie einem Mann, der gern Gewinne macht, der aber jammert bei jedem Gedanken, wenn die Zeit der Verluste kommt und er in Trauer versinkt – so ging es mir, als das wilde, unersättliche Tier mir entgegenkam. Stück für Stück drängte es mich dorthin zurück, wo die Sonne schweigt.[6]
61 Ich stürzte nach unten ab, da tauchte vor meinen Augen ein Mann auf. Es war, als habe er durch langes Schweigen seine Stimme verloren. Als ich ihn erblickte in dieser großen Wüste, rief ich ihm zu: »Erbarme dich meiner, wer du auch seist, Schatten oder wirklicher Mensch!«[7] Er antwortete mir: »Kein Mensch! Mensch war ich einst. Meine Eltern waren Lombarden, beide stammten aus Mantua. Geboren wurde ich unter Julius, wenn auch spät. Und ich lebte in Rom unter dem gerechten Augustus, zur Zeit der falschen und lügnerischen Götter. Ich war Dichter, und ich sang von dem gerechten Sohn des Anchises, der aus Troja kam, damals als das stolze Ilion niedergebrannt war. Aber du, warum kehrst du um zu so großer Qual? Warum steigst du nicht auf zu dem glückbringenden Berg, dem Ursprung und Grund jeder Freude?« »Dann bist du also Vergil und bist die Quelle, aus der ein so breiter Strom der Rede fließt?«,[8] fragte ich zurück mit beschämter Stirn.
82 »O du, Ehre und Licht aller Dichter! Jetzt komme mir das lange Bemühen und die große Liebe zugute, mit denen ich dein Buch durchforschte. Du bist mein Meister und mein geistiger Vater! Du allein gabst mir den schönen Stil, der mir Ehre einbrachte. Da siehst du das Untier, weshalb ich umkehrte. Du bist für Weisheit berühmt: Hilf mir vor ihm, denn es macht mir alle Adern erzittern.« Er sah mich weinen und antwortete: »Du solltest einen anderen Weg einschlagen, wenn du dieser Wildnis entkommen willst. Denn diese Bestie, wegen der du aufschreist, läßt niemanden auf seinem Weg passieren, sondern hindert, ja tötet ihn. Sie ist von schlimmer, böser Art; ihre Gier kommt nie zur Ruhe; nach dem Fressen hat sie mehr Hunger als zuvor. Viele Tiere gibt es, mit denen sie sich paart. In Zukunft werden es noch mehr sein – bis der Jagdhund kommt, der ihr den qualvollen Tod bringt. Er frißt weder Land noch Geld, sondern lebt von Weisheit, Liebe und Tugend; seine Herkunft liegt zwischen Filz und Filz.[9] Er bringt das Heil dem erniedrigten Italien, für das die Jungfrau Camilla, auch Euryalus, Turnus und Nisus starben. Er jagt das Untier von Stadt zu Stadt, bis er es in die Hölle zurückgeschafft hat, von wo der Satansneid es einst losließ.
112 Für dich ist es, denke ich, das Beste, wenn du mir folgst; ich werde dein Führer sein. Ich bringe dich von hier fort – zuerst zu dem unzerstörbaren Ort, wo du Verzweiflungsschreie hörst und die endlosen Leiden der Geister siehst, wo jeder den zweiten Tod herausschreit. Aber danach siehst du auch die, die zuversichtlich sind im Feuer, weil sie hoffen, irgendwann zu den Seligen zu kommen. Willst du dann zu diesen aufsteigen, dann kommt eine Seele, die würdiger ist als ich. Ihr überlasse ich dich, wenn ich gehe. Denn der Kaiser, der dort oben herrscht, will nicht, daß jemand durch mich in seine Stadt komme, kannte ich doch nicht sein Gesetz. Überall herrscht er, aber dort residiert er; dort ist seine Stadt und sein hoher Thron – o glückselig, wen er dorthin erwählt!« Und ich zu ihm: »Dichter, ich flehe dich an bei dem Gott, den du nicht kanntest, führe du mich dorthin, wovon du eben sprachst, damit ich diesem Übel hier – und dem, was schlimmer ist – entkomme, daß ich das Tor des heiligen Petrus[10] schaue und die, die du als so traurig schilderst.«
Dann brach er auf, und ich hielt mich hinter ihm.