55

Zwanzig Minuten später saß Felicia mit Dr. Ostermann und zwei Sanitätern im Krankenwagen. Die erste Diagnose war weniger schlimm als von Striker befürchtet: Sie hatte anscheinend keine Rippe gebrochen, Genaueres würde die Röntgenuntersuchung ergeben. Immerhin jedoch hatte sie starke Schmerzen.

Während ein Sanitäter Felicias Rippenbogen abtastete, lehnte Dr. Ostermann sich neben ihr zurück. Er hatte die Augen geschlossen und atmete schwer und ungleichmäßig. Er wischte sich mit dem Unterarm die verschwitzte Stirn. »Mir ist … schlecht«, sagte er schwach, bevor er sich in die Tüte erbrach, die ein Arzt ihm gegeben hatte.

Striker beobachtete Ostermann. Er schien völlig verändert gegenüber früher. Schwächer. Älter. Gebrechlich.

»Es ist vorbei«, erklärte Striker ihm.

Als Dr. Ostermann nicht reagierte, wandte Striker sich Felicia zu. Sie stöhnte zwar, als der Sanitäter sie untersuchte, schenkte ihrem Kollegen aber trotzdem ein gequältes Lächeln.

»Bist du okay?«, wollte Striker mindestens zum zehnten Mal von ihr wissen.

»Geh mal lieber und untersuch den Tatort oder so.«

»Ich gehe erst, wenn ich weiß, dass du okay bist.«

»Also wirklich, Jacob. Los, verschwinde, und kümmere dich um den Tatort.«

Er reagierte zunächst nicht. Er stand bloß da und schaute sie an.

Sie zu verlieren: Der Gedanke war ihm unerträglich. Verdammt, er hätte sie fast verloren.

Schließlich schüttelte er wie benommen den Kopf. »Ich werd mal sein Apartment checken«, sagte er.

Felicia schien erleichtert. »Tu das.«

Striker schloss die Türen des Krankenwagens. Bevor er ging fiel sein Blick auf den toten Billy Mercury, der lang hingestreckt auf dem Asphalt lag. In einem dunkel glitzernden, ovalen See aus Blut, sein Gesicht und seine Arme erschreckend blass. Blutleer.

Striker trat zu ihm. Er beugte sich über den Toten und betrachtete dessen Gesicht. Selbst im Tod sah Billy Mercury krank aus. Nein, richtig grausig. Die hochgezogenen Lippen entblößten gelbe, schief stehende Zähne, seine Pupillen waren schwarz und viel zu groß. Wie bei einer Puppe.

Dämonen, hatte der Kerl gesagt.

Striker schüttelte den Kopf. Billy Mercury war Kriegsveteran. Er hatte gekämpft. Und war daran zerbrochen. Es war traurig, wirklich traurig. Im Grunde genommen konnte der Mann nichts für seine psychischen Probleme. Dämonen hatte es viele in Billy Mercurys Leben gegeben.

Aber jetzt war es vorbei.

Striker blickte zu der Polizistin, die neben dem Toten stand. Eine junge Frau, höchstens dreiundzwanzig.

»Wer hat Mercurys Waffe an sich genommen?«, fragte er.

»Sergeant Rothschild, Detective.«

Er nickte. Rothschild hatte auch die Schrotflinte. Gut. Bei ihm waren die Waffen in guten Händen.

»Wenn Jim Banner von der Spurensicherung eintrifft, sagen Sie ihm, dass ich oben in dem Apartment bin, ja?«, wies er die junge Kollegin an.

Die Polizistin nickte, Striker entfernte sich vom Tatort. Er lief zum Parkplatz, notierte sich die Nummernschilder von Toyota und Van. Die beiden Besitzer waren innerhalb von Minuten ermittelt, sie wohnten in den Parterrewohnungen. Billy Mercury hatte mit den Fahrzeugen nichts zu tun.

Es war deprimierend, seufzte Striker.

Er hatte auf eine Spur gehofft.

Er konzentrierte sich wieder auf die Safe Haven Suites. Die Holzstufen knarrten laut unter seinen Schritten, als wollten sie ihn erneut warnen. Die Büchse der Pandora war geöffnet worden. Und er wollte wissen, was darin war.

Die Tür zu Billy Mercurys Apartment war kackbraun gestrichen. Darauf dick mit weißer Farbe:

103.

Die Tür stand offen, wenn auch nur ein paar Zentimeter.

Striker blieb im Eingang stehen und knipste die Taschenlampe an. Er mochte nichts überstürzen bei seinen Ermittlungen. Billy war exzessiv paranoid gewesen, mal sehen, was ihn in der Bude erwartete. Womöglich ein paar selbstgebastelte Sprengladungen.

Bomben.

Ohne die Tür weiter zu öffnen, leuchtete Striker mit der Taschenlampe in das Apartment. Er konzentrierte sich auf die Ränder der Tür. Sie war nicht präpariert, keine Kabel oder Drähte oder sonstige Kontakte. Erleichtert streifte er saubere blaue Latexhandschuhe über und verzog das Gesicht, als der Gummi seine verbrannte Hand touchierte. Er schob behutsam die Tür auf. Sie glitt geräuschlos auf, enthüllte das Innere des Apartments.

Die Beleuchtung war ausgeschaltet. Nur das rückwärtige Fenster ließ ein bisschen Tageslicht herein. Striker sondierte den Raum. Und war verblüfft.

Das Apartment war bis auf zwei Holzstühle und einen kleinen Tisch leer. Darauf standen ein alter Desktopcomputer und eine Maus mit Keyboard, daneben lagen ein Stapel Papier und diverse Pillenröhrchen.

Striker nahm den Blick von dem Computer und sah sich in dem kleinen Apartment um. Küche, Bad und ein Wohnraum, der zugleich als Schlafzimmer diente.

Allerdings gab es kein Bett. Nur eine Decke und ein Kissen lagen auf dem Boden. Wenigstens war der Boden sauber, die Decke ordentlich gefaltet. Billy Mercury hatte sein Bett gemacht, nachdem er am Morgen aufgestanden war.

Striker fand das merkwürdig. Es passte irgendwie nicht zu dessen Psychose.

In einer anderen Ecke lag ein Haufen Kleider. Alle frisch gewaschen, gebügelt und ordentlich gefaltet.

Das fiel dem Detective ebenfalls auf.

Er warf einen kurzen Blick auf die Küchenzeile. Das gespülte Geschirr stand zum Trocknen in einem Drahtgestell; die Schränke waren sauber, im Kühlschrank fand er Erdnussbutter und Marmelade, in einem der Schränke Brot, ein Päckchen Kaffee und Sahne sowie eine Packung Müsli.

Nirgends war das Verfallsdatum abgelaufen.

Im Bad standen Deo, Zahncreme, Dentalseide und Seife. Badetuch und Bodenmatte hingen zum Trocknen über der Duschabtrennung.

Überall war es pedantisch sauber und aufgeräumt.

Striker notierte seine Beobachtungen. Als er sein Notizbuch wegsteckte, fiel sein Blick auf eine der Wände. Dort hingen zwei riesige Landkarten. Eine von Kandahar und eine vom Lower Mainland, das Vancouver und die Umgebung umfasste. Auf der Kandahar-Karte waren kleine rote Kreuze und das Wort: Dämon. Dämon. Dämon. Dämon.

Striker wandte den Blick auf die zweite Karte. Darauf stand zwar nichts, aber es waren ebenfalls Kreuze aufgemalt. Dem Ermittler gefror das Blut in den Adern.

Union Street und Gore Avenue, Hermon Drive und East 5. Block 3800 Adanac Street in Burnaby – das passte auf die Wohnungen von Mandy Gill, Sarah Rose und Larisa Logan.

Er checkte spontan sein iPhone, aber Larisa hatte sich nicht mehr gemeldet.

Er spähte zu den verstreuten Seiten auf dem Tisch. Das Gekritzel war kaum lesbar. Begriffe wie Dämonen und Schattenmänner und Sukkubus. Die Pillenröhrchen lagen fein säuberlich aufgereiht daneben.

Striker schaute sie sich genauer an.

Die Medikamente waren alle vom Mapleview, auf den Etiketten stand Dr. Ostermanns Name und anscheinend die Rezeptnummer. Es waren drei unterschiedliche Medikamente: Effexor und Lexapro waren Striker vertraut, aber Risperidone sagte ihm nichts. Er googelte mit seinem iPhone die Bezeichnung. Auf der Webseite stand der Begriff: Antipsychopharmakon.

Er steckte sein iPhone weg, trat zum Computer und betätigte die Maus. Sofort flammte die weiß und blau gehaltene MyShrine-Seite auf dem dunklen Monitor auf:

… ich sah sie zuerst in Afghanistan und Kandahar. In menschlicher Gestalt. Sie kamen in Reihen, Welle auf Welle von Masken.

Aber ich WUSSTE genau, was sie waren. Die anderen Soldaten waren vielleicht blind, aber ich nicht. Ich sah durch die Masken hindurch. Und ich hab sie alle durchschaut. Ein Soldat. Ein Gesandter. GOTTES WILLIGER VOLLSTRECKER!!!

Dann wurde ich, wie ich heute bin.

Es gibt nur eine Möglichkeit, einen Dämon zu töten. Einen gottverdammten Sukkubus. Und das ist durch das Herz.

Striker schluckte.

Ein Dämon – das Böse.

Ein Sukkubus – ein weiblicher Dämon. Eine Frau.

Durch das Herz – das Ziel, wo die Kugel Felicia getroffen hatte.

Striker lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. »Er hat mich gewarnt«, murmelte er weich. »Großer Gott, er wollte mich mit dieser Botschaft warnen. Und ich Idiot hab es nicht gemerkt.«

Ihm wurde mit einem Mal grottenschlecht. Er hätte es wissen müssen. Er hätte es kommen sehen müssen. Seine Ignoranz hätte Felicia fast das Leben gekostet.

Er würde sich das niemals verzeihen können.

Der Gedanke hing schwer in seinem Kopf, selbst nachdem er sich vom Computer abgewandt und das Festnetztelefon entdeckt hatte. Er nahm ab. Drückte auf Wahlwiederholung. Eine Frauenstimme meldete sich.

»EvenHealth«, sagte sie. »Wen möchten Sie sprechen?«

»Entschuldigung, da hab ich mich wohl verwählt.« Er legte auf.

Er scrollte durch die eingegangenen Anrufe und sah, dass bei den beiden letzten Anrufen »unbekannt« stand. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, aber ihm passte das Timing nicht. Er rief Clyde Hall an, seinen Kontakt bei der Telefongesellschaft, und bat ihn, Billy Mercurys Festnetzanschluss zu checken.

»Rein informell natürlich«, setzte Striker hinzu.

Clyde rief nach einer knappen halben Minute zurück. »Heute waren es nur zwei Anrufe.«

Striker nickte, als wenn der Mann ihn sehen könnte. »Nummern und Uhrzeit, Clyde.«

»Kein Problem.«

Striker notierte sich Clydes Infos und bedankte sich für dessen Hilfe. Als er aufgelegt hatte, betrachtete er stirnrunzelnd die Daten.

Hier gab es eine Verbindung.

Jemand hatte Billy Mercury von einem nicht zu ortenden Prepaidhandy um exakt 15.17 Uhr angerufen. Um diese Uhrzeit hatten sie Mapleview verlassen. Dann hatte wieder jemand von einem Prepaidhandy aus angerufen, genau drei Minuten später – um diese Zeit waren sie bei Billy aufgetaucht.

Eine Warnung für Billy?, überlegte Striker. Ein Hinweis?

Oder jemand, der Billy Instruktionen gegeben hatte?

Er betrachtete das wirre Gekritzel auf dem Tisch und die kryptische Botschaft auf der MyShrine-Seite, dann blickte er zu den gefalteten Klamotten und dem ordentlich gemachten Schlafplatz. Das eine so irrsinnig und abgedriftet, wie das andere rational und vernunftgesteuert war. Und nirgendwo stand Videoequipment aufgebaut.

Es passte nicht zusammen. Er hatte ein verdammt schlechtes Gefühl bei der Sache. Seine Instinkte meldeten sich – und Striker hörte auf seine Instinkte. Irgendwas war da faul.

Sie hatten irgendwas übersehen.

Zornesblind
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