30

»Merkwürdig«, meinte Felicia gedehnt, die während der Fahrt Computerberichte las.

Striker fuhr östlich auf die West Broadway Street und dann nach Süden auf die Main. »Was ist merkwürdig?«, forschte er.

»Wegen Larisa Logan wurde heute Morgen schon angerufen. Und zwar verdammt früh. Genau genommen ging schon gestern eine CAD-Anfrage zu ihr ein. Auch für Mandy Gill.«

Striker horchte auf. »Anfrage? Von wem?«

Sie überflog die elektronischen Seiten. »Wagen 87.«

»Wer ist heute in dem Wagen?«

»Warte, das Teil hier arbeitet sehr langsam … Okay, ich hab’s. Na, das passt. Unser weltallerbester Freund Constable Bernard Hamilton.«

»Bernard, ggrrr.« Die Worte hinterließen einen schalen Nachgeschmack auf Strikers Zunge. »Er hört gestern Abend spät auf und ist heute in aller Herrgottsfrühe wieder auf Posten, um Datenbanken zu checken. Unser Opfer und Larisa. Na, wie find ich denn das?«

»Wir haben gestern auch lange gearbeitet«, konterte Felicia. »Und sind heute Morgen früh raus.«

»Das ist nicht der Punkt«, erklärte Striker. »Wir müssen früh raus. Wir stecken mitten in den Ermittlungen zu einem Fall. Wagen 87 hat normalerweise geregelte Einsatzzeiten, sofern nichts Außergewöhnliches dazwischenkommt. Folglich lautet die Frage hier, was läuft da ab, dass Bernard seinen faulen Arsch so früh hochkriegt?«

Felicia blieb ihm die Antwort schuldig.

An der 29 Avenue warf er einen Blick auf die Uhr. Es war inzwischen viertel vor sieben, und der Verkehr wurde zunehmend dichter. Auf den Hauptverkehrsstraßen standen die Wagen Stoßstange an Stoßstange und bewegten sich im Zeitlupentempo weiter. Die aufgehende Sonne verwischte die nächtliche Dunkelheit zu einem schmutzig verwaschenen Grau.

Sie fuhren die 41 hinunter. Schließlich parkte Striker vor einem älteren Gebäude. Es war eine alte Villa, zweistöckig, hübsch mit großen weiß gestrichenen Läden und einer Doppeltür als Eingang. Für Außenstehende mutete es wie ein Privathaus an, aber die Polizei wusste Bescheid. Es war die Zentrale von Wagen 87 und dem psychologischen Beratungsteam. Sie waren angekommen.

Wortlos stieg er aus und lief mit ausgreifenden Schritten zum Eingang. Bernard Hamilton trieb sich irgendwo in diesem Haus herum, und Striker war entschlossen, den Mann zur Rede zu stellen.

Schließlich war Bernard ihm ein paar Antworten schuldig geblieben.

Die Doppeltüren am Eingang waren aus Sicherheitsgründen immer geschlossen, folglich musste Striker warten, dass man ihnen öffnete. Auf sein Klopfen hin reagierte der Mann, den er suchte. Bernard Hamilton riss die Tür auf, sah sie und setzte ein breites Grinsen auf, das seine Augen jedoch nicht erreichte.

»Striker«, sagte er. »Felicia. Guten Morgen. Ihr seid früh auf.«

»Das Gleiche kann man von Ihnen sagen«, konterte der Ermittler.

Er musterte Bernard von oben bis unten. Wie gewöhnlich war der Mann modisch gekleidet. Sein Oberhemd war aus blassroter Seide mit einem gedeckten Blumenmuster, das Haarband farblich darauf abgestimmt.

Striker betrat unaufgefordert das Foyer, und Bernard trat unwillkürlich beiseite. Als der Detective sich umdrehte, stieß er an einen Stapel Kisten. Jede war mit Inhalt und Datum etikettiert.

»Winterschlussverkauf«, ätzte er.

»Wir ziehen um«, antwortete Bernard. »Draußen nach Osten, die ganze Mannschaft.«

Striker nickte. Davon hatte er bereits gehört. »Sie bleiben an Dr. Ostermann dran, wie besprochen?«, kam er unvermittelt auf den Punkt.

Bernard schwieg sekundenlang, ehe er sich unbehaglich räusperte und zu dem Schwesternbereich blickte, wo drei Frauen Kaffee tranken und in Krankenakten blätterten. »Was halten Sie davon, wenn wir diese Diskussion woanders führen?«

Striker zuckte wegwerfend mit den Achseln. »Haben Sie hier ein Büro?«

»Gleich dahinten.« Bernard ging voraus und winkte sie ins Innere. »Ich hol uns einen Kaffee.«

Felicia nickte dankbar. Als Bernard außer Sichtweite war, schloss Striker die Tür. Er warf seiner Kollegin einen harten Blick zu.

»Der gute alte Bernard wirkt nicht besonders begeistert über unseren Besuch«, stellte er fest.

Felicia nickte zustimmend. »Hast du gesehen, wie der uns an der Tür angegrinst hat?«

»So künstlich wie Ken, der Barbiepuppenmann.«

Felicia musste lachen. Striker inspizierte das Büro. An der Wand hing ein Bild von James Dickson – ein Kollege, der im letzten Jahr Cop des Jahres geworden war, für seinen Einsatz mit den Streetworkerinnen im Rotlichtviertel von Downtown East Side. Neben Hamiltons ausgeschaltetem Computer lagen Stift und Klemmbrett. Das eingesteckte Blatt Papier wurde von einem dicken Kulistrich in zwei Hälften unterteilt. Auf der einen Seite dieser Liste notierte Bernard akribisch jedes Lob durch seine Vorgesetzten und herausragende Einsätze, auf der anderen Seite stand alles, was James Dickson geleistet hatte, um Cop des Jahres zu werden.

Felicia sah es auch und lachte.

»Er will unbedingt Cop des Jahres werden.«

Striker nickte. »Das ist kein großes Geheimnis. Das will er schon seit Langem. Bloß blöd für ihn, dass er es nie schafft.«

»Ach nee?«

»Die Kollegen, die die Auszeichnung bekommen, bekommen sie, weil sie gute Cops sind und einen guten Job machen, und nicht, weil sie anderen Leuten nach dem Mund quatschen wie Hamilton.«

Felicia sah sich die Liste genauer an. »Bist du sicher? Bernard hat gute Chancen; immerhin ist er ganz schön ambitioniert.«

»Wenn der die Auszeichnung bekommt, spiel ich russisches Roulette mit sechs Kugeln, das kann ich dir flüstern.«

Hamilton kehrte zurück. In jeder Hand einen Becher Kaffee mit Zucker und Kaffeeweißer. Felicia nippte an ihrem; Striker hielt die Tasse bloß fest.

»Also, was ist jetzt mit Ostermann?«, drängte er.

Bernard atmete tief durch. »Tja, ich hab versucht, etwas über ihn rauszubekommen, aber die Akte ist weg.«

»Weg?«

Bernard nickte. »Wie ich schon erwähnte, die meisten Personalakten wurden vor einer Weile vernichtet, nach der undichten Stelle im System.«

Felicia trat einen Schritt vor. »Es gibt aber doch bestimmt noch eine Kopie von Ostermanns Dienstplänen«, sagte sie mit Nachdruck.

»Das ist korrekt«, bekräftigte Bernard. »Die hab ich gesucht, war aber leider Fehlanzeige.« Er zeigte auf die Kisten, die sich an den Wänden des kleinen Büros stapelten. »Steckt wahrscheinlich in einer der Kisten, aber bedingt durch den Umzug ist das mit der Sucherei momentan alles etwas schwierig. Zudem ist ein Großteil der Kisten bereits eingelagert. Falls ich was finde, ruf ich Sie an.«

»Sobald Sie was finden«, versetzte Striker.

»Klar, mach ich.« Dabei vermied Hamilton jeden Augenkontakt mit den beiden Detectives.

Striker rechnete nicht wirklich mit dessen Anruf. »Okay, was ist mit diesem Dr. Richter?«

Bernard zog unschlüssig die Schultern hoch. »Bislang auch nichts. Finden Sie mal was in diesem Chaos! Soweit ich weiß, sind die gesamten Unterlagen schon für den Umzug verpackt.«

»Das hilft uns nicht weiter«, versetzte Striker.

Bernard seufzte. »Wissen Sie, ich kenne Dr. Ostermann ziemlich gut und habe allergrößten Respekt vor seinen Leistungen. Der Mann ist absolut integer, und er hat einen guten Draht zur Führungsetage – er spendet große Summen für die Hilfsorganisation PMBA. Von diesem Dr. Richter hab ich allerdings noch nie was gehört.«

Striker nickte. Er schrieb die Information in sein Notizbuch – nur um Bernard zu demonstrieren, dass er sich alles notierte, was er tat. »Wir versuchen, Larisa Logan zu finden. Hatten Sie schon mal mit ihr zu tun?«

Einen kurzen Moment schien Bernard sich ertappt zu fühlen. Er erstarrte. Seine Finger umkrampften den Styroporbecher. Dann blinzelte er und nippte an seinem Kaffee.

»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor«, räumte er ein.

»Ist nicht wahr!«, ätzte Striker. »Immerhin haben Sie heute Morgen wegen der Dame im deren Büro angerufen.«

Bernard schwieg und wurde rot.

»Ich weiß es, Bernard. Ich hab die Anfrage gesehen.«

»Und wenn schon?!« Bernard warf gereizt seinen Becher in den Papierkorb und schob sich hinter seinen Schreibtisch. »Diese verdammten Telefonistinnen. Die Anfrage gehörte weiß Gott nicht an die große Glocke gehängt, das lief unter Datenschutz

»Kommen Sie, raus mit der Sprache.«

»Da ist nichts.«

»Warum sind Sie dann so empfindlich?«

Bernard setzte sich hinter seinen Schreibtisch und wischte sich mit der Hemdmanschette die Stirn. Seine Züge erschlafften, und sein langes, hageres Gesicht wirkte dadurch noch länger. Müde und abgespannt. »Ich kann dazu nicht mehr sagen.«

»Können Sie nicht oder wollen Sie nicht?«

»Beides«, antwortete er schließlich, die Verärgerung in seiner Stimme unüberhörbar. »Es gibt gewisse Regeln, Striker. Und so was wie Datenschutz. Wahrung der Privatsphäre.«

»Ich bin mir der Gesetzeslage durchaus bewusst.«

Bernard lachte belustigt auf. »Es geht nicht bloß darum. Auch nicht um die Abteilungspolitik. Vergessen Sie nicht das Mental Health Board.«

Striker blickte schweigend zu Felicia, bemerkte deren harte Miene und wusste, dass sie nicht auf Hamiltons blödes Gequatsche reinfiel. Sie baute sich vor dem Schreibtisch auf und schaute auf Bernard herunter.

»Wir sind sämtliche PRIME-Files durchgegangen«, erklärte sie, »und auch alle CAD-Anfragen. Wir wissen, dass Sie Informationen über die Frau eingeholt haben. Trotzdem fehlt da was. Irgendwas geht da hinter den Kulissen ab. Wir hofften, Ihre Akte könnte zur Klärung der offenen Fragen beitragen.«

»Unsere Akte?«, echote Bernard. »Welche Akte?«

»Sie hatte zeitweilig Depressionen«, erklärte Striker. »Sicher hat das Mental Health Team eine Akte angelegt.«

»Hier ist jedenfalls nichts«, sagte Bernard. Er strich mit einer Hand über seinen Pferdeschwanz, wie um sicherzugehen, dass das Haargummi noch richtig saß.

Felicia wandte sich stirnrunzelnd an Striker. »Es muss eine Krankenakte über Larisa Logan geben«, sagte sie. »Nach dem, was passiert ist. Ich hab die Datenbank dreimal durch, aber da ist nichts zu finden.«

Nichts zu finden?

Unvermittelt machte es Klick in Strikers Hirn, und er grinste breit.

»Ich weiß, warum«, sagte er. »Du kannst die Datei in PRIME gar nicht finden, weil das System dich nicht lässt. Die Datei ist verborgen. Sie wurde privatisiert

Zornesblind
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