10

Keine zehn Minuten später war Noodles bei ihnen, machte Fotos und nahm Proben. Er stand in gebückter Haltung auf dem niedrigen Speicher und stemmte sich stöhnend die Hände ins Kreuz.

»Wenn das so weitergeht, bin ich morgen früh noch hier«, lamentierte er.

»Mann, es bricht mir das Herz«, entgegnete Striker.

»Du hast gar keins.«

Der Mordermittler resümierte mental, was sie bislang hatten. Das gesamte Gebäude war inzwischen mit gelbem Flatterband abgesperrt, Cops bewachten die Eingänge.

Striker überließ alle weiteren Entscheidungen Mike Rothschild – einem erfahrenen Sergeant und vor vielen Jahren sein erster Chief.

Er kehrte mit Felicia zum Wagen zurück. Sie knallte die Beifahrertür zu und nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe. »Sieht mehr und mehr danach aus, dass an der Sache was faul ist«, gab sie zu bedenken.

Striker sank auf den Fahrersitz. Das Leder war kalt und steif in seinem Rücken. Er startete den Motor. Stellte Heizung und Gebläse an.

»Da könntest du verdammt Recht haben«, seufzte er schließlich. »Trotzdem deutet alles auf einen Selbstmord hin. Wir haben bislang nichts, was dagegen sprechen würde.«

»Auch keine Indizien?«

»Nein, es spricht alles für einen Suizid.«

»Den jemand gefilmt hat.«

Striker nickte. »Das bestreite ich gar nicht. Verdammt, ich hab schließlich gesehen, wie der Typ sich vom Acker machte. Es ist grausig, ganz ohne Zweifel. Aber was sagt das letztlich aus? Wir haben einen Typen im Nachbarapartment, der Mandy mit einer Videokamera filmt. Warum? Wir wissen bloß, dass er das Ding vor ihrem Fenster installiert und vor ihrem Tod ein Video gemacht hat. Und wir wissen, dass er versucht hat, die Videokamera verschwinden zu lassen, bevor wir das Ding zu fassen bekamen.«

»Vielleicht hat er uns gefilmt«, gab Felicia zu bedenken.

Bei ihrer Bemerkung schrillten bei Striker sämtliche Alarmglocken. An diese Möglichkeit hatte er noch gar nicht gedacht. Aber es war eine reale Möglichkeit. »Da könntest du Recht haben«, räumte er ein. »Einer von diesen YouTube-Idioten. Oder irgendein Typ, der das Video an die Medien verhökern will.«

»Alles sehr vage.«

»Stimmt«, sagte er. »Fakt ist, dass wir seine Motive nicht kennen. Verdammt, hätten wir doch wenigstens die Kamera!«

»Was ist mit dem Lederstreifen, der an der Glasscherbe hing?«

Striker wiegte den Kopf. »Den wird die Spurensicherung auswerten, genau wie den Handschuh – ich tippe mal, das Material ist identisch. Aber was beweist das letztlich?«

»Es beweist, dass wir es mit irgendeinem Irren zu tun haben.«

Striker lachte dumpf. »Die Welt ist voll von Irren, Feleesh. Bringt uns das irgendwie weiter? Dass jemand, der Mandy filmte, im Nebenapartment war? Er war auch in dem Nachbarhaus. Könnte sich genauso gut um einen durchgeknallten Hausbesetzer handeln.«

»Das glaub ich weniger.«

»Glaub ich auch nicht. Momentan tappen wir noch völlig im Dunkeln. Wir brauchen weitere Anhaltspunkte.« Er verstummte gedankenversunken und drückte ein paarmal aufs Gas, damit es im Wagen schneller warm wurde. Nach einer langen Weile drehte er sich abermals zu Felicia. »Falls Mandy dazu gezwungen wurde, eine Überdosis zu schlucken, dann waren die Pillen schon zu Pulver zerkleinert, als sie sie nahm – an ihren Mundwinkeln klebte eine weißliche Kruste.«

»Das kann auch angetrockneter Speichel gewesen sein«, gab Felicia zurück.

Striker bedachte sie mit einem Ich-bin-doch-nicht-blöd-Blick. »Sie hatte pudrig weißen Staub an den Lippen und winzige Krümel in den Mundwinkeln. Die Pillen waren zerstoßen, Feleesh; sie hat sie bestimmt nicht zerkaut. Entweder hasste sie es, Tabletten zu schlucken, und hat sie deshalb vorher immer zerkleinert, oder jemand hat sie gezwungen. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.«

Felicia schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper. »Glaubst du, sie hat sich gesträubt und es kam zum Kampf?«

»Jedenfalls hatte sie keine äußeren Verletzungen.«

»Könnte sie gefesselt gewesen sein?«

Striker zog gedankenvoll die Unterlippe zwischen die Zähne. »Ich hab keine erkennbaren Fesselspuren gefunden. Allerdings wäre das eine Erklärung – wenn sie vorher geschlagen, gefesselt oder mit Drogen vollgepumpt worden wäre. Ich tippe auf Drogen.« Er blätterte durch sein Notizbuch und notierte seine Theorien. »Außerdem gibt es haufenweise Beruhigungsmittel rezeptfrei in der Apotheke. Solche Pillen kann man, fein zerkleinert, heimlich in einen Drink geben.«

»GHB«, bemerkte Felicia.

Gamma-Hydroxy-Buttersäure war die angesagte Vergewaltigungsdroge auf dem Markt.

»Danach sind die Opfer völlig willenlos«, setzte sie hinzu.

»In höheren Dosen kann das Zeug einen umbringen«, sann Striker laut. »Das wäre natürlich eine Überlegung, die wir weiterverfolgen müssen. Ein Fall von Vergewaltigung, der schiefgelaufen ist.« Er notierte sich das in seinem schlauen Buch. »Die toxikologischen Tests werden uns darüber Aufschluss geben.«

Sein Handy vibrierte in der Jackentasche. Er zog es heraus und las das Display: Larisa Logan. Er schüttelte den Kopf, drückte leise fluchend auf den »Ignorieren«-Button und steckte das Handy wieder weg.

»Wer war das?«, wollte Felicia wissen.

Striker warf ihr einen düsteren Blick zu, aber Felicia ließ nicht locker.

»Larisa Logan«, räumte er mürrisch ein, »arbeitet in der Abteilung Opferhilfe. War das dritte Mal, dass sie mich innerhalb von zwei Tagen angerufen hat.«

Felicia schüttelte den Kopf. »Und wieso nimmst du das Gespräch nicht an? Ruf die Frau doch wenigstens mal zurück.«

Statt einer Antwort nestelte Striker an der Klimaanlage herum.

»Jacob?«, bohrte Felicia.

Er seufzte resigniert. »Larisa ist die Therapeutin, die nach Amandas Tod die Sitzungen durchführte, zu denen unsere Abteilung mich verdonnerte, okay? Das war diese Woche ihr fünfter Anruf.«

»Und wieso rufst du nicht mal zurück?«

»Weil ich mir schon denken kann, was sie will.«

»Und, was will sie?«

»Ihren jährlichen Psycho-Check mit mir machen, hundertpro – die Frau ist hartnäckig.«

»Dann mach ihn doch einfach.«

Striker schwieg und atmete tief durch. Die Sitzungen mit Larisa Logan gingen ihm mächtig an die Nieren, weil sie unendlich viele schmerzvolle Erinnerungen weckten. Und er hatte schon genug mit seiner Arbeit und seinem Privatleben zu tun. Er konnte nachts nicht mehr richtig schlafen. Hinzu kam seine Beziehung mit Felicia: Mal lief was zwischen ihnen, dann wieder nicht – er wusste nicht wirklich, woran er bei ihr war. Im Moment war es wieder mal aus zwischen ihnen, und das machte ihn fertig. Jedes Mal, wenn er sie fragte, wo das Problem sei, antwortete Felicia ausweichend: »Wir haben einfach zu viele Probleme miteinander.«

Das war ihre Standardantwort.

Seit einiger Zeit wurde anscheinend alles zum Problem. Es gab nichts Positives in seinem Leben. Der Dauerstress im Job und zu Hause stand ihm bis Oberkante Unterlippe. Eine Nervensäge wie Larisa Logan fehlte ihm da gerade noch.

Er sträubte sich dagegen, sich erneut mit Amandas Depressionen und ihrem Suizid auseinanderzusetzen. Ganz entschieden.

»Oooh«, entfuhr es Felicia bestürzt. »Grundgütiger, Jacob, es tut mir leid. Das war echt bescheuert von mir.«

»Was?«, hakte er irritiert nach.

»Mein Verhalten. Ich meine, wir ermitteln hier bei einem Selbstmord, und die Tote hieß so ähnlich wie deine Frau. Mandy. Die Kurzform von Amanda. Entschuldige, ich hab nicht darüber nachgedacht …«

»Komm wieder auf den Teppich, Feleesh. Außerdem ist Amanda schon eine ganze Weile tot.«

»Na und? Mein Gott, ich blöde Kuh …«

»Vergiss es.«

Sie musterte ihn, unschlüssig, wie sie reagieren sollte. Schließlich blieb sie stumm. Sie kurbelte das beschlagene Seitenfenster runter und wieder hoch. Wischte mit dem Mantelärmel hektisch über die weiß bedampfte Scheibe.

»Vielleicht solltest du dich doch noch mal mit Larisa treffen.«

Striker stöhnte inbrünstig. »Oh Gott, nicht du auch noch. Tu mir den einen Gefallen und behalt’s für dich, Feleesh.«

»Ich mein doch bloß …«

»Vergiss es, und kümmer dich um deine Angelegenheiten, okay?«

Felicias Augen wurden schmal. Sie schüttelte wütend ihre lange, dunkle Mähne zurück. Öffnete die Lippen und schloss sie unverrichteter Dinge wieder.

Striker kümmerte es nicht weiter. Er hatte keine Lust auf Smalltalk oder irgendwelchen anderen Scheiß. Und noch weniger Bock auf einen Streit.

Die DNA-Tests hatten absolute Priorität.

Zornesblind
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