35
Die Zeit war der entscheidende Faktor, das wusste die Natter. Alles musste verdammt schnell gehen. Die Sachen waren präpariert, eingepackt und verstaut. Der Van war frisch betankt, der Schlüssel steckte im Zündschloss. Er parkte halb versteckt unter einer Trauerweide am Ende einer Sackgasse.
Er ging noch einmal seine Checkliste durch.
Ledermaske. Ja. Lederhandschuhe. Ja. Latexhandschuhe. Ja.
Videoausrüstung … Nein.
Eine tiefe Falte schob sich zwischen seine Augenbrauen. Wie hatte er die vergessen können? Die Kamera war das Wichtigste überhaupt.
Er kehrte in seine Unterkunft zurück, öffnete die Falltür im Boden und kletterte die Leiter hinunter in sein Reich. Er lief über den Betonboden zur rückwärtigen Wand, an der ein gerahmter Druck von M. C. Eschers Relativität hing – Menschen, die Stufen in alle Richtungen hinauf- und hinuntergehen, in einer Welt, in der die Gesetze der Schwerkraft bedeutungslos geworden sind.
Die Natter liebte dieses Poster. Trotzdem hatte er es aus rein praktischen Erwägungen gekauft, nämlich wegen der Größe.
Er fasste mit beiden Händen den Rahmen und nahm das Bild von der Wand. Dahinter befand sich eine etwa sechzig mal neunzig Zentimeter große Schiebetür.
Ein alter Speisenaufzug, vor ewigen Zeiten installiert und längst in Vergessenheit geraten.
Die Natter schob die dünne Holztür auf. Dahinter war der Schacht, der zu den einzelnen Etagen führte und bis zum Speicher reichte. Dort oben, das wusste die Natter – schließlich hatte er das System selber umgestaltet –, waren zwei starke Plattformen, jede knapp dreißig Zentimeter breit und sechzig Zentimeter tief. Sie liefen auf Rollen, die über einen Seilzug betätigt wurden.
Die Natter griff ins Innere und packte das Seil. Sobald er daran zog, schwebte die erste Plattform geräuschlos nach unten, gefüllt mit elektronischem Equipment. Er nahm sich die Gegenstände, die er für den Job brauchte.
Kamera.
Stativ.
Laptop mit Digitalempfänger.
Und natürlich die externe Festplatte für das Backup. Er machte jedes Mal ein Backup, damit er auch nicht einen kostbaren Moment der Schönen Flucht einbüßte. Undenkbar. Schon bei der Vorstellung lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter.
Er packte das gesamte Equipment in den schwarzen Lederrucksack und stellte ihn neben die Durchreiche. Dann zog er wieder an dem Seil, die Plattform glitt nach oben, und er schloss die Tür. Hängte das Poster wieder davor.
Fast geschafft.
Er ging zu der einzigen Tür im Zimmer. Dahinter war ein kleines Bad mit Toilette und Dusche. Die Natter zog sich nackt aus, enthüllte Narben auf Rücken und Beinen – hässliche Striemen von den Prügelstrafen, die er bezogen hatte – und drehte den Duschhahn auf.
Das Wasser war kalt. Eiskalt. Hier unten gab es kein warmes Wasser, aber das war okay. Er nahm die Seife von der Ablage und schäumte sich damit akribisch Haare und Körper ein. Dann griff er sich die Rosshaarbürste und ließ sie hart über seine Haut kreisen, bis sie krebsrot war.
Das tat er jedes Mal vor einem Job. Es gehörte für den weiteren Ablauf dazu.
Als er fertig war, etwa zwanzig Minuten später, fror er bis auf die Knochen, und seine vernarbte Haut war rau wie Sandpapier. Er stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und zog eine frische schwarze Jogginghose mit passendem Hoodie an.
Da war noch eine Sache.
Vielleicht das Wichtigste überhaupt.
Er ging zu seinem Computer und loggte sich ein. Er startete das Private-Search-Programm, navigierte zu seiner MyShrine-Seite. Sobald er eingeloggt war, begann er zu tippen. Die Mitteilung war kurz und kryptisch:
… ich sah sie zuerst in Afghanistan und Kandahar. In menschlicher Gestalt. Sie kamen in Reihen, Welle auf Welle von Masken.
Aber ich WUSSTE genau, was sie waren. Die anderen Soldaten waren vielleicht blind, aber ich nicht. Ich sah durch die Masken hindurch. Und ich hab sie alle durchschaut. Ein Soldat. Ein Gesandter. GOTTES WILLIGER VOLLSTRECKER!!!
Dann wurde ich, wie ich heute bin.
Es gibt nur eine Möglichkeit, einen Dämon zu töten. Einen gottverdammten Sukkubus. Und das ist durch das Herz.
Du fährst hinab. Hinab in den Schlund der Hölle, Held.
Kannst du deine Dämonen töten?
Ich weiß, ich kann meine töten …
Die Natter hörte auf zu tippen. Und las die Message durch.
Er war mit sich zufrieden.
Er drückte auf »Senden« und loggte sich aus. Irgendwann heute würde Detective Striker die Warnung bekommen. Aber wäre es noch früh genug? Und würde er den Sinn erkennen?
Es spielte letztlich keine Rolle.
Die Natter startete das KillDisk-Programm. Ein falsches Password, und die gesamte Festplatte wäre im Eimer. Er fuhr den Computer runter, schaltete das Gerät aus. Dann stand er auf und lief zu der Falltreppe. Er war verdammt gut in der Zeit, trotzdem … Er hatte noch eine Menge Arbeit vor sich.