21

Sie schritten durch die Diele zum Ausgang.

Striker wollte nach der Türklinke greifen, als die Tür unvermittelt aufsprang und ein Schwall eiskalter Luft in die Eingangshalle drängte. Die beiden jungen Leute, die Striker auf den Fotos in der Bibliothek gesehen hatte, betraten das Haus.

Der junge Mann schob sich als Erster in den Flur. Er mochte so um die siebzehn sein. Seine Bewegungen waren eckig und ungelenk, wie es bei Jugendlichen der Fall ist, die gerade einen Wachstumsschub durchmachen. Die kohlschwarzen Haare gekonnt lässig gestylt, fixierte er Striker, in seinen durchdringend grünen Augen ein Hauch von Ambivalenz.

»Ah, da seid ihr ja«, rief Dr. Ostermann. Er zeigte auf den jungen Mann. »Das ist mein Sohn Gabriel.«

»Nett, Sie kennen zu lernen, Gabriel«, sagte Striker.

Felicia sagte: »Hallo.«

Gabriel musterte die beiden schweigend. Sein Blick länger auf Felicia gerichtet.

»Hallo«, sagte er dann und grinste.

»Und das ist Dalia«, fuhr Dr. Ostermann fort.

Striker betrachtete die junge Frau. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Gabriel war durchaus vorhanden, fand er.

»Nett, Sie kennen zu lernen«, wiederholte er, an das Mädchen gerichtet.

Dalia zeigte keine Reaktion. Schließlich nickte sie beiläufig.

Striker fand ihr Verhalten seltsam. Felicias Miene suggerierte ihm, dass sie das ähnlich empfand. Er sah von Gabriel zu Dalia und spürte beinahe körperlich die unterschwellige Spannung, die sich im Foyer aufbaute.

Die beiden erwiderten den Blickkontakt, die grüne Iris des Jungen stechend und fokussiert, Dalias schwarze Augen schienen direkt durch ihn hindurchzusehen. Ihn zu analysieren.

Striker fühlte sich geradezu unbehaglich.

»Wir sollten jetzt wirklich gehen«, brachte Felicia schließlich heraus.

Bevor ihr Kollege antworten konnte, kam das Mädchen ihm zuvor. »Weshalb sind die beiden hier? Ist irgendwas?«, wollte sie von ihrem Vater wissen.

»Es ist nichts«, sagte er.

Dalias Augen wurden schmal. »Irgendwas muss doch sein, sonst wären sie nicht hier.«

»Das hat dich nicht zu interessieren, Mädchen«, versetzte der Mediziner gereizt. »Es betrifft die Klinik.«

Gabriels Gesicht hellte sich schlagartig auf. »Sind sie wegen Billy hier?«

»Jetzt reicht es mir aber!«, brüllte der Arzt.

Die beiden Jugendlichen gaben sich unbeeindruckt und verzogen keine Miene. Plötzlich tauchte Lexa oben auf dem Treppenabsatz auf.

»Dalia, Gabriel«, sagte sie weich.

Sie kam die Stufen herunter und versuchte, die beiden von ihrem Vater loszueisen – und von den Detectives. »Sie müssen entschuldigen, aber es ist … einfach viel Stress im Moment.« Ihr schönes Gesicht hatte einen harten Ausdruck angenommen, das Weiße in ihren Augen glitzerte verdächtig feucht.

Striker setzte sein verbindlichstes Lächeln auf. »Ich kenne das, ich bin selbst Vater einer Tochter.«

Lexa erwiderte darauf nichts. Sie scheuchte Gabriel und Dalia von ihrem Vater fort in Richtung der offenen Küche. Sie lief fast, dachte Striker, als müsste sie flüchten. Dabei sah sie noch ein-, zweimal über ihre Schulter, ihre Miene unergründlich.

Striker gefiel das gar nicht.

Als er sich wieder Dr. Ostermann zuwandte, sah der Mann aus, als litte er unter hohem Blutdruck. Sein Gesicht war ungesund gerötet, die Halsvenen zeichneten sich blau unter der Haut ab. Er nahm fahrig die Brille ab, wischte sich mit dem Ärmel die Stirn, dann schaute er abwechselnd von Striker zu Felicia.

»Entschuldigen Sie vielmals«, sagte er. »Ich wollte nicht … laut werden. Aber ich kann und werde nicht billigen, dass die Privatsphäre meiner Patienten angetastet wird. Das ist unethisch und nicht statthaft.«

Als Striker nicht reagierte, murmelte Felicia: »Wir verstehen Ihre Bedenken.«

Der Arzt nickte, als wäre er erleichtert. »Ich rufe Sie morgen früh an – gleich nachdem ich den Kontakt hergestellt habe.«

Die beiden Cops verabschiedeten sich. Kaum waren sie ins Freie getreten, fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Sie liefen zu ihrem Wagen und fuhren zum Tor. Von dort bogen sie auf die Straße und folgten der kurvigen Belmont Avenue. Erst eine gute Meile später fühlte Striker, wie die Anspannung von ihm fiel.

Felicia sprach als Erste. »Suuupersympathische Familie.«

»Mhm, aber nur, wenn du auf Horror stehst.«

Sie fuhren zur 41st Avenue. Dort war das Büro, wo Wagen 87 stand, die mobile Einheit vom Mental Health Team. Außerdem wurden in dem Büro auch die Personalakten aufbewahrt.

Das war ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

Wenn Dr. Ostermann nämlich mit dem Strathcona Mental Health Team zusammenarbeitete, dann hatte er zwangsläufig auch mit dem Team von Wagen 87 zu tun. Und wer mit dem Team von Wagen 87 zusammenarbeitete, musste einen ausführlichen Lebenslauf, Notfallnummern und ein polizeiliches Führungszeugnis beibringen. In dem Fall lagen die Unterlagen von Dr. Ostermann in ihrer Personalabteilung, und es lohnte bestimmt, einen Blick darauf zu werfen. Zumal Striker das dunkle Gefühl hatte, dass Dr. Erich Ostermann ihnen etwas verschwieg.

»Ich dachte, wir wollen zu Wagen 87. Müssten wir da nicht anders fahren?«, fragte Felicia, als er auf die 12th Avenue bog.

Striker nickte. »Doch, aber wir machen vorher noch einen Abstecher zum Vancouver General Hospital.«

Seine Kollegin kapierte. Da war die Pathologie.

Zornesblind
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