Canto 18
Die Dichter sind in der vierten Rundung; es ist die der melancholisch Trägen. Vergil erklärt weiter die Theorie der Liebe und deren Verhältnis zur Willensfreiheit. Die Schar der trägen Seelen stürmt vorbei. Aus ihr tritt Zeno von Verona hervor. – Dante schläft ein.
1 Der hohe Lehrer hatte seiner Rede ein Ende gesetzt;[361] aufmerksam schaute er auf mein Gesicht, ob ich zufrieden aussah. Mich plagte aber schon neuer Wissensdurst, doch nach außen schwieg ich, und innen sagte ich mir: »Vielleicht wird ihm mein allzu vieles Fragen lästig.« Aber er, ein wirklicher Vater, erkannte das zaghafte Verlangen, das sich nicht öffnete, und machte mir mit dem, was er sagte, Mut zum Sprechen. Darauf ich: »Meister, mein Blick belebt sich in deinem Licht; ich erkenne klar, was deine Rede einteilt und beschreibt. Doch, bitte, lieber, teurer Vater, erkläre mir die Liebe, auf die du jedes gute Handeln und auch sein Gegenteil zurückführst.«[362] »Richte«, sagte er, »die scharfen Augen des Intellekts auf mich, dann durchschaust du den Irrtum der Blinden, die sich als Führer aufspielen. Der Menschengeist ist zur Liebe fähig erschaffen; er läßt sich von allem bewegen, was gefällt. Was gefällt, erweckt seine Fähigkeit zur Tätigkeit. Eure Erkenntniskraft zieht aus dem, was wirklich ist, ein Bild (intenzione); sie entfaltet es in euch und bewirkt, daß der Geist sich ihm zuwendet. Neigt er sich, auf diese Weise ergriffen, der Sache zu, dann ist diese Neigung Liebe. Sie ist Natur, freigesetzt in euch durch das Gefallen. Dann, wie Feuer sich durch seine Natur nach oben bewegt, dorthin, wo es in seiner Natur am meisten dauern kann, so geht der Geist, in Besitz genommen, ins Ersehnen über. Diese geistige Bewegung ruht nicht, bis sie sich der geliebten Sache erfreut.
34 Jetzt kann dir klarwerden, wie sehr die Wahrheit den Leuten verborgen blieb, die behaupten, jede Art von Liebe sei in sich lobenswert. Was ihr zugrunde liegt, mag wohl immer gut sein, aber nicht jedes Siegelbild ist gut, nur weil das Wachs gut ist.« Darauf antwortete ich: »Deine Worte und mein Geist, der dir folgt, haben mir die Liebe erklärt, aber was mich mehr mit Zweifeln schwanger gehen läßt: Wird Liebe uns von außen eingegeben? Und wenn die Seele auf keinem anderen Fuß gehen kann, ist es dann noch ihre Entscheidung, ob sie gerade oder krumme Wege geht?« Und er zu mir: »Soweit Vernunft hier sieht, kann ich es dir erklären; was darüber hinausgeht, erwarte nur von Beatrice, denn das ist Sache des Glaubens.[363]
49 Jede Wesensform, die selbständig gegenüber dem Stoff, aber mit ihm verbunden ist, besitzt in sich eine spezifische Wirkkraft. Diese erfahren wir nur, wenn sie wirkt. Sie erweist sich in ihrer Wirkung wie das Leben einer Pflanze im grünen Laub. Darum weiß der Mensch nicht, woher die Einsicht in die ersten Begriffe und das Streben nach dem ersten Erstrebenswerten kommen. Diese sind in euch wie in der Biene der Eifer, Honig zu machen. Dieses ursprüngliche Streben verdient weder Lob noch Tadel. Damit jedes weitere Streben sich an dieses ursprüngliche anpasse, ist euch die Kraft angeboren, euch zu beraten und die Schwelle der Zustimmung zu bewachen. So entsteht bei euch der Begriff des Verdienstes, je nachdem, ob sie gutes oder schlechtes Lieben aufnimmt oder aussiebt. Die Männer, die denkend den Dingen auf den Grund gegangen sind, entdeckten diese angeborene Freiheit; deswegen hinterließen sie der Welt die Ethik. Nehmen wir daher an, jede Liebe entzünde sich in euch mit Notwendigkeit, dann liegt doch in euch die Kraft, sie festzuhalten. Diese edle Kraft versteht Beatrice unter dem ›freien Willen‹. Achte darauf, daß du das im Sinn behältst, wenn sie mit dir darauf zu sprechen kommt.«[364]
76 Der Mond, fast verspätet um Mitternacht, ließ – wie ein Kessel, der noch glüht – uns die Sterne spärlicher erscheinen. Er nahm seinen Lauf gegen die Himmelsbewegung auf jenen Straßen, die die Sonne dann entflammt, wenn der Römer sie untergehen sieht zwischen Korsika und Sardinien.[365]
82 Der edle Schatten, um dessentwillen Pietola berühmter ist als jedes mantuanische Dorf,[366] hatte die Last der Zweifelsfragen abgelegt, mit der ich ihn beladen hatte; ich hatte offene und klare Gedanken zu meinen Problemen geerntet und stand da wie ein Mann, der sich wie schlaftrunken in Gedanken verliert.
88 Doch diese Schläfrigkeit vertrieb mir plötzlich ein Volk, das hinter unserem Rücken auftauchte und Richtung auf uns genommen hatte. Und wie einst Ismenos und Asopos nachts an ihren Ufern tobende Mengen sahen, immer wenn die Thebaner der Hilfe des Bacchus bedurften, so galoppierten in diesem Kreis die Herbeikommenden, soweit ich sie überhaupt sehen konnte, heran, angespornt von gutem Wollen und gerechter Liebe.[367] Schnell hatten sie uns eingeholt, denn diese ganze große Menge bewegte sich im schnellen Lauf auf uns zu und zwei, die voranliefen, riefen mit weinerlicher Stimme: »Maria lief eilend nach dem Bergland«, und »Caesar stach schnell nach Marseille und eilte dann nach Spanien, um Ilerda zu unterjochen.«[368] »Schnell! Schnell! Keine Zeit verlieren durch zu lahme Liebe!«, riefen die anderen hinterher, »damit im Eifer guten Handelns die Gnade wieder ergrünt.«
106 »O ihr Leute, in euch ersetzt jetzt wohl stechende Glut das nachlässige Zaudern, wodurch ihr aus Lauheit versäumt habt, das Rechte zu tun! Der Mann hier lebt und will, ich belüge euch nicht, gewiß hinaufsteigen, wenn nur erst die Sonne wieder leuchtet. Drum zeigt uns, wo hier in der Nähe der schmale Durchgang ist.« Das waren die Worte meines Meisters, auf die einer dieser Geister erwiderte: »Komm hinter uns her, dann findest du das Loch. Bei uns ist der Drang, sich zu bewegen, so stark, daß wir nicht stehenbleiben können. Drum verzeih uns, wenn dir unser gerechter Eifer wie Grobheit vorkommt.
118 Ich war Abt von San Zeno in Verona unter der Herrschaft des guten Barbarossa, von dem Mailand heute noch mit Schmerzen redet.[369] Und da gibt es einen gewissen Herrn – er hat schon einen Fuß im Grab, der bald wegen dieses Klosters weinen und bereuen wird, daß er Macht über es hatte. Denn er hat seinen Sohn, der schlecht war am ganzen Leib und schlechter noch im Geist und der schlecht zur Welt kam, an die Stelle seines wirklichen Hirten gesetzt.«[370] Ich weiß nicht, ob er noch mehr sagte oder ob er schwieg, er war schon zu weit an uns vorbeigelaufen. Aber das habe ich verstanden und gern behalten. Und der Mann, der immer meine Hilfe war, wenn ich sie brauchte, sagte: »Dreh dich dorthin! Da siehst du zwei kommen, die bissig reden von der Trägheit (accidia).« Hinter allen her sagten sie: »Das Volk, dem das Meer sich öffnete, war längst tot, als der Jordan seine Erben sah.« Und dann: »Das Volk, das die Mühen mit dem Sohn des Anchises nicht bis zum Ende ertrug, ergab sich einem ruhmlosen Leben.«[371]
139 Dann, als diese Schatten so weit von uns entfernt waren, daß man sie nicht mehr sah, kam ein neuer Gedanke in mir auf, aus dem wieder andere und zwar unterschiedliche entstanden. Ich verlor mich so sehr in zusammenhanglosen Gedanken, daß ich vor lauter Unbestimmtheit die Augen schloß. Mein Nachdenken verwandelte sich in Schlaf.