13

»Wir müssen mehr über Mandy in Erfahrung bringen«, sinnierte Striker laut.

Das Opfer kennen lernen. Das war wichtig und stand ganz oben auf seiner Prioritätenliste. Okay, Mandy war keine Unbekannte für ihn, seitdem sie und Courtney vor Jahren dieselbe Schule besucht hatten. Und er hatte letztes Jahr ein paarmal mit ihr zu tun gehabt, als er Bernard Hamilton vertreten hatte.

Hamilton arbeitete mit einem Sozialarbeiter zusammen, in einer mobilen Einheit des VPD Mental Health Teams, die sich um die Durchgeknallten der Downtown East Side kümmerte.

Was war in der Zwischenzeit mit dem Mädchen passiert?, grübelte Striker finster.

Felicia schloss ihren Sicherheitsgurt, und Striker fuhr in Richtung Innenstadt. »Ich überprüf inzwischen die CAD-Aufzeichnungen«, sagte sie. »Mal sehen, was in der Gegend los war, als Mandys Anruf einging.«

Striker nickte zustimmend.

CAD, das war das »Computer Assisted Dispatch«-System, das Notrufe und allgemeine Anfragen aus der Bevölkerung protokollierte. Es dokumentierte jeden Anruf, den ein Kollege entgegennahm. Vielleicht fand sich da ja eine brauchbare Spur.

Himmel, es war völlig egal, womit sie anfingen.

Sie fuhren zum Präsidium. Auf der Fahrt muffelte Felicia irgendwas von »Scheißlanger Arbeitstag, der wohl nie aufhört«. Striker warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie hatte die Lider halb gesenkt, dunkle Ränder zeichneten sich unter ihren Augen ab. Sie brauchte dringend eine Koffeindröhnung. Also machte er einen kurzen Abstecher zum nächsten Starbucks Drive-Thru. Er bestellte sich einen großen Americano, schwarz, und einen Proteinriegel.

»Was möchtest du?«, fragte er seine Kollegin.

»Eggnog latte. Und eine Himbeerschnitte mit Zitronencremesahne obendrauf.«

»Was Dekadenteres fällt dir zur Abwechslung mal nicht ein?«

»Jacob, ich sterbe vor Hunger und brauch dringend einen Kaffee. Im Übrigen geht das auf dich. Du hast immerhin noch was gutzumachen, nach dem Scheiß im Labor.«

Er grinste. »Okidoki.«

Striker reichte Felicia das Tablett und bezahlte. Dann brauste er zur Main Street 312. Präsidium.

Abteilung: Morddezernat.

Eine halbe Stunde später lehnte Striker sich auf seinem Bürostuhl zurück und rieb sich die trockenen Augen. Weil sein Computermonitor Müll war – das Bild unscharf, nichts ließ sich mehr vernünftig einstellen.

Er blinzelte zu Felicia hinüber. Sie hatte den besseren Bürostuhl, Leder mit ergonomisch geformter Rückenlehne, und einen von den hochmodernen Flachbildschirmen mit sämtlichem Schnickschnack.

»Wie bist du eigentlich an die neuen Sachen gekommen?«, wollte er wissen. »Mein Antrag läuft schon seit über einem halben Jahr, und ich krieg nichts bewilligt.«

»Beziehungen«, sagte sie lapidar und las weiter.

Striker schwieg. Er streckte die Arme nach oben und fühlte, wie es in seinem Rücken knackte. Er starrte aus dem Fenster. Draußen war es stockdunkel und bestimmt schweinekalt.

Er war froh, dass er in seinem warmen Büro saß.

Plötzlich fiel ihm Courtney ein. Er rief zu Hause an und drückte den Knopf der Freisprechanlage, um beim Telefonieren die Hände frei zu haben. Beim sechsten Klingeln sprang der Anrufbeantworter an. Seine Tochter hatte mal wieder den Text geändert. Das machte sie jede Woche:

»›If you like it then you better put a ring on it‹«, sang sie. »Sie können jedoch auch eine Nachricht hinterlassen.«

Der Text kam ihm zwar bekannt vor, er konnte ihn jedoch nicht einordnen. Vermutlich wieder irgendein angesagter Hit.

»Hier ist Dad«, meldete er sich. »Los, geh ran.«

Als Courtney nicht abnahm, wiederholte er seine Ansage, dann drückte er frustriert aus.

Felicia drehte sich in ihrem Sessel zu ihm. »›Single Ladies‹«, sagte sie.

»Hä?«

»Der Song auf dem Anrufbeantworter. Das war ›The Single Ladies‹ von Beyoncé.«

Striker nickte kurz. »Aha.«

Sie musterte ihn von oben bis unten. »Du hast keine Ahnung, stimmt’s?«

»Hab ich wohl. Beyoncé – das ist doch der Leadsänger von Guns ’N’ Roses, oder?«

Felicia prustete los, woraufhin Striker verständnislos grinste.

»Meine Augen fühlen sich an wie Sandpapier«, erklärte er.

Sie brach ein Stückchen von ihrer Himbeerschnitte ab und schob es ihm in den Mund. »Hast du schon irgendwas?«

»Außer wahnsinnigen Kopfschmerzen? Nein, nicht wirklich.« Er kaute und schaute dabei auf seinen Monitor, auf den er vier Seiten von PRIME geladen hatte.

Das »Police Records Information Management«-System, kurz PRIME, war eine riesige Datenbank, die alles enthielt von den üblichen Polizeiberichten bis hin zu hochsensiblen Geheimdienstdateien. Es war eine von zwölf unterschiedlichen Datenbanken, auf die die Cops Zugriff nahmen.

Alle waren essenziell.

Striker räusperte sich. »Hier steht jede Menge über Mandy. Die meisten Dateien betreffen ihre labile mentale Verfassung. Sie war sehr krank. Wird überall als EDP aufgeführt.«

EDP – Emotionally Disturbed Person –, das bedeutete emotional gestörte Persönlichkeit.

»Außerdem wurde sie zigmal auf der Straße aufgegriffen«, fuhr er fort. »Bei routinemäßigen Streifeneinsätzen, weil sie sich auffällig benahm. Randalierte draußen herum und machte Leute an, vermutlich, weil sie dringend Medikamente brauchte. War völlig neben der Spur. Wurde etliche Male in die Psychiatrie vom St. Paul’s eingewiesen. Mit ihrer Einwilligung. Folglich war ihr zumindest bewusst, dass sie psychische Probleme hatte.«

Felicia warf einen Blick auf seinen Monitor und zog die Stirn hoch. »Hey, einige Berichte sind ja von dir.«

Striker nickte. »Ich hab Bernard Hamilton mehrfach bei der mobilen Einheit vertreten. Außerdem kenne ich Mandy von früher her. Sie war auf derselben Schule wie Courtney.«

»Oh, da ist sie aber tief gesunken, die Ärmste«, meinte Felicia. »Was ist mit ihren Eltern?«

»Ihre Mutter starb vor ein paar Jahren an Krebs. Mandys Vater sitzt im Knast.«

»Weswegen?«

Striker druckste eine Weile herum, bevor er damit herausrückte: »Nach dem Tod ihrer Mutter, als Mandy noch in Dunbar wohnte, ging sie, wie gesagt, auf die St. Patrick’s High. Die beiden Mädchen kannten sich.«

»Woher?«

»Vom Herumhängen und heimlich Rauchen – ich hab Courtney vor dem Schultor erwischt. Ich war auf hundertachtzig.«

Felicia musste grinsen.

»Auch egal«, wiegelte Striker ab. »Um die Zeit verschlimmerte sich Mandys Depression. Ich hab sie mindestens ein halbes Dutzend Mal aufgegriffen, nachdem sie von zu Hause weggelaufen war. Und ihrem Vater jedes Mal eingebläut, dass sie regelmäßig ihre Medikamente nehmen müsse. Es war immer dasselbe.«

Felicia hörte ihm aufmerksam zu. »Und?«

»Damals wusste ich noch nicht, dass sie von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde. Das war mit ein Grund für ihre Depression und warum sie dauernd von zu Hause ausriss.« Er schüttelte betroffen den Kopf. »Sobald ich sie aufgriff, brachte ich sie immer wieder zu diesem Monster. Das werd ich mir nie verzeihen.«

»Hat sie dir gegenüber denn nie was rausgelassen?«

»Nein, aber ich hätte es selbst merken müssen. Irgendwelche Anzeichen, unterschwellige Signale. Aber ich war dermaßen auf Amandas Probleme fixiert, dass ich nichts raffte.«

»Es war eine schlimme Zeit für dich, Jacob.«

»Glaub mir, für Mandy auch.« Er schob die Tastatur von sich und rieb sich die Augen. »Als ihr Vater geschnappt wurde, war es schon zu spät. Mandy wurde eine Zeitlang vom Jugendamt betreut, aber du weißt, wie das ist. Sie kam bei diversen Pflegefamilien unter, und ich hab mich, ehrlich gesagt, nicht mehr darum gekümmert. Wären die Probleme mit Amanda nicht gewesen, hätte ich das Mädchen … Ah, fuck, ich hätte sie bei uns aufnehmen sollen!«

Felicia berührte sanft seinen Arm. »Du kannst die Welt nicht retten, Jacob.«

»Sie war noch ein halbes Kind.« Er blickte abermals auf den Bildschirm und fühlte sich miserabel. »Und sie hatte keine Geschwister. Bloß einen Cousin, James John Gill. Du kennst ihn vielleicht eher als Jimmy J.«

»Jimmy J? Du meinst Gonzo

»Genau der.«

Felicia überlegte. »Ist der nicht vor sechs Monaten gestorben? Bei der Laborexplosion in Blenheim?«

Striker nickte. »Hat sich mit in die Luft gejagt.« Nach einer kurzen Weile setzte er hinzu: »Die Kohle wurde nie komplett gefunden.«

»Ist wahrscheinlich mit in die Luft gegangen.«

»Meinst du?« Das war zwar durchaus möglich, aber ohne Beweise ging gar nichts - definitiv nicht in ihrem Business. Striker schrieb kurz etwas in sein Notizbuch, dann nahm er seinen halbvollen Kaffeebecher und drehte ihn in den Händen. Er wollte sich eben wieder seinem Monitor zuwenden, als Felicia ein leises Mhmhm entfuhr.

»Was gefunden?«, erkundigte er sich.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Hör mal kurz. Da ist eine Anzeige reingekommen. Brandneuer SUV, BMW …«

»Wahrscheinlich ein X5.«

»Kann sein.« Felicia hatte es nicht so mit Automarken und -modellen. »Ist auch egal. Fünf Minuten nachdem du den Hundeführer angefordert hattest, ging die Anzeige ein. Dieser Typ muss förmlich geflogen sein. Hatte laut Anzeige über hundert Sachen drauf. Und ein Stoppschild überfahren. Fast wäre es zu einem Unfall gekommen. Der Typ ist einfach weitergebrettert.«

»Wo war das?«

»An der Kreuzung Vernon Drive und East Hastings Street.«

»Ein paar Blocks weiter hat Mandy gewohnt«, überlegte Striker laut.

Felicia nickte. »Ist verflucht nah dran. Der Wagen raste in nördliche Richtung, bog dann scharf nach links auf die Franklin. Danach hat der Typ, der Anzeige erstattete, das Fahrzeug aus den Augen verloren.«

»Irgendwelche Einzelheiten?«

Sie las vor. »Das Fahrzeug war dunkel, möglicherweise schwarz, mit viel Chrom.«

»Das ist die Standardausführung ab Werk. Nummernschild?«

Felicia schüttelte bedauernd den Kopf. »Da konnte er nichts erkennen.«

Striker kippte den mittlerweile kalten Kaffee in einem Schluck hinunter und sprang auf.

»Er nicht, aber wir vielleicht«, grinste er. Er schnappte sich sein Notizbuch.

»Wohin willst du?«, fragte Felicia.

»Los, schwing dich in deinen Mantel«, antwortete er. »Wir fahren zur Vernon und Hastings. Die Ecke kenn ich. Ein Stück hinter der Kreuzung ist eine Chevron-Tankstelle.« Sein Grinsen wurde breiter. »Mit Videoüberwachung.«

Zornesblind
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