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Hermon Drive war ein Komplex aus Sozialwohnungen in District 2, ziemlich weit draußen in North Renfrew. Obwohl die Gegend einen schlechten Ruf hatte, sah es hier optisch ein bisschen besser aus als die Skids und die Betonwüsten der Slums in der Raymond Street, aber das war viel Augenwischerei. Auf dem kurzen Stück Straße standen kleine Häuser aus den fünfziger Jahren, in denen Einkommensschwache und Arme lebten.
Eben Leute wie Sarah Jane Rose.
Striker und Felicia konnten die vielen Male nicht mehr zählen, die sie hier gewesen waren. Immer war es um Drogengeschichten und ausgeflippte Typen gegangen. Sie fuhren den East Broadway hinunter, parkten einen halben Block entfernt und gingen zu Fuß weiter. Die Sonne hing wie eine blassgelbe Frisbeescheibe am Himmel, und sie mussten beim Laufen gegen den eisigen Wind ankämpfen.
Unterwegs registrierte Striker Horden von Jugendlichen und Kindern, die sie beobachteten. Halbwüchsige, von denen die wenigsten jemals einen Schulabschluss sehen würden, aber dafür waren sie stark auf der Straße. Das mussten sie auch sein, um hier zu überleben.
Ein paar Kids zeigten auf das Ermitttlerduo und riefen: »Six up!«
Straßenslang für Bullen gesichtet.
Felicia lächelte. »Die lassen sich nicht verarschen.«
Striker nickte zustimmend. Die Einzigen, bei denen die Masche mit Zivilwagen und -kleidung funktionierte, waren die ganz normalen Leute in den mittleren und teuren Wohngegenden. Kriminelle und Arme erkannten Cops auf den ersten Blick. Kriminelle, weil sie dauernd eingebuchtet wurden. Arme, weil sie in den meisten Fällen die Opfer waren.
Sie lokalisierten 3103 Hermon Drive, und Striker ging langsamer. Die Hälfte der Häuser sah aus, als könnte sie im nächsten Moment einstürzen.
Die Wohnung von Sarah Rose war in einem dieser heruntergekommenen Reihenhäuser, deren Fenster teilweise mit Brettern vernagelt waren, der schmuddelige Anstrich blätterte ab. Sarahs Apartment war am Ende der kleinen Straße, neben einem Spielplatz, wo selten Kinder spielten. Im Haus war Licht, es war jedoch niemand zu sehen.
»Soll ich nicht besser Verstärkung anfordern?«, erbot sich Felicia.
Striker schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Gib durch, wo wir sind.«
Felicia informierte die Zentrale über Handy, wo sie sich befanden. »Wir sind im Einsatz«, schob sie nach. Als sie geendet hatte, passierten sie gerade zwei Büsche, die einen Hauszugang flankierten.
Striker trat unter die Eingangspergola und inspizierte die Tür. Sie war aus massivem Holz und heller als der Rahmen. Als er die Aufhängung untersuchte, stellte er fest, dass die Tür nach außen aufging. Das war untypisch für solche Häuser. Bei der Tür zum Nachbarhaus war es nämlich anders. Dort war das Holz dunkler, älter.
»Stand im Computer irgendwas von einem Einbruch?«, wollte er von Felicia wissen.
»Nein, in PRIME war nichts aufgeführt.«
Das gefiel ihm gar nicht. Die Tür war aus irgendeinem Grund gegen eine massivere ausgewechselt worden. Warum? Hatte Sarah Rose Angst vor irgendetwas? Oder vor jemanden?
Er klopfte mit der Faust auf das Holz. Tock-tock-tock. Solide Qualität, stellte er fest. Während sie auf eine Reaktion warteten, sah der Ermittler sich kurz hinter dem Haus um, das ähnlich reparaturbedürftig wirkte wie die anderen. Feucht war es auch, vermutlich durch einen Wasserschaden. Auf der anderen Straßenseite, in einer der Parterrewohnungen, stand jemand hinter der Gardine und beobachtete sie. Striker nickte zu dem Mann, bekam jedoch keine Reaktion.
Das war typisch für die Gegend: Die Bewohner hatten grundsätzlich eine Aversion gegen die Polizei.
»Keiner zu Hause«, meinte Felicia.
Striker klopfte energischer. Er stemmte sich über das Außengeländer, bemüht, einen Blick in die Küche zu erhaschen, die untere Hälfte des Fensters bestand jedoch aus einer Milchglasscheibe, und die obere war zu hoch. Er drückte die Klinke hinunter, aber die Tür war verschlossen.
»Gibt es irgendeine Telefonnummer für das Haus?«, fragte er.
Felicia schüttelte den Kopf. »Da ist nichts aufgeführt. Info hat auch nichts gespeichert.«
»Bleib du vorn«, wies er sie an.
Er machte sich auf den Weg zu dem verlassenen Spielplatz. Zwischen seine Brauen schob sich eine tiefe Falte. Die Rückseiten der Häuser drängten sich dicht aneinander und hatten alle keine Fenster nach Süden, stellte er fest.
Und keinen Hinterausgang.
Die Fronttür war der einzige Zugang.
Bei seiner Rückkehr nickte Felicia zu dem Nachbarhaus. »Da ist auch keiner«, bemerkte sie. »Scheint, als wäre es nicht mal vermietet.«
»Überraschung.« Striker zog ein Klappmesser aus der Tasche und ließ die Klinge aufspringen.
»Was hast du vor?«, fragte seine Kollegin.
»Mir Zugang zu verschaffen.«
»Mit welcher Begründung?«
»Zwingende Umstände.« Er untersuchte das Schloss. Es war aus Stahl und schien sehr stabil, aber der Holzrahmen der Tür war alt und verzogen. »Mandy Gill ist tot. Billy Mercury ist abgetaucht. Und Sarah Rose geht nicht an die Tür.«
»Das muss nichts bedeuten. Vielleicht ist sie bloß kurz einkaufen gegangen. Und wir haben Billys Adresse noch nicht gecheckt.«
»Das hier ist jetzt wichtiger.«
»Wir wissen nicht mal, ob Sarah Rose noch hier wohnt«, gab seine Partnerin zu bedenken.
Striker grinste bloß. »Das werden wir gleich herausfinden.«
Striker schob sein Messer zwischen Schloss und Rahmen und übte Druck aus, bis er ein lautes Knacken hörte. Die Tür gab nach und schwang nach außen auf.
Felicia zog fluchend ihre Pistole. »Verdammt, hoffentlich kommen wir damit vor Gericht durch.«
»Mein Problem, nicht deins«, entgegnete er und betrat den Flur.
Das Erste, was ihm auffiel, war der Geruch: Es stank nach Verbranntem. Direkt vor ihm führte eine schmale Treppe nach unten. Etwas verblüfft versuchte Striker, sich den Grundriss des Hauses zu vergegenwärtigen. Erdgeschoss und erste Etage gehörten zu der rückwärtigen Wohnung, während Sarah Rose im Souterrain wohnte. Und die schmale Treppe war der einzige Zugang.
»Dieses Apartment gehört verboten«, meinte Felicia. »So eine menschenunwürdige Behausung!«
Striker blieb stumm. Er blickte die Stufen hinunter. Am Ende der Treppe schimmerte ein dünner Streifen Licht. Künstlich, kein Tageslicht. Trübe und dämmrig grau.
»Seltsam, da unten ist Rauch«, stellte Felicia fest.
Kaum hatten sich Strikers Augen fokussiert, sah er es auch: ein dünner Rauchschleier. Ihn beschlich spontan ein unbehagliches Gefühl, als er das trübe Dämmerlicht im Souterrain registrierte. Der Rauch schien auf der rechten Seite dichter – da war vermutlich die Küche. Schwer einzuschätzen von seinem derzeitigen Standort aus.
»Hallo?«, rief der Ermittler. »Polizei von Vancouver. Ist da jemand?«
Als er keine Antwort bekam, nickte er zu Felicia. »Wir bleiben zusammen. Keine Möglichkeit der Deckung.«
»Halte dich dicht an der Wand«, riet sie ihm.
Er nickte wortlos.
Sie stürmten die Stufen hinunter. Striker schwang sich mit einem eleganten Satz auf den harten Zementboden.
Der Brandgeruch war hier unten stärker. Mit einem Blick hatte er auf der rechten Seite das leere Wohnzimmer mit Küchenbar erfasst, am Ende des Flurs befand sich links ein weiterer Raum. Ganz egal wie sie vorgingen, es gab wenig Deckungsmöglichkeit.
Umso schlimmer.
Er blickte sich kurz um. Im Wohnzimmer lief der Fernseher ohne Ton. Auf dem Tisch stand ein Tetrapack mit Wein, daneben lagen ein paar Pillenröhrchen und eine Tüte Mrs. Vickie’s Sea Salt & Vinegar Chips.
»Behalt den Flur im Auge«, wies er seine Partnerin an.
»Wird gemacht.« Sie brachte sich hinter ihn. Die Wand bot nicht wirklich Deckung.
Striker inspizierte Wohnraum und Kitchenette. Auf dem Herd stand eine gusseiserne Pfanne, die Herdplatte glühte rot. Sie war auf die höchste Stufe gestellt. Striker warf einen Blick in die Pfanne, aus der der verbrannte Geruch hochstieg. Er runzelte die Stirn.
»Verbrannter Pulverkaffee.«
»Ach du heilige Scheiße«, rutschte es Felicia heraus.
Sie sprach Striker aus der Seele. Früher, als es noch kein entsprechendes Equipment gab, hatten Cops – und Mörder – Instantkaffee verbrannt, um Verwesungsgeruch zu überdecken.
Die kokelnde Pfanne war kein gutes Zeichen.
Er stellte die Kochplatte aus.
Nachdem Küche, Bad und Wohnraum gecheckt waren, glitt er durch die Diele zum Schlafzimmer. Die Tür stand halb offen, es brannte Licht. An den Türsturz gepresst, spähte er ins Zimmer.
Das Bett war zerwühlt, Kleidungsstücke lagen überall am Boden verstreut, auf dem Toilettentisch stapelten sich alte Zeitungen. Und ein paar Tablettenpackungen. Sämtliche Schubfächer standen offen. Es sah chaotisch aus, dennoch war der Raum leer. Der Schrank auch.
Striker nahm eins von den verschreibungspflichtigen Medikamenten von dem Konsolenschränkchen. Die Schrift auf dem Röhrchen war zwar verblasst, aber der Name noch ganz gut lesbar.
Sarah Jane Rose.
»Wir sind definitiv an der richtigen Adresse«, rief er. »Sie wohnt hier.«
Er gesellte sich zu Felicia in den Flur und ging voraus. Mit gezogener Waffe pirschte er durch den Korridor weiter nach links. Hier brannte kein Licht. Striker fühlte sich zunehmend unbehaglich.
Ein paar Schritte weiter, und das unbehagliche Gefühl verstärkte sich. Der verbrannte Geruch des Instantkaffees verlor sich und wurde von einem anderen, vertrauteren Gestank überlagert.
»Scheiße, wir haben uns wohl wieder eine Leiche eingefangen«, muffelte Felicia.
Striker nickte. »Scheint mir auch so.«
Er kniff die Augen zusammen, bemüht, in dem milchigen Dämmerlicht etwas zu erkennen. Der Korridor war lang und so schmal, dass man sich kaum drehen konnte. Am Ende des Gangs eine weitere Tür. Ein Arbeitszimmer oder vielleicht ein weiteres Schlafzimmer. Egal, es war ein Scheißspiel. So oder so.
»Bleib du hier«, wies er Felicia an.
»Wieso?«
»Tu, was ich dir sage.«
»Nein, ich komme mit.«
Striker konzentrierte sich auf die Dunkelheit. »Das ist eine gottverdammt brenzlige Situation, Feleesh. Falls jemand das Feuer eröffnet, sind wir beide geliefert. Bleib hinter mir und versuch wenigstens, mir Deckung zu geben.«
»Aber …«
»Kein Aber. Tu einfach, was ich dir sage.«
Felicia schwieg. Sie positionierte sich im Rahmen der Wohnzimmertür, um ihrem Kollegen besser Deckung geben zu können. Striker schob sich langsam durch den Gang. Mit jedem Schritt verstärkte sich die Dunkelheit – und der Gestank. Stickig, faulig … verwest.
Er erreichte die Tür zum letzten Zimmer, spähte um den Rahmen herum, inspizierte den schwach erhellten Raum. An der hinteren Wand, ziemlich weit oben, war ein kleines, mit vier Eisenstäben vergittertes Fenster eingelassen. Wahrscheinlich, damit wenigstens ein bisschen Tageslicht ins Zimmer fiel.
In dem diffusen Dämmerlicht konnte Striker einen Klappsessel ausmachen, in dem eine Frau saß. Sie hatte die Füße hochgelegt, das Gesicht war von ihm abgewandt. Eine Hand baumelte über der Armlehne, die Finger zur Faust verkrampft.
Striker sondierte mit Blicken das Zimmer. Als er niemanden sonst entdecken konnte, betrat er den kleinen Raum und umrundete den Sessel.
Als er das Gesicht der Frau sah, krampfte sich seine Magengrube zusammen.
Es war die Frau auf der Fotokopie, die Dr. Ostermann ihnen mitgegeben hatte. Es war Sarah Jane Rose. Und nach der Totenstarre zu urteilen, war die Frau schon länger tot. Sie waren schon wieder zu spät gekommen.
Eine weitere Frau war tot.