42

Die Adresse, die Striker von Dr. Ostermann bekommen hatte, war im zweihundertsten Block auf der Princess Avenue, und das Gebäude hieß zynischerweise Princess Place. Dabei handelte es sich um ein staatlich finanziertes Rehaprojekt für Drogenabhängige und psychisch Kranke, mit Wiedereingliederungshilfen durch Sozialarbeiter und medizinischer Betreuung vor Ort. Von dem rosa gestrichenen Gebäude platzte der Putz und hinterließ schartig weiße Narben in der Fassade. Sämtliche Fenster waren mit dunklen Eisengittern versehen.

Princess Place.

Nur dass hier keine Prinzessin lebte.

Felicia stieg als Erste aus dem Wagen. Ihr Blick glitt von dem Haus zu Striker. »Als wir das letzte Mal hier waren, hat Thunderchild versucht, dich mit einer Eisenstange abzumurksen.«

Striker grinste schief. »Ah, es geht doch nichts über schöne Erinnerungen, aber leider ruft die Pflicht.« Er überquerte die Straße zum Princess Place. Bevor er den Bürgersteig erreichte, flog die Eingangstür auf und krachte mit solcher Wucht vor die Wand, dass die Fensterscheiben klirrten. Eine winzige, erschreckend dünne Frau mit grellrot gefärbter Punkerfrisur stampfte heraus und bog nach Süden in Richtung East Hastings Steet.

»Verdammte Bande, haben meinen verdammten STEIN geklaut!«, zeterte sie und zeigte dem Haus den Stinkefinger.

Striker kümmerte sich nicht weiter um die randalierende Frau, denn Randale war typisch für die Oppenheimer-Gegend. Bevor er und Felicia ein Team wurden, war er hier jahrelang Streife gefahren und kannte sich aus. Ob Betrunkene mit Delirium tremens oder Drogensüchtige auf Turkey – er hatte die ganze traurige Bandbreite in diesem Rattenloch erlebt.

Er zeigte auf den Hauskomplex vor ihnen. »Bist du bereit für einen kurzen Trip auf dem Pfad der Erinnerungen?«

»Ehrlich gesagt hab ich meinen letzten Trip hierher noch nicht verarbeitet.«

Striker winkte sie achselzuckend ins Haus. Im Eingangsflur roch es nach Schweiß und Urin, und er rümpfte stöhnend die Nase.

Cracksüchtige und Junkies auf Entzug wuselten durch den Flur, alle nur noch einen kleinen Schritt entfernt vom Leben auf der Straße. Princess Place war das letzte Auffangbecken vor dem endgültigen sozialen Absturz. Es war hektisch und schmutzig und laut. Dauernd brüllte irgendein Irrer durch die Flure.

»Packen wir’s an«, seufzte Felicia.

Striker nickte knapp. Er spurtete die Stufen zu Zimmer 212 hoch. Sarah Roses Zimmer. Die Tür stand weit offen, und das Zimmer war komplett leer. Leergeräumt. Kein Tisch, kein Stuhl, kein Schrank. Es roch nach Desinfektionsmittel, als wäre eben sauber gemacht worden.

»Wieder eine Sackgasse«, bemerkte Felicia.

»Lass uns erst mal mit dem Personal sprechen«, schlug Striker vor. »Vielleicht hat sie ein anderes Zimmer bekommen.«

Sie liefen die Treppen wieder hinab. Unten angekommen, drang plötzlich lautes, wirres Geschrei zu ihnen – von weiter oben. Wahrscheinlich dritte Etage. Striker lauschte.

»Wieder irgendein selbstgemixter Medikamentencocktail oder Drogen«, tippte seine Kollegin.

»Was dachtest du denn? Immerhin sind wir in der Crackzentrale.«

Während Striker sich auf den Lärm konzentrierte, kam die Dürre mit der roten Irokesenfrisur von der Hastings zurück. Immer noch lautstark zeternd, dass jemand ihren Stein geklaut hätte. Strikers Blick schoss automatisch zu ihr. Einen halben Block weiter, auf der anderen Straßenseite der East Cordova, erhob sich der alte Ziegelbau, in dem das Büro des Sozialamts untergebracht war.

Er nickte zu Felicia. »Hast du noch deinen Kontakt von früher zu dem Sozialarbeiter?«

Sie nickte. »Ist zwar schon ein paar Jährchen her, aber ich glaube, er arbeitet noch hier.«

»Also, wenn Sarah Rose hier gewohnt hat, dann hat sie ihre monatlichen Schecks in diesem Büro abgeholt. Am besten, du hörst dich mal da drüben um, in der Zeit unterhalte ich mich hier mit dem Personal. Lass mal deinen geballten Charme bei dem Typen spielen. Versuch rauszukriegen, wohin sie Sarahs Schecks schicken.«

»Du meinst, falls sie überhaupt finanzielle Unterstützung bekommt. Aus den Unterlagen geht hervor, dass Sarah Rose längere Zeit im Riverglen untergebracht war. Gut möglich, dass sie inzwischen untergetaucht ist.«

»Hey, es ist einen Versuch wert, Feleesh. Von nichts kommt nichts, oder?«

Felicia nickte gedankenvoll. Sie ging zur Tür, stoppte und schnellte zu ihm herum.

»Bist du sicher, du kommst hier allein klar?«

Striker blickte durch das Sicherheitsglas in das Büro der diensthabenden Schwester, wo eine große, blonde Frau saß. Sie war über eins achtzig groß und kräftig. Striker kannte sie und nickte. »Keine Bange, ich bin nicht allein.« Er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. »Schneewittchen beschützt mich.«

Felicia bedachte die Schwester mit einem langen Blick, als wäre ihr nicht wohl dabei, ihren Kollegen mit dieser Walküre allein zu lassen. »Sei vorsichtig«, murmelte sie schließlich, ehe sie das Gebäude verließ.

Striker sah ihr nach, als sie die Straße überquerte und durch die Doppeltür mit den dunkel getönten Glasscheiben in der Amtsnebenstelle verschwand. Er riss sich aus seinen Gedanken und ging in Richtung Schwesternstation.

In dem abgeschirmten Sicherheitstrakt saß die Schwester. Striker fiel ihr Name nicht ein, aber sobald sie ihn sah, stand sie lächelnd auf und drückte ihm die Tür auf. Sie lehnte sich mit verschränkten Armen in den Rahmen, und Striker bemerkte ihren trainierten Bizeps.

»Constable Striker«, begrüßte sie ihn. »Oder sind Sie inzwischen schon Corporal?«

»Detective.«

»Detective? Na, aber hallo«, sagte die Frau. Sie hielt ihm die Hand hin, die er lächelnd ergriff. »Janice, falls Sie es vergessen haben sollten. Ich bin die diensthabende Schwester hier. Sie haben mir vor ein paar Jahren mal mächtig geholfen, als einer unserer Patienten ausrastete – wissen Sie noch … dieser Johnny Thunderchild.«

»Thunderchild.« Striker nickte. »Der war nicht ohne.« Er blickte sich im Foyer und den Fluren um. Etliche von den Patienten gafften ihn bereits an. »Was halten Sie davon, wenn wir alles Weitere in Ihrem Büro besprechen?«, schlug er vor.

Schwester Janice nickte.

»Kaffee?«, fragte sie, als sie im Schwesternzimmer saßen.

»Nein danke, keine Zeit«, antwortete Striker. »Ich bin hier, um mit Ihnen über eine Ihrer Patientinnen zu sprechen. Sarah Rose. Ich dachte, sie bewohnt Zimmer 212, aber da war keiner.«

Die Schwester schüttelte den Kopf. »Sarah. Gott, die wohnt schon fast ein Jahr nicht mehr bei uns. Also mindestens neun Monate. Das war außerdem vor ihrem Aufenthalt in Riverglen. Danach war sie schon mal für mehrere Tage wieder bei uns – das letzte Mal vor ein paar Wochen.«

»Wissen Sie, wo sie sich zur Zeit aufhält?«

Die Frau zog ein Was-weiß-ich-Gesicht und nahm sich einen Kaffee. Die schwarze Brühe sah stark und verdächtig abgestanden aus. Der Mordermittler beobachtete, wie sie einen dicken Schuss Sahne dazugoss.

»Wir haben keine Ahnung, wo Sarah sich aufhält«, räumte sie schließlich ein und nippte an ihrem Becher. »Die Frau war eines Tages auf und davon. Schlimm ist das. Man weiß ja, wo das endet. Wir hatten versucht, sie im Belkin House unterzubringen, aber dorthin wollte sie nicht. Ins Frauenhaus Lost Ladies auf der Marine wollte sie auch nicht. In so was war sie sehr … eigen. Irgendwann hat sie unsere Einrichtung auf eigene Verantwortung verlassen. Und mal ganz ehrlich, da haben wir alle aufgeatmet. Wir wollten sie bloß noch loswerden. Je eher, desto besser.«

Striker zog die Stirn in Falten. »Loswerden? Warum denn das?«

»Wegen Billy.«

»Billy Mercury?«

Die Schwester nickte. »Der Typ hatte anscheinend einen Narren an dem Mädchen gefressen. Wich nicht von ihrer Seite. Er war verrückt. Richtig psychotisch. Und nicht bloß wegen der Kleinen. Er war paranoid bei den Ärzten – erzählte jedem, der ihm zuhörte, dass sie medizinische Experimente an ihm machen würden. Mit irgendwelchem Zeugs, das die Army im Irakkrieg verwendet hätte. Dass sie alle mit der Pharmaindustrie unter einer Decke stecken und Patienten als Versuchsobjekte missbrauchen würden – Versuchskaninchen nannte er das.«

Striker klappte sein Notizbuch auf. »In Billys Akte steht, dass er Paranoia hat. Wahnvorstellungen.«

Janice trank einen Schluck Kaffee. »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Er war andauernd hier, schwafelte was von Dämonen, vom Teufel und von bösen Geistern. Nahm seine Medikamente nicht. Einmal ist er ohne erkennbaren Grund durch die Scheibe gekracht. Hat sich dabei böse die Hand verletzt. Musste mit siebzig Stichen genäht werden.«

»Schlimme Schnittwunde. War er high?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, war er nicht. Das ist ja das Merkwürdige. Wir nahmen ihm Blut ab, und der Test war negativ. Billy war absolut clean … Sie hätten mal sehen sollen, wie das Blut aus seiner Hand quoll, wir dachten schon, er hätte sich eine Arterie verletzt. Und Billy stand bloß da und starrte darauf, als hätte er noch nie etwas Schöneres gesehen.«

Striker, der sich alles notierte, blickte auf. »Noch weitere Auffälligkeiten?«

»Bei Billy? Ja, jede Menge. Nach dem Vorfall mit seiner Hand wurde es immer schlimmer. Er wurde richtig obsessiv bei Sarah. Behauptete, er wisse genau, dass sie ihm nachts etwas zuflüstern würde. Lauter solch irres Zeugs. Beteuerte, er würde Geräusche hören.«

»Was für Geräusche?«

Die Schwester zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das hat er nie gesagt, und wir haben auch nicht wirklich danach gefragt. Mir war bloß wichtig, dass Sarah von ihm wegkam. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Also, ehrlich gesagt, hatten wir richtig Bammel vor Billy. Als sie ihn ins Riverglen einwiesen, haben wir erst mal tief aufgeatmet. Weil wir dachten, der Typ bringt sonst irgendwann noch jemanden um. Sarah oder einen von uns.«

Striker hörte auf zu schreiben und sah sie eindringlich an. »Passen Sie auf sich auf, Janice, denn er ist wieder draußen.«

Ihre Miene erstarrte. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Die haben Billy wieder entlassen?«

Striker nickte. »Er wird ambulant therapiert.«

»Heilige Scheiße.«

Striker blickte zu den Zimmerschlüsseln, die an der Wand an einem Bord hingen. »Hat Billy eigentlich auch hier gewohnt?«

Janice verschluckte sich fast an ihrem Kaffee. »Hier? Nein, nie. Aber er kam wegen Sarah dauernd hierher. Die beiden nahmen am EvenHealth-Programm teil, müssen Sie wissen. Na ja, über den Erfolg lässt sich streiten.«

Striker merkte auf. »Sie sind wohl kein Fan von dem Programm, was?«

Sie winkte ab. »Das ist doch alles heiße Luft – genau wie der Arzt, der das Projekt initiiert hat. Alles bloß Image. Status. So macht der sein Geld, wissen Sie? Indem er Leute aus dem staatlichen Rehaprogramm loseist, damit es den Steuerzahler weniger kostet. Dafür wird er prozentual an den Einsparungen beteiligt.«

»Können Sie das beweisen?«

»Ist ein offenes Geheimnis in unserer Branche.«

Striker schwieg. Er machte sich eine Notiz, dann überflog er das Geschriebene. Die Namen sprangen ihn buchstäblich an: Billy Mercury. EvenHealth. Dr. Ostermann und Dr. Richter.

Psychische Erkrankungen und Medikationen: Darum schien sich alles zu drehen.

Er räusperte sich. »Und Sie haben wirklich keine aktuelle Adresse von Sarah Rose?«

Bevor Janice antworten konnte, klopfte Felicia an die Tür. Striker ließ sie rein. Ihre Augen funkelten wie schwarze Diamanten, während sie kurzatmig vom Laufen berichtete: »Ich hab sie. Sarahs aktuelle Anschrift. Im Osten von Vancouver. Mist, dass wir da nicht früher draufgekommen sind.«

»Wo?«

»Rat mal!«, grinste sie.

Ihr spöttischer Ton sagte ihm alles. »Oh, Scheiße, Hermon Drive.«

Zornesblind
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