Zwei:

Aufriss

I.

Dantes Ferne

Dante ist uns ferngerückt. Zwar gilt er noch als Klassiker. Sein Schicksal, seine ungeheure Phantasie, die Plastik seiner Figuren und sein enormer Einfluß sichern ihm bleibende Aufmerksamkeit. Gute deutschsprachige Verlage legen immer noch Wert darauf, eine Übersetzung der Commedia vorrätig zu halten. Viele Menschen nennen noch seinen Namen mit Respekt, aber weder die gelehrte Dante-Forschung, die von 1860 bis 1929, von Karl Witte zu Karl Vossler und Erich Auerbach in Deutschland groß war, noch die bildungsbürgerliche Hochachtung hielt sich in den deutschsprachigen Ländern.

In Italien mag es anders sein; dort läuft noch immer die pädagogische Dante-Großinitiative, die ihm viele Schulstunden einräumt. Ich kritisiere sie nicht, sie schafft wunderbare Anspielungsmöglichkeiten im Gespräch, aber sie beengt auch die Gemüter, setzt einseitige Akzente und verwandelt ein Kunstwerk in geronnenen Schulstoff; Boccaccio ist weniger in Gefahr, bei ihm halten Schulleute sich gern züchtig an die Novelle vom Falken.

Dante faszinierte Maler wie Salvador Dalì und Poeten wie Ossip Mandelstam und Jorge Louis Borges; Ezra Pound und T. S. Eliot verdanken ihm viel. Er war wichtig für Samuel Beckett und Ossip Mandelstam, dessen Gespräch über Dante mein Freund Ralph Dutli brillant übersetzt hat (Zürich 21991). Auf ihn bezogen sich Pier Paolo Pasolini, Italo Calvino, auch Peter Weiss, Seamus Heaney und Derek Walcott. Die Commedia ist so extrem, so phantastisch, exzessiv, unvergleichlich und politisch, ungezähmt und ungeniert vor-bürgerlich, sie kehrt das gewöhnliche Vorstellen und Denken so gründlich um, daß sie zwar mißachtet, aber nicht mehr vergessen werden konnte.[789]   Freilich ist Dante dann vor allem ›der Dichter der Hölle und des Exils‹; Bert Brecht hat von ihm gesagt, er sei Klassiker nur durch das Inferno. Ich habe vor, ihm zu widersprechen, aber erst später, nicht jetzt.

Die großen Dante-Übersetzungen zweier so bedeutender Dichter wie Stefan George und Rudolf Borchardt, die zwischen 1900 und 1930 ihr freilich begrenztes Publikum hatten, konnten Dante nicht gegenwärtig halten. Von keinem Klassiker, denke ich, hört man so oft wie von Dante, daß jemand die Lektüre begonnen, aber abgebrochen hat. Das ist bei Homer und Shakespeare anders, wohl auch noch bei Molière und Voltaires Candide.

Dante war nicht immer so fremd. Er ist im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten, so scheint es, von uns weiter weggerückt. Kaum einer, der es nicht professionell muß, liest bei uns die ganze Commedia. Wie kommt das wohl? Die Commedia ist voraussetzungsreich. Der Leser muß, um ins Schlaraffenland zu kommen, einige Reisberge durchfressen: Da ist die griechische Philosophie, vor allem Aristoteles. Dante läßt wie ein Humanist die griechische Mythologie – in ihrer lateinischen Rezeption – aufleben und nimmt ständig Bezug auf die römische Dichtung, vor allem auf Vergil und Ovid. Er spricht über florentinische Politik in ihren weltpolitischen Zusammenhängen; er arbeitet die Kaisergeschichte auf und durchdenkt die Geschichte der Kirche. Dies alles sind inhaltliche Vorgaben. Wer die Commedia liest, um sie anschließend erklären zu können, sollte sie kennen; der freie Leser aber darf sich von ihnen nicht zu sehr beeindrucken lassen, denn schließlich ist Dantes Werk Dichtung, also weder philosophisches Traktat noch Chronik, noch fromme Lebensbeichte. Sie ist ›wahre Lüge‹, ein erfundener Bericht über eine Jenseitsreise, der auf umwegige Art Wahrheit ausspricht.

Aber um zur Poesie zu kommen, ist eine gewisse Vorbereitung zu empfehlen. Zwischen Dante, gestorben 1321 in Ravenna, und uns liegt eine lange Zeit, die sich bemerkbar macht. Ich möchte die Schwierigkeiten klarmachen, die sich daraus ergeben. Ich nenne einige davon, nicht um abzuschrecken, sondern um Frustrationen vorzubeugen:

1.

Sprachbarriere

Dantes Sprache ist nicht das heutige Italienisch. Auch Italiener müssen sich in Wortschatz und Grammatik erst einarbeiten.[790]   Die Klangschönheit, die Prägnanz der Diktion, die Frische der Metaphern und der sinnliche Wohllaut gehen über der Schweißarbeit leicht verloren. Die Aufmerksamkeit des Lesers verschiebt sich aufs Inhaltliche, Theoretische, Theologische. Sie verkrümelt sich ins Ideologische oder Historische. Die Commedia italienisch zu lesen, wird für viele zur Mühsal. Zuerst überwiegt die Arbeit des Entzifferns. Die Konzentration auf den Inhalt ist fast der Tod der Dichtung. In ihr zählt das Wie mehr als das Was. Und die Form bleibt, wie einer gesagt hat, ein Geheimnis den meisten.

2.

Das theologische Erbe

Die Commedia handelt, aufs erste gesehen, vom Schicksal der Seelen in den drei Jenseitsbereichen. Ich sage: Fürs erste, denn dabei wird es nicht bleiben. Aber zunächst führt uns Dante in Hölle, Fegefeuer, Paradies. Dort kennen wir uns heute nicht mehr so gut aus. Manche verstehen den Begriff ›Seele‹ nicht mehr. Und was die Hölle angeht, so erklären selbst Bischöfe im Fernsehen, sie machten von der Lehre über die Hölle keinen Gebrauch. Hans Urs von Balthasar setzte die Torheit in die Welt: An die Existenz der Hölle müsse jeder Christ glauben. Aber vielleicht sei sie leer. Dann hätte Gott eine große Anstrengung wie den Höllenbau umsonst unternommen. Sie wäre eine theatralische Drohkulisse. Dann hätten die Erklärer der christlichen Lehre uns mehr als 1500 Jahre lang getäuscht, und heute würden sie es versäumen, uns über eine so wichtige Veränderung wie die Entleerung der Hölle beizeiten zu unterrichten.

So inkonsequent dachte Dante nicht. Seine Hölle ist voll besetzt. Er leidet, daß Vergil in die Hölle zurück muß, weil er ungetauft gestorben ist. Das war für Dante schon kaum zu begreifen. Für uns liegt es noch weiter weg.

3.

Dante ›reaktionär‹?

Dantes Politik- und Gesellschaftskonzept nennen manche ›reaktionär‹. Alles, wodurch Florenz mächtig wurde, paßt ihm nicht: Handel, Mitregieren der kleinen Leute, Zulassung von Einwanderung, das Geld- und Bankwesen. Er trauert dem alten, dem uralten Florenz nach. Von florentinischen Bauwerken bewunderte er nur das Battistero und S. Miniato. Allerdings erkannte und anerkannte er die Bedeutung von Giotto. Und kann man ihn ›reaktionär‹ nennen? Denn von der Jenseitsreise erwartet er Freiheit. Libertà va cercando (Purg. 1, 71). Jeder wird sein eigener Kaiser und Papst. Er ist es nicht von vornherein. Er wird es durch Erfahrung und Einsicht und richtiges Leben.

4.

Astropoesie

Dante arbeitet in die Commedia viel Stoff ein, der uns fremd geworden ist: Er macht, ich habe das schon angedeutet, viele Anspielungen auf die antike Mythologie. Nehmen wir als Beispiel den Mond. Dante nennt ihn nicht nur luna, was bereits anspielungsreich genug wäre, denn Luna besaß Tempel auf dem römischen Aventin und dem Palatin, gehörte also zum antik-römischen Kult, den viele Christen als Götzendienst verwarfen, sondern er nennt ihn die Schwester der Sonne, er bezeichnet ihn als Trivia in dem schönen Vers, der Trivia zwischen den Sternen als unzerstörbare Nymphe feiert (Par. 23, 26):

Trivia ride tra le ninfe eterne.
Trivia lacht zwischen den ewigen Nymphen.

Er identifiziert den Mond auch mit Proserpina und sagt von ihm, er beherrsche das Inferno (10, 80). Luna, das ist ein Sammelbecken antik-mythologischer und zeitgenössisch-astronomischer Vorstellungen. Das schafft dem heutigen Leser Mühe. Aber wenn man den Kommentaren entnommen hat, daß Dante statt luna auch Trivia sagt, bekommt man wieder Freude an dem hellklingenden Vers mit den vielen i und e. Das gibt Anlaß, an andere Mondgedichte zu denken:

Füllest wieder Busch und Tal
still mit Nebelglanz,
lösest endlich auch einmal
meine Seele ganz.

Oder:

Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar.

Dante spricht weniger gefühlvoll. Er nimmt weniger Bezug auf die Seele des Dichtenden. Er verfremdet mit Hilfe antiker Bilder und Namen: Der Mond als Trivia, die Sterne als Nymphen.

Ernst Robert Curtius beschrieb in seinem Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern 1948 und öfter) Dante als den zentralen Vermittler der antik-römischen Dichtung. Dante habe in der Commedia den Reichtum der römischen Literatur zusammengefaßt und einverwandelt; er habe ihn frisch erneuert und einen gesamteuropäischen Vorrat von Topoi geschaffen, der bis in die Gegenwart reiche. Dante sei deshalb der Begründer der antik-mittelalterlich-modernen Kontinuität; er wurde, Curtius zufolge, Stifter der europäischen literarischen Identität und ermöglichte erst die Nationalliteraturen. Das heißt: Dantes Commedia hat weltgeschichtliche Bedeutung, nicht nur italienisch-literarhistorische.

Ich sprach vom antiken Metaphernvorrat am Beispiel des Mondes, den die Fixsterne wie Nymphen begleiten. Dantes Dichtung ist Astropoesie wie seine Philosophie Astrometaphysik ist: Die Sterne sind das Ziel der Wanderung, und jeder der drei Teile endet mit dem Wort: die Sterne (stelle). Aber Dante rief auch historische Universen auf; er zitiert Namen nicht nur aus der antiken Literatur, sondern auch aus der realen Weltgeschichte. Er bringt ganze Listen historischer Personen, römischer Kaiser und ehemals guter lombardischer Adliger. Um die geschichtlichen Zusammenhänge zu erfassen, braucht der Leser einen Kommentar; aber je nachdem, wie er sich dazu verhält, erntet er Wissensplunder oder Poesie. Benedetto Croce unterschied in der Commedia Poesie und Historisches (storia).[791]   Es ist danach üblich geworden, das zu bestreiten. Aber etwas ist dran. Croce stellte sich im Dante-Jahr 1921 gegen das Übermaß historisch-philologischer Erudition, das die Poesie verdecke. Er sah eine Spannung in der Commedia selbst; sie zeige einen Dualismus von Poesie und Struktur. Letztere sei bestimmt durch die kirchliche Lehre. Er fand einen Gegensatz von Poesie und historischen Stoffen. Manche haben dagegen eingewendet, Croce zerschneide die Dichtung in eine genießbare konkret-poetische und in eine abstrakt-theologische Schicht. Und er eliminiere historische Daten, die Dante wichtig waren. Und doch möchte ich Croce nicht zu rasch widersprechen. Dante, der Wanderer, sucht im Jenseits nach Florentinern; in der Hölle sind sie reichlich vorhanden. So ergibt sich ein Übergewicht lokal-florentiner Geschichten, die modernen Lesern erklärt werden müssen. Aber das gehört, meine ich, nicht schon zur ersten Lektüre. Denn was der Dichter Dante aus den historischen Vorlagen macht, ist das poetisch Entscheidende und unterscheidet sich von dem Bild, das sich uns heute aus historischen Dokumenten ergibt.

5.

Lehrdichtung

Die Commedia ist auch Lehrdichtung. Sie ist viel mehr als das; sie ist Prophetie und persönliche Erzählung, fingierter Reisebericht und politisches Pamphlet, aber sie ist auch Philosophie in dem weiten Sinn, den Dante dem Wort gab. Nicht, als habe er das Wort ›Philosophie‹ so vage genommen, wie man von der ›Philosophie des Pentagon‹ spricht. Das nicht. Wohl aber umfaßt bei ihm ›Philosophie‹ alles, was in der älteren Philosophie dazu gehörte, also auch Psychologie und Ökonomik, Naturwissen, Politik und Ethik. Dante läßt sich – zunehmend im Purgatorio und Paradiso – keine Gelegenheit entgehen, Physikalisches und Kosmologisches, Astrologisches, Theologisches und Philosophisches zu erörtern. Ihn reizt das Thema der Mondflecken. Umständlich legt er dar, wie trotz göttlicher Vorsehung die menschliche Willensfreiheit möglich ist. Aber er erörtert auch abgelegene Fragen, so im Paradiso die Gültigkeit und Austauschbarkeit von Ordensgelübden. Dabei beweist er zwar philosophischen Tiefgang und praktischen Verstand. Aber wir heute haben dieses Problem nur selten. Um die vielfältigen theoretischen Interessen Dantes in unser Verständnis seiner Dichtung zu integrieren, braucht es auch Philosophie-, Theologie- und Wissenschaftsgeschichte, es braucht Kenntnisse der mittelalterlichen Liturgie wie der Astronomie und Astrologie. Dies alles ist unentbehrlich fürs weitere Eindringen und die gelehrte Beschäftigung, aber es darf das freie Lesen nicht verhindern. Dieses hat Vorrang. Am Anfang darf es den Berg historischer Erudition auf sich beruhen lassen; er ist interessant und für ein fachliches Urteil unentbehrlich, aber zuvor und danach muß Dantes Poesie zur Geltung kommen.

6.

Altertümelnde Übersetzungen

Die meisten Übersetzungen lassen Dante älter aussehen, als er ist. Sie glauben zuweilen, Dante einen Gefallen zu tun, indem sie ihm eine antiquierte Sprache verleihen. Sie lassen Dante gern altertümelnd und feierlich reden. Als Karl Streckfuß im Jahr 1824 die erste der heute noch gelesenen Übersetzungen der Hölle vorlegte, machte er auf den Einwand, seine Sprache sei zu modern, das Zugeständnis:

»Das Bild des Originals würde treuer hervortreten, wenn es dem Übersetzer möglich gewesen wäre, die Sprache alterthümlicher zu halten.« Er entschuldigte sich geradezu, daß er in die Sprache der »altdeutschen Poesie« sich nicht genug habe einarbeiten können, um seiner Dante-Übersetzung die gewünschte altertümliche Sprache zu geben. Er gestand aber ein, das archaisierende Übersetzen führe leicht zur »Ziererei«.[792]  

Altertümliche Sprache als Ideal der Dante-Übersetzung – dieses Programm ist im 20. Jahrhundert nicht verschwunden; Rudolf Borchardt hat es mit verbissener Konsequenz noch 1930 verfolgt.

Eine andere Tendenz verfremdet Dante in der Übersetzung noch mehr, nämlich die, ihn ins Hohe zu stilisieren; mancher Übersetzer legte hinein, was er für Poesie hielt, und machte Dante weicher, gefälliger, glatter, als er ist. Andere Übersetzer, wie George und Borchardt, erfanden eine Art Gegensprache gegen das nach konventionellen Mustern gemodelte Lyrische und erschwerten das Verständnis. Auf das Problem der Dante-Übersetzung komme ich zurück.

7.

Grausamkeiten

Wir sind heute an die Darstellung von Grausamkeit gewöhnt, aber es gibt in den tiefsten Höllenkreisen Szenen, die auch für heutige Krimileser hart sind: Aufgeschlitzte Menschenleiber laufen herum mit heraushängendem Gedärme. Menschenkörper verwandeln sich schlimmer noch als Kafkas Gregor zum Käfer. Goethe sprach von Dantes »widerwärtiger, oft abscheulicher Großheit«.[793]  

Mehr als die grausamen Details der Hölle befremdet heute der Gedanke, daß der Gott Dantes den Verdammten endlose körperliche Qualen zufügen läßt, die nicht deren Erziehung dienen, sondern ewig das ›gerechte‹ Urteil exekutieren. Dante zufolge hat Gott den Seelen einen luftartigen Scheinleib verschafft, damit sie unter Feuer und Eis leiden können, und zwar so, daß kein zweiter Tod sie erlöst. Sie rufen nach dem zweiten Tod, z.B. Inferno 13, 118, aber der tritt nicht ein, denn ihre Schmerzen sind so kunstvoll dosiert, daß sie ihren Luftkörper nicht vernichten. Ihr Leiden soll ewig fortdauern. Ist dieses Strafsystem mit der Güte Gottes vereinbar? Man könnte es damit rechtfertigen, daß in der Hölle Dantes keine kleinen Ladendiebe zu finden sind, sondern nur große Untäter, wenn wir von Francesca einmal absehen. Doch das systematische Quälen findet sich auch im Purgatorio: Dort ist es zeitlich begrenzt und soll die reinigende Einsicht fördern, aber immerhin wurden den Neidischen die Augenlider mit Draht zugenäht, weil sie das Glück von Mitmenschen schief angesehen haben (Purg. 13). Dantes göttliche Strafjustiz entspricht nicht unseren Rechtsanschauungen; sie verbindet zu eng ›Gerechtigkeit‹ mit ewiger Strafe, und dabei hatte schon Origenes im 2. Jahrhundert diese Verbindung angezweifelt, aber Origenes wurde im 5. Jahrhundert kirchlich verworfen, und Dante unterwarf sich nicht nur dem gegen Origenes mächtigeren System von Strafe und Schmerzzufügen, sondern entfaltete in dessen Darstellung seine Phantasie. Sein Interesse an Quälerei stört.

8.

Bilder vom Mittelalter ›niederreißen‹

Ich empfehle, erst einmal nachzudenken, was Poesie ist und was man von ihr erwartet. Das ist gewiß ein weites Feld, aber es ist schon etwas, wenn man sich klarmacht: Poesie ist gestaltete Sprache; sie ist geregelter Rhythmus und kunstvoll hergestellter sinnlicher Klang. Sie will nicht nur informieren; sie hat eine andere Sprache als der Alltag. Sie ringt dem gewöhnlichen Sprachgebrauch etwas ab, was dieser nicht kennt.

Sie nimmt den Leser hinein in eine Erfahrung; sie ergreift; sie löst Gefühle und Einsichten aus, manchmal auch Handlungen. Um sie aufzunehmen, ist eine gewisse Lockerung der Seele, eine Befreiung von Alltagszwecken nötig. Vielleicht ist das die Hauptstrapaze, sich freizuhalten, um vier Wochen lang im Jenseits zu wandern und zuzusehen, wie sich die irdische Welt von dort ausnimmt. Für den gesunden Menschenverstand ist eine solche Ablenkung, ein solcher Umweg, verrückt. Aber es ist die Verrücktheit der Poesie, wie sie auch ein dreizeiliges Gedicht von Ungaretti verlangt, erst recht Faust II. Dichten ist ein ›Übermut‹. Dieses Wort sollte der Dante-Leser buchstabieren: Diese Dichtung ist Mut, sie überspringt Gewohnheiten. Sie geht ungewohnt weit. Um es offen zu sagen: Sie ist maßlos: Sie vergöttert Beatrice, und sie wünscht, daß Florenz und Pisa zerstört werden. Aber sie geht auch darüber hinaus. Sie gestaltet diese Exzesse künstlerisch in großer Form. Sie ist Über-Mut.

Ich habe nun so viel von den Schwierigkeiten gesprochen, Dantes Commedia zu lesen. Aber ich habe mit meinem ›Vorspiel‹ auch einen praktischen Vorschlag auf den Tisch gelegt: Der Leser werfe sich auf die canti 5, 26 und 32/33 des Inferno.

Das Ziel ist, Dante als Dichter zu lesen und aufzufassen. Dabei darf er alle zusätzlichen Erklärungen und Fußnoten ignorieren. Beim zweiten Durchgang mag er sie schätzen und zuletzt wieder vergessen.

Ich empfehle als zweiten Schritt der Annäherung an Dantes Commedia den Einblick in die geschichtliche Welt von 1265 bis 1350. Ich gebe ihn im zweiten Kapitel dieses Buches in geraffter Form. Der Leser bekommt so ein faßliches Koordinatensystem, das er später verlassen kann. Er tritt in eine Welt, die anders ist, als die meisten Menschen sich vorstellen, gerade dann, wenn sie sich bemühen, Dante in der ›mittelalterlichen Welt‹ zu denken. Dantes Zeit waren Jahrzehnte rasanter Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung. Städtebewohner machten die Erfahrung realer Armut als Skandal neben dem Reichtum der Kirche. Die franziskanische Bewegung breitete sich aus. Städte reagierten mit dem Bau von Spitälern. Päpste wie Bonifaz VIII. entwickelten ihre Weltmachtideen; sie proklamierten sich zu auch politischen Herren von Kaisern und Königen, aber die gleiche Zeit entdeckte mit Hilfe des Aristoteles die ethischen Grundlagen der weltlichen Macht. Zugleich wurde das Verlangen nach einer ›geistlichen Kirche‹ (ecclesia spiritualis) laut. 1309 verlegte der Papst die Kurie nach Avignon. Um Dante nicht isoliert zu betrachten, auch wegen seiner Wirkungen auf Petrarca und Boccaccio, sollte der geschichtliche Blick nicht bei 1321 stehenbleiben, sondern weitergehen bis etwa 1375, dem Todesjahr Boccaccios:

Ein langanhaltender Boom ging zu Ende mit der Wirtschaftskrise 1340/41, dann kam die Pest von 1349/50. Karl IV. brachte es in Prag zu neuer Kaiserherrlichkeit, von 1346 bis 1378. Aber die kam nicht Italien, sondern Böhmen zugute; über die Hausmachtpolitik des Kaisers wurde am Rhein gemurrt.

Die rasante soziale und intellektuelle Entwicklung von 1250 bis etwa 1350 dementiert einen starken Epochenbegriff ›Mittelalter‹, d.h. ein Konzept, aus dem man irgend etwas ableiten könnte. Es ist besser zu wissen, daß man nicht weiß, was ›mittelalterlich‹ war. Man beginnt dann, sich Situationen, Ereignisse, Personen und Texte einzeln anzuschauen. Wer auf den starken Epochenbegriff ›Mittelalter‹ verzichtet, lernt auf das Reißen der Zeit zu achten, das zwischen 1250 und 1350 von besonderer Heftigkeit war.[794]  

Das ›historische Vorspiel zur Dante-Lektüre‹, das ich empfehle, besteht nicht in einer Kurzbeschreibung ›des Mittelalters‹. Manche älteren Autoren hielten es für ›wissenschaftlich‹, literarische Texte in Zeitalterbilder einzuordnen. Sie nahmen Epochenbilder als Leitlinien der Interpretation. Dante erschien dann als ›mittelalterlich‹, gar als ›der Repräsentant des mittelalterlichen Geistes‹. Andere wollten ihn als Vorboten der Moderne oder stellten dem ›mittelalterlichen‹ Dante Boccaccio als ›modern‹ entgegen. Vittore Branca setzte zum Gegenschlag an und beanspruchte auch Boccaccio als mittelalterlich: Boccaccio medievale, zuerst Florenz 1956.

Solche Zuordnungen galten oft als das eigentliche, das ›wissenschaftliche‹ Erkenntnisziel bezüglich der Dichtung. Aber die geschichtliche und ästhetische Realität deckt diese Operationen nicht. Epochenbilder sind anfechtbar. Wann begann in Cagliari die Renaissance? Die denkerische Aufgabe besteht nicht in der Anwendung vorhandener geistesgeschichtlicher Abstraktionen auf Texte, sondern in deren Freilegung. Es geht ums besonnene Weglassen des ihnen Zugefügten. Lessing machte einmal die Bemerkung, es sei die »Schwachheit der meisten, mehr Gefallen am Aufbauen als am Niederreißen zu finden«.[795]   Natürlich dachte er nicht an blindes Niederreißen, sondern ans Niederlegen von Mauern, die den Blick versperren. Eine solche Mauer war und ist der Epochenbegriff beim Auslegen Dantes. Statt seiner sind Texte zurückzubeziehen auf konkrete Daten, nicht auf Epochenbilder oder Strömungsnamen. Wer weiterkommen will im Verständnis Dantes, legt Text neben Text. Texte spiegeln sich ineinander, empirisch-historisch, ästhetisch und philosophisch. Die großen Vereinnahmungen Dantes – sei’s als italienischer Nationalheros, sei’s als Reichsdenker, sei’s als christlicher Dichter – haben viele Redensarten in die Welt gebracht; sie sind erst einmal zu vergessen zugunsten von sprachlicher und historischer Einarbeitung. Populäre Mittelalterbilder wie die der Harmonie von Kirche und Staat, das Wunschbild von der Übereinstimmung von Glaube und Vernunft oder von einem Leben, das voll war von ›Symbolismus‹, Zahlenmystik oder Templeresoterik, halte ich zunächst einmal fern.

9.

Zunächst die großen Figuren, dann der Rahmen

Der Leser der Commedia wird mit dem Anfang, also mit dem Inferno, beginnen, und darf sich für den Anfang eine personenorientierte, fast impressionistisch-leichte Auswahllektüre erlauben. Ich habe ihm vorgeschlagen, mit den canti 5, 26 und 32/33 zu beginnen. Und dabei alle historischen oder sonstigen Details zunächst auf sich beruhen zu lassen. Sich ›Informationen‹ zu beschaffen, ist heute leichter, als sich zweckfrei Dantes Erfindungen zu überlassen. Die genannten canti zeigen, wie Dante vom Jenseits aus die irdische Welt sah. Hier spricht Dante nicht als Ideologe oder Theologe, sondern als Schöpfer plastischer Gestalten. Diese Texte zerstören das Einheitsbild von ›Mittelalter‹, diese moderne, diese nostalgische oder despektierliche Abstraktion. Besser spricht man von Jahren und Jahrzehnten, von einzelnen Zentren, Autoren und Kulturlandschaften. Das ›Mittelalter‹ gab es nicht. Reißen wir diese Mauer ein. Widmen wir uns im Detail Dantes sprachlicher Kunst, seinen Metaphern und sinnlichen Klängen, seinen politischen Visionen und philosophischen Spekulationen.


Das sei der erste Schritt: Die eindrucksvollen Figuren des Inferno wahrzunehmen. Wer dabei bliebe, verfiele der romantischen Dante-Rezeption, die sich vor allem der Francesca annahm. Die Isolierung der großen Gestalten, als erster Schritt empfehlenswert, ist im zweiten Schritt sanft zurückzunehmen; der Wanderer steigt auf, vom Inferno durch das Purgatorio zum Paradiso. Er begreift zunehmend, daß Hölle, Läuterungsberg und Paradies nicht das Jenseits meinen, sondern die irdische Welt. Auf den ersten Blick handelt die Commedia zwar vom Schicksal der Seelen nach dem Tod. Bei näherem Hinsehen zeigt sie Weltverhältnisse wie Liebe, Familie oder Wissenwollen, in denen Menschen leben und die sie vernünftig oder unvernünftig ordnen.

Es handelt sich um canti, um Gesänge. Es sind, Dante zufolge, die Musen selbst, die sie singen. Der freie Leser wird sich klarmachen, daß er in eine Welt erfundener Wahrheit eintritt. Der Fachmann muß sich vorher überlegen, ob und wie weit er Gesängen die Schrauben seiner fachwissenschaftlichen Terminologie anlegen darf. Wer sie ins Deutsche überträgt, sollte sich fragen, ob er lyrische Gedichte in Prosa übersetzen darf. Fraglich ist weiterhin, ob – das ist nun in Distanz zu Curtius gesagt – ob ein prophetisches Werk, das zugleich eine politische Intervention sein will, aus Mosaiksteinen antiker, aber für überzeitlich gehaltener Topoi zusammengesetzt ist. Dann ertränke die Commedia im Überzeitlichen. Dann wäre der zweite Schritt der von mir vorgeschlagenen Einführung – die Kenntnis der historischen Welt, aus der Dante kam und gegen die er sich stellte – überflüssig. Dann hätte Geschichte mit Dantes ›Poesie‹ nichts zu tun. Aber so individuell die Commedia konzipiert und so poetisch sie gestaltet ist, sie ist auch ein Produkt der Florentinischen Krise und des Exils. Sie ist gerade als unableitbare Poesie ein eminent historisches Konstrukt. Und sie errichtet ein neues Weltgebäude mit antiken Bausteinen. Aber das Wort ›Weltgebäude‹ ist einseitig bis falsch: Dantes Buch ist ein ethisch-politischer Aufruf in den Zerwürfnissen Italiens zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Es geht um Praxis. Um Erneuerung des daniederliegenden Italien, dem die moralische Führung fehlt. In dieser Notlage beansprucht die Poesie Lebensleitung. Sie übernimmt die Stelle, die durch Korruption der Kirche vakant geworden ist. Sie führt ein poetisches Spiel auf und hält dabei mehrere Bälle – Philosophie, Prophetie, Analyse des politischen Status quo, Erneuerung der Antike, Verwirklichung des Franziskanismus – immer gleichzeitig in der Luft.

Dies will studiert, nicht nur genossen werden. Daher braucht es einen zweiten Durchgang. Dabei ist über die einzelnen Episoden hinauszugehen und zunächst auf den Bauplan zu achten: Drei Teile, 100 Gesänge. Hinab und hinauf geht es in Stufen: Die Verdammten stürzen hinunter in die Hölle nach Lasterkatalog; der Aufstieg im Läuterungsberg orientiert sich an Tugend- und Lasterbildern; die Stufen des Paradieses ergeben sich aus Sternkreisen oder Himmelsschalen.

Die Commedia ist streng strukturiert. Daher braucht der Leser im zweiten Anlauf die Baupläne der geordneten drei Reiche. Dabei kommt er – phasenweise – nicht um die schematischen Umrisse herum, die in Dante-Bildern eine große, wohl zu große Rolle spielen. Die Schemata der Höllenkreise, der Purgatoriostufen und der Paradiesesränge brauchen wir, aber sie sind dann wieder zurückzustellen zugunsten der Individuen und der theoretischen Reflexion, der Reimschönheit und des Spiels der Metaphern. Das Verhältnis von übergeordnetem Ordnungsrahmen zur poetischen Invention und zu den Individualitäten ist sorgfältig auszutarieren. Hier lauern Gefahren, die ich im einzelnen vorführen werde.

10.

Dante genießen

Aber zuvor möchte ich anleiten, die Commedia zu genießen. Sie will ernst, aber nicht bärbeißig gelesen werden. Sie hat die Heiterkeit eines vollendeten Kunstwerks. Sie hat eine mathematische Struktur, aber es wird gut sein, nicht mit dem Zählen und Rechnen anzufangen, sondern Helligkeit und Ebenmaß zu bewundern und sich zu freuen an schönen, charakteristisch-dantesken Einzelheiten. Ich greife probeweise einige heraus:

Im Purgatorio (5, 130–136) drängen sich die Seelen an Dante heran, wie an jemanden, der im Lotto das große Los gezogen hat. Alle wollen von ihm Informationen, alle wollen, daß er auf der Erde Menschen finde, die für ihre arme Seele beten. Mit großer Selbstverständlichkeit erzählen sie ihm ihre Geschichte, an deren Wichtigkeit sie nicht zweifeln. Anders Pia, von der wir sonst fast nichts wissen. Sie ist ermordet worden von ihrem Ehemann; man sagte, er habe sie aus dem Burgfenster stoßen lassen. Wie kurz, wie prägnant erzählt sie das:

»Ach du, wenn du zur Welt zurückgekehrt bist und dich ausgeruht hast von dem weiten Weg«, … »erinnere dich an mich. Siena gebar mich, die Maremma tötete mich. Mehr weiß der, der mir zuerst den Ring anlegte und mich zu seiner Frau gemacht hat mit seinem Wappen.«[796]  

Wie die beiden Männer vor ihr bittet sie Dante um Hilfe, aber zuvor gibt sie ihm den Rat, er solle sich zuerst ausruhen nach seiner beschwerlichen Reise. Die sienesische Sängerin Gianna Nannini hat 2007 zusammen mit der Schriftstellerin Pia Pera ein Album veröffentlicht, in dem sie die Geschichte der Pia weiterdenkt und besingt: Pia come la canto io.[797]  

Oder Dante kritisiert den Zustand der Studien. Alle möchten Juristen oder Mediziner werden; sie wollen Macht ausüben und durch Wissen Geld verdienen. Dante sagt das so: Sie wollen herrschen, entweder mit Gewalt oder mit Sophismen (Par. 11, 6). Das ist eine von Dantes Kurzformeln für die verkehrte akademische Welt. Schroff, knapp, dantesk.

Strukturen und Hierarchien, die Personen und ihre Situationen, dramatische Szenen und stille Metaphern bilden das Gewebe der Commedia; aber Dante redet auch oft von sich selbst. Diese autobiographischen Zeilen, diese Sorge um seine Zukunft und der Schmerz, aus Florenz vertrieben zu sein, das unterlegt dem gewaltigen Aufbau der Commedia den schlicht-menschlichen Ton der Trauer und des Ausgeschlossenseins. Es geht immer auch um Dante, dessen Namen nur ein einziges Mal fällt, der aber von sich nicht schweigen kann. Dem Wanderer Dante wird mehrfach das bleibende Exil angekündigt – durch Ciacco, Farinata, Brunetto und Cacciaguida.

Es gibt Dante-Darstellungen, die ihre Wissenschaftlichkeit übertreiben und das Affektive umgehen. Sie sprechen wenig vom Leiden des Exils und kaum von der Liebe zu Beatrice, so sehr sind sie an Hierarchie und Ordnung, an Liturgie- und Bibelanklängen orientiert, neuerdings an Kontingenz oder dem Problem der Zeit. Dagegen stehen allein schon die vielen Interjektionen in Dantes Sprache. Wer sich aufgehalten hat bei schönen Versen und poetischen Erfindungen, mag dann hingehen zu Struktur und Rahmen, zur Grammatik, zu Vergil-Zitaten, geschichtlichen Details und Dantes Philosophie, er sollte dann aber zurückkehren zu einzelnen Gestalten, nicht nur zu Hauptfiguren wie Beatrice und Vergil, sondern auch zu denen an der Seite wie Pia oder zu der namenlosen schönen Frau im 28. canto des Purgatorio, von der wir später erfahren, daß sie Matelda heißt.

Alle Dichtung bittet den Leser, zurückzukehren zum Text, zu Bildern und sinnlichem Klang. Wissenschaftler neigen zu der Meinung, je begrifflicher, je allgemeiner, je bildloser eine Sprache sei, um so höher stehe sie. Interjektionen und sinnliche Effekte wie ein Ach! gehören nicht in ihre Prosa. Aber die Dichtung wird sinnlicher, je geistiger sie wird. »Habe nun, ach, Philosophie …« Wie oft ruft Dante Oh oder Ahi. Akademische Qualifikationsarbeiten vergessen oft die Sprache der Affekte und überhören die Zonen des Schweigens. Der freie, der nicht-professionelle Leser genieße den Imaginationsreichtum, die Metaphern und den schlichten Wohlklang des Reims. Metaphern verknüpfen das Jenseitigste mit dem Irdischen. Zum sinnlich schönen Klang zwei kurze Beispiele:

Dante trifft im zweiten canto des Purgatorio den Jugendfreund, den Sänger Casella, der Gedichte Dantes vertont hat. Der bittet ihn, einen Augenblick stehenzubleiben. Dante erkennt ihn und bleibt stehen. Dies ist die Szene (2, 76–89):

Eine von ihnen sah ich vortreten, um mich zu umarmen, mit so viel Gefühl, daß ich bewegt war, dasselbe zu tun. Oh weh, ihr Schatten, leer, außer für den Anblick! Dreimal umschlang ich ihn mit meinen Armen, und dreimal nahm ich sie vor meine Brust zurück. Ich entfärbte mich, glaube ich, vor Erstaunen, weil der Schatten lächelte und sich zurückzog; ich drängte, ihm folgend, weiter zu ihm hin. Mit sanfter Stimme bat er, ich solle stehenbleiben, und da erkannte ich, wer er war, und ich bat ihn, ein wenig zu bleiben und mit mir zu reden. Er antwortete mir: »Wie ich dich geliebt habe in meinem sterblichen Leib, so liebe ich dich jetzt, vom Leib gelöst.«

Es kommt hier darauf an, wie die Bitte des Casella in Dantes Bericht klingt, nämlich so (2, 85–89):

Soavemente disse ch’io posasse,
allor conobbi chi era, e pregai
che, per parlarmi, un poco s’arestasse.
Risposemi: »Così com’io t’amai …«

Das kann keine deutsche Übertragung wiedergeben: Der ungewöhnliche Reim von arestasse auf posasse beruht auf den scharfen Konsonanten, wird aber ausgeglichen durch den vollklingenden Doppelvokal ai, der im Reim wiederkehrt. Freundschaft, Musik, Jugend, das alles ist in diesen Versen sinnlich präsent. Der Reim schafft eine Atmosphäre der Ruhe, des Innehaltens und des Genusses. Diese Verse reden nicht über die Freundschaft, sie sind das Glück der Freundschaft.

Aber der Reim schafft nicht nur Zusammenklang; er erzeugt auch durch das Zusammentreffen des Nichtpassenden ironische, skurrile Effekte. Im Purgatorio (24, 20–24) trifft Dante die Schlemmer, darunter Papst Martin IV. Er war als Feinschmecker dafür berühmt, daß er den Aal aus dem Lago di Bolsena in Vernaccia anbraten ließ. Im Purgatorio fastet er nun. Der Feinschmecker-Papst wird mit folgenden Worten vorgestellt:

… das Gesicht dort hinter ihm, mehr als andere wie von Mückenstichen übersät, hielt die heilige Kirche in seinen Armen, er stammte aus Tours und reinigt sich durchs Fasten von den Aalen aus Bolsena und vom Vernaccia.

und Dante sagt das so; und man beachte die Reimworte:

… e quella faccia
di là da lui più che l’altre trapunta
ebbe la Santa Chiesa in le sue braccia:
Da Torso fu, e purga per digiuno
L’anguielle di Bolsena e la vernaccia.

Der Reim bringt nicht nur Harmonie, er verstärkt die Ironie und verschärft die Attacke: Die Arme, braccia, des Heiligen Vaters sollen die verfallende Kirche stützen; sie sollen segnen, aber sie reimen sich auf vernaccia. Dante verachtet Genießer, aber er sagt das kühl und spöttisch, fast wie Heinrich Heine.

Commedia und Einladungsband: I.Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch II.Einladung, Dante zu lesen
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