Eins:
Vorspiel in der Hölle
I.
Der Kuss
1.
Mord in Rimini
Dante hat um 1320, also vor etwa siebenhundert Jahren, die Commedia abgeschlossen. Die Last dieser Jahrhunderte liegt auf ihr, aber davon sei erst später die Rede. Ein heutiger Leser braucht, meine ich, zuerst einen spontanen Zugang; er darf zunächst einmal alle antiquarischen und sprachlichen Hürden überspringen. Damit steht er vor der Frische, der Heiterkeit und der Majestät eines großen Kunstwerks. Ich schlage ihm vor, wie mit einem Sprung in Dantes Welt einzudringen und sich erst danach nach der Hilfe umzusehen, die er für das vertiefte Verständnis braucht. Ich lade ihn ein zu einem vorbereitenden Spiel, zu einem Vor-Spiel. Ich stelle ihm drei Szenen aus Dantes Hölle vor Augen, mit denen er beginnen kann, den wirklichen Dante kennenzulernen.
Die erste Geschichte handelt von Ehebruch und außerehelicher Liebe. Dantes Hölle ist ein riesiger Erdtrichter, der sich bis zum Erdmittelpunkt erstreckt und in Kreise oder Terrassen eingeteilt ist. Dante, von dem antiken Dichter Vergil begleitet, trifft Francesca von Rimini im zweiten Kreis der Hölle. Die Dame wurde von ihrem Ehemann in flagranti überrascht und umgebracht. Sie ist nächst Beatrice die berühmteste Figur aus Dantes Werk; bis in die Gegenwart haben Dichter, Komponisten und Maler sich mit ihr beschäftigt. Wie Dante, der Jenseitswanderer, sie kennenlernt, beschreibt der fünfte Gesang des Inferno. Was vorausging und was folgt, erzähle ich später.
Dante wird, wie gesagt, von Vergil begleitet. Dieser hat auf Bitten Beatrices seinen Höllenaufenthalt im ersten Kreis unterbrochen, um ihren Freund durch Hölle und Fegefeuer zu führen. Die beiden Dichter sind gerade dabei, vom ersten zum zweiten Höllenkreis abzusteigen. Von hier an hat die Hölle schon den Charakter von Straflager und Foltercamp. Je weiter es in die Tiefe geht, um so schwerer werden die Strafen; um so größere Untaten werden geahndet.
Am Eingang zum zweiten Kreis sitzt Minos, der Höllenrichter. Innen treibt der Sturmwind die Wollüstigen in der Luft vor sich her. Dante, der Wanderer, begreift: Der Wirbelsturm entspricht den Stürmen der Leidenschaft. Er wirbelt die fleischlichen Sünder vor sich her, Seelen also, die, wie es heißt, ihre Einsicht dem sinnlichen Trieb untergeordnet haben.
Minos hat die Aufgabe, den Eingang zu bewachen und die ankommenden Sünder auf die für sie gerechten Höllenplätze zu befördern. Er wirbelt sie um so viele Stufen nach unten, wie oft er sich mit dem gewaltigen Schwanz ringelt. Minos gehört nicht zum theologisch-korrekten Personal. Er stammt aus der antiken Dichtung; Dante hat ihn aus der Aeneis des Vergil importiert. Er hat ihn dabei verändert: Bei Vergil war er der Sohn des Zeus, König von Kreta, der weiseste und strengste Richter. Dante macht aus ihm ein Halbtier, einen urtümlichen Drachen mit gewaltiger Stimme und einem ungeheuren Schwanz. Er gibt Minos eine wichtige Aufgabe: Er erspart es Gott dem Herrn, als Platzanweiser für Höllenkreise aufzutreten.
Der Wanderer begreift die Strafsituation und bittet Vergil, ihm die einzelnen Personen zu erklären, die der Sturm an ihm vorbeitreibt. Es sind Wollüstige aus allen Völkern, Frauen wie Männer, Personen aus der Antike und aus zeitgenössischen Romanen. Es sind sehr viele; Dantes Hölle ist dicht bevölkert. Der Wanderer lernt einige berühmte Sexsünder kennen und ist erschüttert. Mitleid (pietà) erfaßt ihn so, daß er fast zusammenbricht (72).[776]
Große Scharen läßt er an sich vorbeiziehen, bis er ein Paar sieht, das zusammenbleibt. Er verwechselt nicht das Liebespaar mit den vielen Sexbesessenen und drängt von sich aus darauf, mit ihnen zu reden. Er ruft ihnen seine Bitte zu; sie lösen sich von den vielen Getriebenen; sie kommen aus eigenem Antrieb, nicht als Objekt des Strafsturms. Sie wollen, wie Dante, reden und zuhören. Sie verlassen für eine kurze Selbstdarstellung den Strafrahmen. Der Sturm legt sich für ihr Gespräch. Die beiden nehmen das Interesse und die Anteilnahme Dantes dankbar wahr. Francesca würde gern für Dante beten, damit er Frieden fände (91–93). Allein Francesca redet für das Liebespaar. Für sie, die ewig Gejagte, ist Frieden ein hoher Wert. Sie umschreibt ihren Geburtsort Ravenna als den Ort, wo der Fluß Po mit seinen Nebenarmen Frieden findet (99). Sie weiß, daß ihr Gebet beim König des Universums kein Gehör fände. Sie leidet darunter. Sie ist besser, als es die Höllengesetze erlauben. Diese gestatten keine Kommunikation zwischen Gott und den Verdammten.
Der Name ›Gott‹ darf in der Hölle nicht genannt werden. Daher kommt es zu merkwürdigen Umschreibungen. Vergil mäßigt den Zornausbruch des Minos, indem er sagt, die Höllenreise Dantes werde dort gewollt, wo man kann, was man will (22–23). Dante bittet das Liebespaar, zur Unterhaltung näher zu kommen, wenn ein anderer es nicht verbietet, s’altri nol niega (81).
Francescas Ehebruch und die Ermordung des Paars liegen zeitlich lange zurück. Dante, der Verfasser, läßt sie nicht aus der Sicht eines Augenzeugen detailliert schildern, sondern von Francesca kurz zusammenfassen. Sie nennt nicht einmal den Namen des Mannes neben ihr. Der Autor nutzt den psychologisch-literarischen Effekt aus, daß er allein mitteilen kann, was sich in der Todesstunde der Liebenden im Fürstenhaus von Rimini abgespielt hat. Vor allem aber läßt er Francesca sich aussprechen. Sie sagt, was Liebe ist. In dreimal drei Versen (100–108), also in der für die Commedia charakteristischen Form der Terzine, erklärt sie ihr Geschick. Sie spricht von Amor, dem mächtigen Liebesgott, der ›edle‹ Herzen ergreift. Er ist in Menschen zu Hause, die sich nicht schonen. Ein ›edles‹ Herz gehört ihm. Er schafft Wechselseitigkeit. Und er führt in den Tod.[777]
Wer liebt, lebt in der Tristan-Welt; er lebt gefährlich, aber er weiß das und mißachtet die kleinliche Vorsicht. Also nicht das Ermordetwerden ist die adäquate Strafe, sondern die Verbannung in den zweiten Kreis der Hölle. Das physische Fortleben sieht Dante nicht als Wert an sich.
Francescas Liebesphilosophie löst im Höllenbesucher tiefes Grübeln aus. Vergil fragt ihn, was er denke, und in seiner Antwort spricht Dante nicht von Schuld, sondern klagt, daß ein so süßer, schöner Anfang zu solchem Elend geführt hat. Er bedenkt das menschliche Leben, nicht die Bußordnung der Hölle. Aber dann wechselt er das Thema und stellt die Frage, woran die beiden Liebenden erkannt haben, daß sie sich lieben, ab Vers 118. Diese Frage nach einer psychologischen Finesse wäre in der Hölle als bloßer Strafanstalt unangebracht. Sie lenkt vom Zweck der Strafe ab. Sie ist voyeuristisch, nebensächlich, unfromm. Sprach Francesca zuerst von der Macht des Liebesgottes, so spricht sie jetzt von einem erzählten Kuß und seinen Folgen: Sie lasen ohne Argwohn, ohne jede Absicht einen französischen Liebesroman, und als sie an die Stelle kamen, wo der Liebhaber Lancelot die Frau des Königs Artus küßt, da küßte Francescas Liebhaber, am ganzen Leib zitternd, sie auf den Mund. An diesem Tag lasen wir nicht weiter. Dieser Satz ist mit Recht berühmt. Kurz und eindeutig bezeichnet er in aussparender Form die Freuden der Liebe.
Während Francesca spricht, weint ihr Freund nur. Dante bricht zusammen, von Mitleid und Grauen überwältigt:
Ich stürzte hin, wie ein toter Körper fällt.
E caddi come corpo morto cade.
Dieser Schlußvers mit dem dreifachen harten k-Laut und den dunklen Vokalen a und o kann allein schon einen Menschen zum Lernen des Italienischen bewegen. Zugleich beweist er, daß Poesie sich nicht übersetzen läßt.
2.
Gedränge der Erklärer
Dante, der Höllenbesucher, hört Francesca an und kippt um. Dante, der Schriftsteller, ersetzt den Ausfall nicht. Auch er bleibt stumm. Er gibt keine eigene Bewertung ab. Was zurückbleibt, ist Schmerz und Trauer, wie er zu Beginn des sechsten canto (6, 1–6) sagt. Manchen Leser stört dieser offene Schluß. Er hat sich auf das Liebespaar eingelassen und will ein abrundendes Urteil hören, aber was der Text bietet, ist Ohnmächtigwerden und Trauer. Das ist der Verzicht auf Erklärung. Der Autor selbst hat keine oder will keine. Er gibt am Ende kein Urteil ab. Er hat eine Erfahrung erzählt und gibt zu denken. Das hat manchen Leser gereizt, diese Geschichte nicht offen stehenzulassen, sondern ihr an Dantes Stelle ein definitives Resümee zu verschaffen. Dagegen muß der Leser einen besonnenen, keinen raschen und wilden Widerstand entwickeln. Dazu ist es nützlich, die wichtigsten Arten solcher Dante-Verbesserungen zu kennen:
Viele Menschen lieben es zu moralisieren. Vor allem, wenn es nicht sie selbst, sondern fremde Personen betrifft. Das Schuldzuweisen ist die anfängliche Form, in der sie Allgemeines denken. Es ist eine wichtige Denkstufe, aber es qualifiziert nicht schon zum Dante-Verständnis. Und darüber nachzudenken, lehrt die Francesca-Geschichte. Sie warnt vor der naheliegenden Versuchung, beim Hören der Francesca-Erzählung und anderer Höllen-Episoden, den Schuldaspekt zu betonen. Dante selbst tat das nicht. Er zeichnet keineswegs Francesca als eine zu Recht bestrafte Sünderin. Er erklärt sie auch nicht für unschuldig. Ob sie heilig oder böse ist, er leidet mit der Unglücksfrau. Sein letztes Wort ist sein Verstummen. Er benennt eingangs wie im Vorbeigehen ihre Verfehlung: Sie gehört zu denen, die ihre Leidenschaft über die Einsicht haben siegen lassen, aber er macht ihre Bestrafung einzig auf poetische Art plausibel, nicht quasi-juristisch oder quasi-theologisch. Er spielt nicht den Advokaten Gottes, der nachweist, daß die Strafe gerecht ist. Kein Wort fällt in dieser Richtung. Das Interesse des Dichters besteht vielmehr darin, Francesca als sympathische, sensible und nachdenkende Frau zu zeichnen. Das beginnt schon damit, wie er das Liebespaar herankommen läßt: Die große Schar der Sexsüchtigen läßt er wie Stare, andere Sünder wie Kraniche vorbeiziehen, Francesca und ihr namenloser Freund gleiten sanft wie Tauben heran. Sie lenken selbst ihre Bewegung. Sie kommen, weil sie kommen und weil sie sprechen wollen. Francesca bedankt sich in höflichen Wendungen und erweckt in sich ein frommes Gefühl, von dem sie als theologisch Gebildete weiß, daß es in der Hölle sinnlos ist. Sie würde gern für Dantes Frieden beten.
Dann erklärt sie ihr Geschick aus der Übermacht des Liebesgottes Amor. Dante widerspricht ihr darin nicht. Er läßt ihr Liebeskonzept einfach stehen. Wer das Lesen von Dichtung mit dem Suchen nach Verfehlungen verwechselt, kann dagegen vorbringen, Francesca rede sich nur heraus. Dante als Moralphilosoph verlange von ihr, ihre erotische Konstitution der Einsicht unterzuordnen. Tatsächlich dachte Dante so; er spricht das im 18. canto des Purgatorio auch aus. Aber der charakteristische Textbefund von canto 5 ist nicht der, daß Dante seine philosophische Ansicht hier entwickelt oder auch nur andeutet, daß er also die Willensfreiheit gegen psychologischen und astrologischen Determinismus verteidigt, sondern daß er diese Ansicht hier nicht vorbringt. Dantes Francesca-Erzählung mit Hilfe von anderen Texten, und seien es die Dantes, zu verbessern, ist nichts anderes als das hartnäckige Festhalten am unpoetischen moralistischen Standpunkt, der nicht tiefsinniger wird, wenn er sich theologisch abstützt.
Aber verlangt nicht Dantes Theologie die Schuldermittlung? Er hält Gott für weise und gerecht; er glaubt, Gott habe die Hölle aus Liebe zur Gerechtigkeit eingerichtet. Das sagt die Überschrift des Höllentors (Inf. 3, 1–6). Muß er dann nicht auch überzeugt sein, daß Francesca als fleischliche Sünderin (5, 38) zu Recht in der Hölle leidet? Er müßte, antworte ich, aber er macht von dieser Überzeugung hier keinen Gebrauch. Er sinkt stumm zusammen. Seine Theologie hilft ihm nicht dagegen. Seine Wahrheit ist jetzt, am Ende des canto 5, das Mitleiden fast bis zum Tod. Schon als Vergil die Namen der großen Liebenden nannte, war er dem Zusammenbruch nahe (72). Aber jetzt, nach Francescas Erzählung, verstummt der Theologe Dante gänzlich.
Das heißt nicht, daß Dante, der Verfasser, keine theologische Konzeption mehr besitze. Aus Purgatorio 18 läßt sich seine Überzeugung herbeizitieren, Menschen könnten mit Vernunft und Willen der Macht der Sterne und der Veranlagung widerstehen, aber Dante hatte die höhere poetisch-theologische Einsicht: Gott strahlt uns in allem, was ist, entgegen, hier mehr, dort weniger (Par. 1, 1–6). Genau das beweist Francesca: Sie ist nicht nur Sünderin. Sie erschöpft sich nicht darin, eine Verdammte zu sein. Sie zeigt in menschlicher Form die göttlichen Qualitäten von Einsicht und Liebe. Dantes Theologie beschränkt sich nicht auf die Zumessung von Schuld und Sühne; sie denkt etwas mehr als Minos denken muß, um sein Amt gerecht auszuüben. Dies ist nur der Ausgangspunkt, von dem aus sie ihre Kraft anfängt zu entwickeln. Diese höhere Theologie und Dichtkunst zeichnet die Ehebrecherin als einen so liebenswerten Menschen, daß die Schuldzuweisung zwar nicht geleugnet, aber poetisch vergessen oder vielmehr individualisiert überboten und aufgehoben wird. Dante erbringt den Tatsachenbeweis, daß Poesie dies kann. Sonst wäre Francesca eine Ehebrecherin wie Millionen andere. Das außerordentliche Interesse, das ihr in der Kulturgeschichte Europas schon entgegengebracht worden ist, würde unbegreiflich. Wer Theologie mit dem Auffinden des Schuld-Strafe-Zusammenhangs verwechselt, verfehlt zugleich Dantes Theologie und Poesie. Die großen Theologen des Mittelalters kannten diese Banalisierung und Moralisierung des Gottesverhältnisses nicht. Dante hat keineswegs als ›mittelalterlicher‹ Mensch so denken müssen; er fordert de facto nicht auf, den Francesca-Gesang mit dem banal-theologischen Gedanken der gerechten Strafe zu ergänzen. Eine solche Korrektur zerstört das Beste, das der Francesca-Episode zu entnehmen ist, nämlich die einfache Einsicht, daß sie im Inferno die am wenigsten Böse ist und daß uns in ihr Einsicht und Liebe des ersten Grundes entgegenstrahlen. In ihr etwas weniger, in Beatrice etwas mehr. Nicht daß der Strafgedanke hier völlig fehlt, nur wird er untergeordnet und am Ende poetisch verdrängt. Der canto 5 lehrt das Überwinden des Moralisierens, nicht dessen Erstarren vorm factum brutum der Strafzuweisung. Francesca, die beten will, lebt nicht außerhalb des Unendlichen.
Diese poetisch-spekulative Pointe läßt sich auf verschiedene Weise verfehlen oder zurückdrängen. Der eine oder andere Autor hält sich nur zu gerne beim Genuß des moralischen Urteilens über andere auf. Er erreicht dies auch mit der Argumentation, Dante steuere mit seiner ablenkenden Frage, woran die Liebenden die Wechselseitigkeit ihrer Liebe erkannten, auf das Lesen französischer Liebesromane zu. Er wolle zeigen, wie verderblich solche Bücher wirken: Auf eine Stunde Lesegenuß folge ewige Höllenstrafe. Sie hätten Francesca den Kopf verdreht, so ähnlich wie Don Quijote seine Verrücktheit den Ritterromanen verdanke. Dieses Argument läßt sich noch biographisch ausbauen: Dante hatte als Verfasser von Liebeslyrik begonnen. Sein bester Freund war Guido Cavalcanti, dessen Auffassung von Liebe entspreche Francescas Konzept von der Liebe: Liebe als übermächtige Passion unterwirft sich das Denken und führt zum Tod. Dante kritisiere die französischen Liebesromane und damit eine frühe Stufe seiner poetischen Entwicklung; er treibe Literaturkritik als Selbstkorrektur. Er verabschiede sich in canto 5 von seiner ersten Liebeslyrik, indem er ihre tödlichen Folgen und ihre ewige Bestrafung zeige. Er distanziere sich von einer Konzeption der Liebe und der Lyrik, die er früher mit Guido geteilt habe.
Nun hat Dante tatsächlich nicht immer dasselbe gedacht. Er hat immer wieder neue Motive entwickelt und frühere Äußerungen kritisiert. Gerade in der Commedia läßt sich das mehrfach feststellen. Die Philosophie des Verfassers der Commedia ist gewiß nicht identisch mit der Liebesphilosophie Francescas: Die Liebe Francescas führt zu Tod und Hölle; die Liebe zu Beatrice führt in den Himmel. Der platonische Eros bringt die Seele in ihre Sternenheimat zurück. Ähnlich dachte der reife Dichter, aber so denkt nicht seine Francesca. Der Kontrast ist offensichtlich. Ich leugne ihn nicht, nur lenkt auch diese biographische Verbesserung des Dante-Textes, die hypothetisch bleibt, vom Wesentlichen ab, das zutage liegt. Sie wiederholt die moralistisch-verengte Sicht, Dante tadle die nicht-jenseitsorientierte Liebe. Das ist der alte Moralismus, nur literarkritisch verstärkt. Er steckt jetzt Francesca in die Hölle, weil sie, von Liebesromanen verwirrt, ihrer Liebe die falsche, die diesseitige und pessimistische Deutung gebe. Die Erklärung, Dante verurteile hier Liebesromane oder die frühere Liebeskonzeption Dantes und Guidos, fügt dem poetischen Text eine weitere Ergänzung hinzu, die Dante nicht ausgesprochen hat. Hätte er dies als Ergebnis deklarieren wollen, hätte es ihm an Ausdrucksmöglichkeiten nicht gefehlt. Das beweisen seine anderen Selbstkorrekturen. Das entscheidende Faktum, das der Leser aushalten muß, ist: Dante hat seine Unterhaltung mit Francesca nicht zur Rechtfertigung des göttlichen Strafurteils genutzt und hat als Verfasser keine Selbstkorrektur ausgesprochen, was er leicht hätte tun können. Was zählt, ist Dantes Inhalt, nicht unsere Vermutungen und hypothetischen Zugaben. Seine Dichtung dient nicht primär autobiographischen Korrekturen, sondern zeigt die großen Realitäten, die unser Leben bestimmen. Zu diesen Weltmächten gehört die Liebe als Passion. Sie ist gefährlich und kann den Tod bringen, aber sie herrscht nun einmal in ›edlen Herzen‹, die nicht um ihre Selbsterhaltung besorgt sind. Dies übersieht, wer sein Denken auf die Suche nach Verfehlungen oder nach biographischen Brüchen dressiert hat. Dichtung ist Welterkenntnis. Bei Dante ist sie Welterkenntnis als die Erkenntnis Gottes, die uns hier weniger, dort leuchtender entgegentritt. Jedenfalls erfindet Dante mehr Verse, um die Macht Amors zu beschreiben, als zu erklären, warum Francesca zu Recht in der Hölle steckt.
Es herrscht Gedränge bei den Erklärern der Francesca-Erzählung. Soziologische und frauenrechtliche Gesichtspunkte erhalten ihr Recht. Amerikanische gender studies fragen nach Francescas Rolle als Ehefrau.[778] Sie wurde aus politischem Kalkül nach Rimini verheiratet. Nach ihren Gefühlen hat niemand gefragt. Verändert das nicht ihre Affäre? Ihre Schuld wird kleiner. Das Verhältnis von Tat und Strafe konnte ja auch Dante nicht plausibel machen.
Es waren nicht erst moderne Feministinnen, die Francesca in diesem Sinn entlasten konnten. Das ist eine erstaunliche Tatsache, die belegen muß, wer sie behauptet. Hier ist der Beweis: Giovanni Boccaccio, der die ersten öffentlichen Vorlesungen zur Erklärung der Commedia gehalten hat, trug in der Badia von Florenz 1373 folgende Sätze zur Erklärung der Vorgeschichte der Francesca vor.[779] Ich gebe sie in meiner deutschen Erstübersetzung wieder:
147 Man muß wissen: Diese Frau war die Tochter Guidos des Älteren von Polenta, des Herrn von Ravenna und Cervia. Zwischen ihm und den Herren Malatesta von Rimini hatte lange verheerender Krieg geherrscht, aber dann kam es doch dazu: Einige Vermittler verhandelten und es wurde zwischen ihnen Frieden geschlossen. Damit dieser noch sicherer werde, wünschten beide Parteien, daß er durch Heirat gefestigt werde, und das Ergebnis der Verhandlungen war, daß der genannte Herr Guido seine junge und schöne Tochter, die Dame Francesca, dem Gian Ciotto zur Frau geben sollte, dem Sohn des Herrn Malatesta.
148 Nachdem einige Freunde dieses Herrn Guido davon erfahren hatten, sagte einer von ihnen zu Herrn Guido: »Bedenkt wohl, was Ihr da macht. Wenn Ihr Euch nicht vorseht, könnte Euch aus dieser Hochzeit Ärger erwachsen. Ihr müßt wissen, wer Eure Tochter ist. Sie ist ein selbstbewußt-stolzer Geist (ell’ è d’altiero animo), und wenn sie den Gian Ciotto zu sehen bekommt, bevor die Ehe vollzogen ist, dann erreicht weder Ihr noch sonst jemand, daß sie ihn zum Mann haben will. Und deshalb, wenn Ihr mir zustimmt, würde ich meinen, es sei folgender Weg einzuschlagen: Gian Ciotto sollte nicht selbst hierherkommen, sie zu heiraten, sondern einer seiner Brüder sollte zu uns kommen, der sie als Vertreter des Gian Ciotto in dessen Name heiraten soll.«
149 Dieser Gian Ciotto war ein Mann mit großen Plänen, und er erwartete, nach dem Tod des Vaters werde er als Herrscher zurückbleiben, und, so widerlich und wacklig er aussah, so gierte er danach, daß er und nicht einer seiner Brüder der Schwiegersohn des Herrn Guido werde. Aber der erkannte, daß es so kommen werde, wie sein Freund ihm klargemacht hatte, und ordnete heimlich an, daß alles so eingerichtet werde, wie sein Freund geraten hatte.
150 Deswegen kam zu gegebener Zeit Polo nach Ravenna, der Bruder des Gian Ciotto, mit Vollmacht, die Dame Francesca zu verheiraten. Dieser Polo war ein schöner und angenehmer Mann von feinen Umgangsformen. Eines Tages erging er sich mit anderen Edelleuten am Hof, wo Herr Guido wohnte, und da zeigte ihn eine der Hofdamen, die ihn kannte, durch ein kleines Fensterloch der Dame Francesca und sagte ihr: »Herrin, das ist der, der euer Mann werden soll.« Die gute Frau glaubte das, und so richtete die Dame Francesca gleich ihren Sinn und ihre Liebe auf diesen Mann.
151 Der Ehevertrag wurde mit aller Feierlichkeit abgeschlossen. Die Frau ging nach Rimini und bemerkte den Betrug erst, als am Morgen nach der Hochzeitsnacht Gian Ciotto sich neben ihr aus dem Bett erhob. Da muß man schon glauben, daß sie sich empörte, als sie sah, daß man sie getäuscht hatte, und daß sie schon deswegen nicht die Liebe, die sie zu Polo gefaßt hatte, aus ihrem Geist vertrieb. Wie weit sie sich mit ihm zusammentat, darüber habe ich nichts gehört – außer dem, was unser Autor darüber schreibt. Es kann ja möglich sein, daß es so geschah, aber ich glaube eher, daß das eine Erdichtung ist, die er sich ausgedacht hat aufgrund dessen, was möglicherweise passiert ist. Ich glaube nicht, daß der Autor gewußt hat, was geschehen war.
Boccaccio erzählt Dantes Geschichte neu und stellt mit seiner Erklärung den canto 5 auf den Kopf. Er treibt die Exkulpierung Francescas weit: Ihre Eheschließung läßt er auf einem politisch motivierten Betrug beruhen. Er hebt die intellektuelle und moralische Selbständigkeit der Frau hervor, die sich von niemandem, auch nicht von ihrem fürstlichen Vater, einen Ehemann aufdrängen ließe, der ihr nicht gefiele. Zum Schluß bezweifelt er die Zuverlässigkeit von Dantes Angaben, spinnt dann aber mit weiteren Erfindungen, auf die einzugehen hier zu weit führen würde, die Erzählung so aus, daß sie auch noch die Schuld des Ehemanns mindert; dieser ersticht Francesca durch den unglücklichen Zufall, daß sie sich dazwischenwirft, als er den Stoß des Degens gegen Polo führt.
Boccaccio destruiert Dantes Erzählung. Seine arme Francesca wird vom Vater betrogen und vom Ehemann, der sie mehr liebe als sich selbst, durch Zufall ermordet. Boccaccio, der Dante-Verehrer und Dante-Erklärer, stellt schließlich die historisch-faktische Grundlage der Erzählung Dantes, ob sie nämlich Ehebruch begangen habe, in Frage. Weder Dante noch Boccaccio erörtern die Frage, ob Francesca zu Recht in der Hölle steckt.
Dante findet sie darin vor. Boccaccio holt sie einfach heraus.