Canto 9

Noch im Venushimmel: Cunizza erzählt reuelos von ihrem Leben, das Venus beherrscht hat, und von ihrem Bruder, dem Tyrannen Ezzelino. – Der Dichter Folquet von Marseille spricht vom Minnedienst, erklärt, warum Rahab im Himmel ist, und kritisiert die Geldgier des Klerus.

1  Nachdem dein Karl, schöne Clemenza, mich aufgeklärt hatte, erzählte er mir vom Betrug, dem seine Kinder zum Opfer fallen sollten.^[568]   »Aber«, sagte er, »schweig und laß die Jahre hingehen!« Ich kann also dazu nur sagen: Begründete Klagen werden den Schäden folgen, die ihr erlittet.

7  Schon hatte die Seele dieses heiligen Lichts sich wieder der Sonne zugewandt, die es erfüllt, hin zu dem Gut, das jedem Wesen genügt. Aber ihr, o weh ihr betrogenen Seelen, ihr gottlosen Geschöpfe, ihr biegt die Herzen weg von einem so hohen Gut und habt im Kopf nur Nichtigkeiten!

13  Und siehe: Da kam ein anderes dieser Lichter auf mich zu. Auch es wollte mir gefallen und zeigte dies an, indem es nach außen zunahm an Helle. Die Augen Beatrices ruhten wie zuvor fest auf mir und bestätigten ihre liebevolle Zustimmung zu meinem Verlangen. »Ach, du«, sagte ich, »seliger Geist, gib meinem Wunsch rasche Erfüllung und beweise mir, daß ich mein Denken in dir spiegeln kann.«

22  Darauf erwiderte sogleich das Licht, das ich noch nicht kannte, aus seiner Tiefe, in der es vorher sang, wie jemand, der mit Freuden Gutes tut: »In jenem Teil des verdorbenen italischen Landes, der zwischen dem Rialto und den Quellen von Brenta und Piave liegt, erhebt sich ein Hügel, nicht sonderlich hoch. Von ihm kam vor Zeiten eine Brandfackel herab, die diese Gegend mit Gewalt bedrängte. Ich und sie entstammten derselben Wurzel: Ich hieß Cunizza, und ich erstrahle hier, weil mich das Licht dieses Planeten beherrscht hat. Heiter vergebe ich mir, was mein Los bestimmt hat. Mich verdrießt nicht, was euer Volk vielleicht für ein starkes Stück hält.

37  Hier, ganz in meiner Nähe, dies helleuchtende, liebe Juwel unseres Himmels, es hinterließ so großen Ruhm, daß er nicht sterben wird, bevor dieses Jahrhundertjahr fünfmal zurückkehrt. Hier siehst du: Der Mensch soll sich auszeichnen, damit sein erstes Leben ein zweites hinterläßt.^[569]   Doch die Masse von heute, die Tagliamento und Etsch umschließen, denkt daran nicht.^[570]   Sie kommt nicht zur Reue, selbst wenn sie geschlagen ist.

46  Doch bald wird es geschehen: Padua färbt das Sumpfwasser blutig, das Vicenza badet, denn dort mißachtet das Volk seine Pflicht.^[571]   Und wo die Flüsse Sile und Cagnano zusammentreten,^[572]   dort herrscht jetzt einer und geht erhobenen Hauptes, aber das Netz, das ihn fängt, liegt schon bereit.^[573]   Feltro beklagt die Untat seines gottlosen Bischofs, die so schändlich ist, daß noch keiner für ein solches Vergehen ins Gefängnis kam.^[574]   Riesig müßte der Kübel sein, der das Blut der Ferraresen auffinge! Ermüden würde, wer abwiegen wollte, was dieser freigebige Priester verschenkt, um zu beweisen, daß er zur Partei gehört. Und solche Geschenke passen zu den Sitten dieses Landes.

61  Doch oben sind Spiegel, ihr nennt sie ›Throne‹, von denen her Gottes Richtspruch uns aufleuchtet. Daher sind meine Urteile gerecht.«

64  Hier schwieg sie und gab mir zu verstehen, sie habe sich anderem zugewandt, indem sie sich dem Reigen einfügte wie zuvor. Da trat mir ein anderes Freudenlicht vor Augen – wie ein edler Rubin, den die Sonne durchstrahlt, dessen besonderer Wert mir schon bekannt war.^[575]   »Gott sieht alles, und dein Sehen begibt sich ganz in ihn hinein, seliger Geist«, sagte ich, »so daß kein Wunsch deinem Blick entgeht. Deine Stimme beglückt immer den Himmel im Einklang mit den heiligen Flammen, die aus sechs Flügeln sich eine Kutte machen,^[576]   warum nur befriedigt sie nicht mein Verlangen? Könnte ich dich so durchdringen, wie du mich durchdringst, ich würde deine Frage nicht erst abwarten.«

82  Darauf begann seine Rede: »Das größte Tal, in dem Wasser sich breitet – außer dem Meer, das wie eine Girlande die Erde umschlingt –, reicht zwischen feindlichen Gestaden nach Osten hin so weit, daß der Himmelskreis, der an seinem Anfang Horizont war, zuletzt zum Meridian wird.^[577]   Ich lebte an den Küsten dieses Tals, zwischen Ebro und der Macra, die in ihrem kurzen Lauf das Genuesische vom Toskanischen trennt. Die Stadt, in der ich lebte, hat mit Bougie fast gemeinsamen Sonnenauf- und -untergang; einst färbte sie mit ihrem Blut den Hafen.^[578]   Folco nannten die Leute mich, die meinen Namen kannten; und dieser Venushimmel hier nimmt meine Prägung auf, wie ich die seine aufnahm. Denn damals, als es noch zu meinem Haar paßte, war ich heftiger verliebt als die Tochter des Belos, die damit Sychäus und Creusa verletzte; ich war wilder entbrannt als Rhodopeia, die, von Demophoon betrogen, sich umbrachte, und als Herakles, der Iole ins Herz schloß.^[579]   Aber nichts davon wird hier bereut; man freut sich nur, nicht über die Schuld, die nicht ins Gedächtnis zurückkehrt, wohl aber über die gute Kraft, die alles geordnet und vorgesehen hat. Hier richtet der Blick sich auf die Kunst, die diese Liebesleidenschaft so schön macht;^[580]   wir hier sehen auf das Gute, durch das die obere Welt die untere formt und einschließt.^[581]  

109  Aber damit du alle Wünsche, die in dieser Himmelssphäre entstanden sind, erfüllt bekommst, muß ich noch weiter gehen: Du willst wissen, wer in diesem Licht steckt, das hier in meiner Nähe strahlt wie Sonnenschein in reinem Wasser. Wisse denn: Darin findet Rahab ihre Ruhe. Sie gehört zu unserem Chor, er erhält von ihr im höchsten Maße die Prägung.^[582]   In diesen Himmel, auf den der letzte Schatten trifft, den eure Erde wirft, wurde sie vor jeder anderen Seele durch den Triumphzug Christi aufgenommen. Es war nur recht, sie in diesen Himmel einzulassen als Zeichen des hohen Siegs, der mit der einen und der andren Hand errungen wurde.^[583]   Denn sie förderte die erste Ruhmestat Josuas im Heiligen Land, um das unser Papst sich nicht kümmert.

127  Deine Stadt hat der gepflanzt, der als erster seinem Schöpfer den Rücken zukehrte und dessen Neid so viel Tränen bewirkt hat. Sie erzeugt die verdammte Blume und breitet sie aus; sie hat Schafe und Lämmer irregeführt, denn sie hat den Wolf zum Hirten gemacht.^[584]   Daher sind das Evangelium und die großen Lehrer verlassen. Studiert werden nur die Dekretalen; man sieht es an ihren Rändern. Nach ihnen steht dem Papst und den Kardinälen der Sinn. Ihre Gedanken gehen nicht nach Nazareth, wo Gabriel grüßend die Flügel öffnete. Aber bald werden der Vatikan und die anderen berühmten Teile Roms, die zum Friedhof wurden für das Märtyrerheer, das Petrus folgte, befreit von dieser Unzucht.«^[585]