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Die Natter saß in der Dunkelheit, den Laptop auf seinem Schoß. Disk 1 endete, und er war erfüllt von einer himmlischen Ruhe, jenem Frieden, den er jedes Mal empfand, wenn er sich das Video anschaute.

Disk 1.

Williams Schöne Flucht.

Vor zwei Stunden, draußen am See, war er überzeugt gewesen, dass es Zeit für seine eigene Schöne Flucht wäre. Als der Doktor ihn gespritzt hatte und sein Körper mit dem Eis verschmolz, war die weiche Dunkelheit in seinem hyperaktiven Hirn überwältigend gewesen. Hohe Wellen hatten ihn sanft an unbekannte Plätze gespült.

Inzwischen war er wieder im Hier und Jetzt. Wieder in dieser Welt.

Wieder in der Kälte.

Der Gedanke berührte ihn nicht besonders. Es gab nicht sehr viel, was ihn emotional berührt hätte.

Der Doktor hatte es geschafft. Vorhin. Mit einer einzigen Spritze hatte sie sämtliche Grenzen zwischen ihnen gesprengt. Die ungeschriebenen Regeln ausradiert. Ihm die Augen geöffnet. Letztendlich hatte sie ihn verraten.

Die ganze Sache amüsierte ihn.

Die Natter hatte keine Ahnung, wie viele Opfer der Doktor getötet hatte. Sie nannte es ihr »Business«. Es kümmerte ihn nicht wirklich, denn er kannte die Wahrheit. Es war kein Business, für sie war es ein Spiel, in dem es um Dominanz und Macht und sadistische Praktiken ging. Die Natter las es in ihren Augen. Mit jedem neuen Mord schien sie eine Stufe der Leiter in ihrem Kopf zu nehmen.

Noch hatte sie ihren Spaß an dem Spiel, aber die Natter wusste etwas, was sie nicht wusste: Die Leiter würde kein Ende nehmen. Sie spielten ein dämonisches Spiel, und es würde immer so weitergehen. Nur Gabriel und Mutter; nur die Natter und der Doktor.

Eine nie endende Partie von Schlangen & Leitern.

Der Gedanke löste negative Emotionen in ihm aus, daher tippte er erneut auf »Play« und schaute sich Williams Schöne Flucht an. Er hatte das alte Video damals auf eine DVD überspielt. Es gab keinen Ton, nur das statische Rauschen. Aber das machte gar nichts.

Die Natter verfolgte, wie der Junge durch das Eis brach, und er sah sich – selbst noch ein Junge –, zitternd, von Krämpfen geschüttelt, hysterisch schreiend, ehe er im Schnee zusammenbrach, die Hände vor sein Gesicht geschlagen. Unfähig hinzuschauen. Unfähig, das Unglück zu begreifen.

Unfähig, Hilfe zu holen.

Damals war er in diesem Moment durch seine ganz persönliche Hölle gegangen; aber mit der Zeit – er hatte sich das Video Hunderte Male angesehen – hatte die Natter die Wahrheit erkannt, die sich in jenem Moment herauskristallisierte. Die Realität. Das einzig wirklich Wichtige.

Der Tod – er war der einzige Grund zu leben.

William war von den Ketten dieser kalten Welt befreit, von dieser Hölle erlöst worden. Und endlich total frei.

Die Natter verfolgte mit Tränen in den Augen, wie die Feuerwehrleute seinen jüngeren Stiefbruder aus dem See zogen. Der kleine Körper schlaff und nass, seine Haut weiß wie die eines Engels. Sein Blut und sein Fleisch waren kalt wie das Eis, aber seine Seele schwebte, schwebte, schwebte weit weg von hier.

»Du bist frei«, wisperte die Natter. »Flieg davon, kleiner Vogel. Flieg davon.«

Das Video endete, und eine plötzliche Helligkeit blendete die Natter.

Er hob die Hände. Fixierte die Tür. Und wusste, was los war, noch bevor seine Augen sich an das Licht gewöhnten.

Der Doktor hatte ihn gefunden.

Zornesblind
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