Canto 7
Aus Justinians Rede ist Dante ein Zweifel geblieben: Wenn Gott, wie gelehrt wird, froh war über den Kreuzestod Christi, warum heißt es dann, er räche ihn an den Juden? Beatrice zeigt, das sei kein Widerspruch: Wegen der göttlichen Natur Christi war die Kreuzigung ein Verbrechen, wegen seiner menschlichen Natur war sie gefordert. – Warum ist Geschaffenes vergänglich?
1 »Hosanna, heiliger Gott der Heere,
du überstrahlst mit deinem Glanz
die seligen Feuer dieser Himmelsreiche.«
4 So hörte ich jetzt dieses Wesen singen, zugewandt seiner eignen Melodie. Zwei Lichter paarten sich indessen über ihm. Er und die anderen begannen ihren Tanz; wie davonsprühende Funken entfernten sie sich jäh und entschwanden mir.
10 Ich zweifelte und sagte still zu mir: ›Sag’s ihr! Sag’s ihr! Sag’s deiner Herrin! Sie stillt dir mit süßen Tropfen den Durst.‹ Aber die Scheu, zu der die Frau mich ganz bestimmt, schon wenn ich nur das BE höre und das ICE, beugte mich zurück wie einen Mann, der in Schlaf sinkt. Beatrice hielt es nicht lange aus, mich in dieser Lage zu sehen. Sie strahlte mich an mit einem Lächeln, das einen Mann im Feuerofen selig machen würde, und begann: »Ich bin mir sicher: Du bist darüber ins Nachdenken versunken, wieso gerechte Rache zu Recht bestraft worden sei. Aber ich befreie dir schnell deinen Geist.[555] Du höre zu, denn meine Worte schenken dir eine wichtige Lehre:
25 Der Mann, der nicht geboren wurde, ertrug den Zügel nicht, den zu seinem Wohl sein Wille tragen sollte. Dadurch verdammte er sich selbst und alle seine Nachkommen. Deswegen lag die menschliche Art für viele Jahrhunderte in großem Irrtum krank danieder, bis es dem Wort Gottes gefiel herabzusteigen. Da vereinte es die Natur, die sich von ihrem Schöpfer entfernt hatte, mit sich in seiner Person, allein durch den Akt seiner ewigen Liebe.
34 Jetzt richte deinen Blick auf folgende Begründung: Diese Menschennatur, mit ihrem Schöpfer vereint, war, wie sie geschaffen war, rein und gut. Aber für sich genommen, war auch sie aus dem Paradies vertrieben, hatte sie sich doch abgewandt vom Weg der Wahrheit und von ihrem Leben. Mißt man die Strafe, die sie am Kreuz erlitt, an der von Christus aufgenommenen menschlichen Natur, dann wurde nie ein Leiden gerechter zugefügt. Aber ebenso geschah nie größeres Unrecht, wenn man auf die Person blickt, die litt, in der die Menschennatur verwirklicht war. Eine einzige Handlung hatte zwei verschiedene Folgen: Gott und den Juden gefiel dieser eine Tod; seinetwegen bebte die Erde und öffnete sich der Himmel. Von jetzt an darf es dir nicht mehr schwierig vorkommen, wenn behauptet wird, ein gerechter Gerichtshof habe gerechte Rache geübt.
52 Aber jetzt sehe ich, daß dein Geist sich von Gedanken zu Gedanken in einen Knoten verstrickt und daß er mit großer Sehnsucht erwartet, aus ihm befreit zu werden. Du sagst: ›Ich fasse auf, was ich höre, aber unklar ist mir, warum Gott diesen Weg wählte zu unserer Erlösung.‹ Dieser Beschluß, mein Bruder, liegt begraben für die Augen jedes Wesens, dessen Geist nicht gereift ist im Feuer der Liebe.
61 Jedoch, weil viel auf dieses Ziel geblickt und wenig Einsicht erreicht wird, will ich dir erklären, warum dieser Weg der würdigste war. Die göttliche Güte, die keinen Neid kennt, glüht in sich selbst; ihre Funken versprühend entfaltet sie ewige Schönheiten.[556] Was sie ohne Mittelwesen verströmt, das bleibt für immer; wenn sie siegelt, ändert sich das Bild nie. Was ihr entströmt ohne Zwischeninstanz, ist ganz frei, denn es unterliegt nicht dem Einfluß werdender Dinge. Je mehr es ihr gleicht, um so mehr gefällt es ihr, denn die heilige Glut, die jedes Wesen ausstrahlt, ist in dem am lebendigsten, was ihr am meisten ähnlich ist. Diese Vorzüge alle besitzt die menschliche Natur; fehlt einer, verliert sie an Adel. Die Sünde allein nimmt ihr die Freiheit und macht sie dem höchsten Gut unähnlich. Dann scheint dessen Licht weniger durch, und sie kehrt nur zu ihrer Würde zurück, wenn sie die Leere, die durch Schuld entstand, auffüllt mit gerechten Strafen für böse Lust. Eure Natur wurde, da sie in ihrem Samen als ganze sündigte, von ihren Würden wie aus dem Paradies entfernt, und konnte sie, wenn du genau hinsiehst, auf keinem Weg wiedergewinnen, ohne über eine dieser beiden Furten zu gehen: Entweder Gott allein hätte in seiner Großmut die Schuld erlassen, oder der Mensch hätte von sich aus Genugtuung geleistet für seine Vermessenheit.
94 Richte nun das Auge genau auf den Abgrund des ewigen Ratschlusses, soweit du es kannst, indem du eng an meinen Worten hängst. Der Mensch in seinen Grenzen konnte niemals Genüge tun, denn wenn er danach auch gehorchte, konnte er niemals in Demut so weit nach unten gehen, wie er im Ungehorsam nach oben gestrebt hatte. Das ist der Grund, weshalb der Mensch davon ausgeschlossen war, von sich aus Genugtuung zu leisten. Deswegen kam es Gott zu, auf seinen Wegen die Ganzheit des menschlichen Lebens wiederherzustellen, ich meine: entweder auf dem einen oder auf beiden Wegen.[557] Aber ein Werk wird um so höher geschätzt, je mehr es die Güte des Herzens des Handelnden darstellt, von dem es ausging,[558] daher gefiel es der göttlichen Güte, die die Welt prägt, auf allen ihren Wegen vorzugehen, euch wieder zu erhöhen. Nie, nie zwischen der letzten Nacht und dem ersten Tag gab es eine so hohe, eine so hochherzige Tat, noch wird es sie je geben. Denn Gott war viel freigebiger, als hätte er nur von sich aus vergeben; er gab sich selbst, damit der Mensch sich wieder erheben könne. Alle anderen Wege hätten der Gerechtigkeit nicht genügt, hätte der Sohn Gottes sich nicht erniedrigt, Fleisch zu werden.
121 Jetzt gehe ich, um dir jeden Wunsch zu erfüllen, ein Stück zurück und erkläre einen bestimmten Punkt, damit du darin klar siehst wie ich. Du sagst: ›Ich sehe, daß Wasser, Feuer, Luft und Erde und alle ihre Verbindungen nur kurz dauern und dann zugrunde gehen. Und dabei waren alle diese Wesen Geschöpfe, sie müßten daher sicher sein vorm Vergehen.‹ Die Engel, mein Bruder, und das reine Land, in dem du nun bist, die könnte man in ihrem ganzen Wesen geschaffen nennen, so wie sie es sind. Aber die Elemente und die Dinge, die du genannt hast, und alles, was aus ihnen entsteht, erhalten ihre Gestalt aus einer geschaffenen Kraft. Erschaffen ist der Stoff, den sie haben; erschaffen wurde die sie gestaltende Kraft, und zwar in diesen Sternen, die sich um sie drehen. Lichtstrahl und Lauf dieser heiligen Lichter ziehen aus differenzierten Stoffverbindungen die Seele jedes Tiers und jeder Pflanze heraus,[559] nur euer Leben haucht die oberste Güte ein ohne Zwischeninstanz. Sie macht es verliebt in sich; daher sehnt es sich immer nach ihr. Und daraus kannst du auch auf eure Auferstehung schließen, wenn du auch daran denkst, wie das menschliche Fleisch entstand, damals, als die ersten Eltern beide erschaffen wurden.«