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Der watteweiche weiße Nebel verdrängte langsam die Dunkelheit. Plötzlich war William da und rief ihn. Steh auf, Gabriel! Steh auf! Du musst aufstehen! Dann wurde er von William geschüttelt. Heftig geschüttelt. So heftig, dass sein Körper wie der einer Marionette wackelte.
»Steh auf, Gabriel.«
Der Nebel wurde zusehends dünner.
»Steh auf!«
Löste sich auf.
»GABRIEL!«
Und er konnte wieder den blauen Himmel sehen.
Die Natter hob mühsam den Kopf von der kalten, harten Erde. Sein Kopf war schwer, tonnenschwer. Mit ihm erwachte der Schmerz: ein brennendes, scharfes Stechen, als würde seine Haut, sein Körper von Millionen Nadeln traktiert.
In seinen Beinen wütete der Schmerz jedoch am schlimmsten.
Ein scharfer, beißender Schmerz, und dabei waren seine Beine wie taub. Seltsam qualvoll betäubt.
Es machte keinen Sinn.
Die Natter nahm alle Kraft zusammen und setzte sich auf, um seine Beine zu betrachten. Sie waren halb in das eisige Wasser des Sees eingetaucht und weißer als das Eis.
»Steh auf, Gabriel!«, ertönte eine Stimme hinter ihm.
Leise geflüstert.
Ein verzweifeltes, panisches Flüstern.
Es war bestimmt Dalia. Irgendwo hinter ihm. Oben, an ihrem Schlafzimmerfenster.
Er war zu schwach, um sich umzudrehen und zu ihr hinzuschauen.
»Gabriel, du musst schleunigst ins Haus kommen!«
Die Natter versuchte mechanisch, die Knie anzuwinkeln. Und die Beine aus dem eisigen Seewasser zu ziehen. Doch seine Muskeln weigerten sich, seinen mentalen Befehlen zu gehorchen. Sie waren wie totes Fleisch, das an seinem Körper hing. Nutzlose Fleischstücke.
Er rollte sich auf den Bauch, fühlte kalte, scharfe Steine sich in seine Haut bohren. Links von ihm lag seine Kleidung, vielleicht eine Armlänge entfernt. Aber er konnte nicht danach greifen. Sein Verstand lichtete sich langsam. Ganz langsam. Und seine Ratio gab kurze Signale.
Das Ferienhaus …
Das Blockhaus war seine einzige Überlebenschance.
Impulshaft robbte die Natter Zentimeter für Zentimeter, Armzug um Armzug aus dem See. Er zog sich auf den gekiesten Strand. Über den hart gefrorenen Rasen. Die glitschigen Holzstufen der Veranda hoch. Die rückwärtige Tür stand weit offen, und er fragte sich, weshalb.
Ein Test vom Doktor? Eine Falle?
Einer von ihren vielen Tricks?
Letztlich spielte es sowieso keine Rolle. Er robbte ins Haus, seine Beine schleiften nutzlos hinter ihm her. Als er die Küche erreichte, sah er den Doktor.
Sie saß am Tisch, eine dampfend heiße Tasse in der einen, eine Tageszeitung in der anderen Hand. Sie nippte an ihrem Getränk, stellte die Tasse vorsichtig auf den Unterteller. Dann blickte sie zu ihm. »Willkommen zu Hause, Gabriel. Ich hoffe, du hast aus der heutigen Lektion gelernt.«
Aus Angst, etwas Falsches zu sagen, blieb er stumm. Kurz darauf stand der Doktor auf und verließ das Haus.
Er lag bloß da und ließ sich von der Wärme des Elektrokamins bestrahlen. Seine taube Haut begann zu prickeln und brannte zunehmend wie Feuer. Seine Zähne schlugen klappernd aufeinander, und er wollte schreien. So laut, wie es seine Lunge noch hergab.
Er tat nichts dergleichen.
Stattdessen blieb er liegen, sein Verstand benommener als sein Körper. Daher dachte er an das Einzige auf dieser Welt, was ihm wahres Vergnügen bereitete. Das Finale. Der Moment der Erlösung. Der einzige Ausweg aus dieser Welt.
Die Schöne Flucht.
Es war wieder so weit, und dieses Mal für Jacob Striker. Bei der Vorstellung musste die Natter unbewusst lächeln.
Es würde ein wahrhaft wundervolles Finale werden.