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Die Natter saß auf dem Fahrersitz eines weißen Minivans, eines GMC mit geteilten Kofferraumtüren ohne Rückfenster. Der Van sah unauffällig aus wie ein Arbeitsfahrzeug oder ein Lieferwagen oder einer dieser Oldtimer – Liebhaberfahrzeuge, wie es sie zigmal in der Stadt gab.
Nicht zuletzt deshalb hatte er sich für diesen Wagen entschieden.
Vor ihm auf dem Armaturenbrett stand ein kleines, schwarzes Nokia-Handy in einer Halterung. Verglichen mit heutigen Standards ein altes Modell. Ohne Kamerafunktion. Ohne Touchscreen. Das Teil hatte nicht mal ein vernünftiges Display. Nichts dergleichen. Bloß ein simples Handy mit Prepaidkarte und somit nicht rückverfolgbar. Sobald der Job erledigt war, wollte er das Ding in seine Einzelteile zerlegen und in irgendeiner Mülltonne am anderen Ende der Stadt entsorgen.
Er war jedes Mal übervorsichtig. Er musste übervorsichtig sein, denn die kleinste Unachtsamkeit konnte desaströs sein und ihn den Kopf kosten.
Seine Beine schmerzten, und er begann nervös mit den Knien zu wackeln. Das Warten war immer das Schlimmste. Ganz besonders in einem Van, in dem es modrig feucht und nach kaltem, abgestandenem Kaffee stank. Er starrte auf den Pappbecher von Tim Horton’s Coffee, der in dem Getränkehalter steckte: Der Becher war so alt, dass die Schrift verblichen war. Er nahm den Becher, kurbelte das Wagenfenster hinunter und warf ihn nach draußen.
Eisiger Wind drang in die Fahrerkabine. Traf ihn wie ein Schlag von einer unsichtbaren Hand. Über ihm, hoch oben am Himmel, schien die Sonne fast weiß. Mit einem Mal packte es ihn, und er drif… drif… driftete ab. Weit zurück.
Zurück zu ihnen.
»Nein, nicht jetzt«, flüsterte er. »Nicht schon wieder.«
Seine Hände begannen zu zittern, und er hörte ringsum Gelächter, als wären sie da, hier in der Fahrerkabine des Vans. Und dann begann das Knirschen. Das grässlich explodierende Krachen.
Er streckte die Hand nach dem Autoradio aus und drehte so lange an dem Knopf, bis er eine Frequenz gefunden hatte, auf der kein Sender war. Drehte die Lautstärke voll auf und ließ das statische Rauschen in seine Ohren dringen. Dieses himmlische, göttliche weiße Rauschen …
Es besiegte die alten Dämonen.
Wenigstens vorübergehend.
Schwitzend und zitternd spähte er abermals zu dem Handy. Als ahnte es seine Verzweiflung, klingelte es plötzlich, und er atmete hörbar auf. Es gab nur eine Person, die diese Nummer kannte: der Doktor. Folglich nahm die Natter beim ersten Klingeln ab.
»Ja.« Seine Stimme klang rau, ängstlich.
»Er kommt. Es ist nicht mehr viel Zeit.«
Die Natter nickte abwesend, als könnte der Doktor ihn sehen. »Ich bin bereits da.«
»Sei vorsichtig, dass dich ja niemand sieht.«
»Keine Sorge, ich pass schon auf.«
Der Doktor wollte noch etwas sagen, die Natter mochte jedoch nicht mehr zuhören. Er beendete das Gespräch und schob das Handy in die Tasche seines schwarzen Hoodie. Zog den Reißverschluss bis zum Kinn hoch und streifte die Kapuze über den Kopf. Weiterhin mental gegen die Dämonen aus der Vergangenheit kämpfend, drückte er mit der Schulter die Wagentür auf und glitt aus dem Van.
Die Zielwohnung war weiter östlich gelegen, unten an dem kurvigen eisglatten Hermon Drive; die Natter wusste das, weil er heimlich Videoaufnahmen von der Gegend gemacht hatte, um im Vorfeld alles gründlich abzuchecken. Damit er auf sämtliche Eventualitäten vorbereitet war.
»Those who plan will live; those who don’t life-give.«
Ein altes Soldatenlied. Die Zeile war irgendwie tröstlich. Gab ihm das Gefühl, ein Stück weit die Kontrolle zu haben in einer Welt, die für sein Empfinden aus dem Ruder gelaufen war.
Auf der Westseite der Straße, oben auf dem Hügel, verschwand die Natter in dem ersten Apartmentkomplex. Hermon Heights war eine von vielen Sünden des sozialen Wohnungsbaus – ein riesiger Hochhauskomplex –, schäbig und verwahrlost. Dafür waren die Mieten günstig, und – viel entscheidender – Hermon Heights hatte keinen Verwalter.
Drinnen war die Luft nicht viel wärmer als draußen. Die Gänge waren dunkel und die Wände schief, als hätten die Flure Schlagseite. Es mutete bedrückend und trist an.
Oder empfand nur er so?
Die Natter durchquerte den östlichen Eingangsbereich und den Hauptflur. Er öffnete die letzte Tür im Gang. Apartment 109 war unbewohnt, und die Mieter der anderen Wohnungen waren so clever, einander in Ruhe zu lassen.
Eines der ungeschriebenen Gesetze in solchen Wohnprojekten.
Er glitt hinein, zog leise die Tür hinter sich zu und sondierte den Raum. Direkt vor ihm stand sein elektronisches Equipment, bereits fix und fertig aufgebaut.
Der Computer mit externer Festplatte und Signalempfänger.
Der Monitor mit einer Farbaufnahme der Zielwohnung.
Und natürlich seine Einkäufe.
Er schnappte sich die Kanister. Vier für den Job; einen für die Polizei. Dann nahm er die Coladose vom Tisch, riss den Deckel auf und trank. Das süße sprudelnde Getränk lief himmlisch kribbelnd durch seine Kehle. Draußen war der Himmel weit und klar und eisblau. Wieder echote das Lachen in seinem Kopf, und die Natter fühlte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Er bewaffnete sich mit dem Akkuschrauber. Drückte auf die Einschalttaste. Und wartete auf das gleichmäßig weiche Surren des Motors.
Er schloss die Augen und lauschte für eine lange Weile. Bis das Lachen verebbte und er sich wieder gefasst hatte.
Es wurde höchste Zeit, dass er den Job erledigte.