54
Billy Mercury wohnte in einem heruntergekommenen Apartmentkomplex in Block 3600 auf der East Hastings Street. Safe Haven Suites. Striker kannte das Gebäude gut.
Sicherer Hafen.
Von wegen Hafen und sicher – hier war nichts sicher. Wer hier strandete, versuchte verzweifelt, sein kaputtes Leben wieder irgendwie zu kitten. Hier lebten psychisch Kranke und kriminelle Hirne.
Und das seit über zehn Jahren.
Der Komplex war in dieser Zeit mehrmals vergrößert und umgebaut worden und mittlerweile ein unübersichtliches Betonlabyrinth. Alle Apartments mit geraden Ziffern lagen zur Frontseite hin, also an der Hastings, alle ungeraden, wie Billys Apartment, Nr. 103, gingen auf die Nordseite der Pender hinaus. Da Striker das wusste, parkte er seinen Wagen am Ostende der Straße und ging das letzte Stück zu Fuß.
Ein paar Blocks nordöstlich war der Tatort, wo Billy zwei Cops und zwei Sanitäter getötet hatte. Inzwischen waren sechs Einheiten eingetroffen, und Striker spielte mit dem Gedanken, das Gebäude von ein paar Kollegen umstellen zu lassen. Man konnte schließlich nie wissen …
In Situationen wie dieser musste man auf verdammt unangenehme Überraschungen gefasst sein.
Striker gab über Funk durch: »Wir bräuchten ein paar Einheiten an den Safe Haven Suites.«
Die Antwort der Einsatzleiterin war kurz und bündig. »Fehlanzeige. Ich hab Verstärkung von District 4 angefordert, aber es kann eine Weile dauern, bis die hier sind.«
Striker überlegte. »Egal, schickt mir den ersten Streifenwagen her, der eintrifft, um die Nordseite des Gebäudes zu observieren. Damit mir dieser Typ auf gar keinen Fall durch die Lappen geht.«
»Wird gemacht«, versicherte die Einsatzleiterin.
Im Kofferraum lagen ein Gewehr und zwei kugelsichere Westen. Striker nahm Felicias Weste heraus und warf sie ihr zu. Seine eigene gab er Dr. Ostermann.
»Hier, ziehen Sie das an«, wies Striker den Mediziner an.
Der Arzt streifte schweigend die Weste über. Striker justierte die Verschlussbänder, bis sie richtig saßen.
»Wie ist es mit dir? Du brauchst doch auch eine Weste, Jacob«, bemerkte Felicia.
»Halt die Augen offen«, wechselte er das Thema. »Billy kann überall sein.«
»Umso mehr Grund für dich, eine Schutzweste zu tragen.«
Er schoss ihr einen harten Blick zu. »Wir haben nun mal bloß zwei mit.«
»Dann nimm Ostermanns Weste und lass ihn aus der Sache raus.«
»Der Doktor kommt mit.«
»Aber …«
»Er ist der Einzige, zu dem Billy eine Beziehung und Vertrauen hat. Gut möglich, dass wir Ostermanns Unterstützung brauchen. Der Doktor kommt mit.«
Dr. Ostermann räusperte sich nervös. In der sicheren Klinikumgebung umwehte ihn eine energetische, eindrucksvolle Aura; jetzt sah er aus wie eine verschreckte Feldmaus. »Billy Mercury ist absolut kein Patient, mit dem ich einen besonders engen Kontakt pflege«, wiegelte er ab. »Er ist generell resistent gegenüber meinen Therapievorschlägen.«
Striker kümmerte sich nicht um den Einwand. Er nahm das Gewehr und schlug den Kofferraum zu. Der schwere gummiummantelte Stahlgriff der Waffe lag gut in der Hand. Himmlisch gut. Er entsicherte das Gewehr und nickte den beiden zu.
»Das Spiel beginnt.«
Striker führte sie durch die lange, schmale Straße. Er ging voraus, hinter ihm der Mediziner, Felicia bildete den Schluss.
Rechts waren die Lieferantenzufahrten zu mehreren kleinen Läden auf der East Hastings Street: Bridal Dreams – Alles für die Braut –, Dario’s italienische Wurst- und Fleischspezialitäten und die Italian Bakery. Über diesen Geschäften lagen weitere Apartments. Deren Balkone waren ideale Aussichtsposten für einen Heckenschützen.
»Pass auf die Balkone auf«, riet Striker Felicia.
»Ratschläge sind auch Schläge«, konterte sie patzig.
Sie liefen schweigend weiter.
Links befand die Rückseite der Häuser, die auf der East Pender standen. Sie glichen wie ein Klon dem anderen. Standard eben. Kleiner Garten. Kleine frei stehende Garage.
Noch so ein idealer Ort für einen durchgeknallten Psychopathen, wie er ihnen auflauerte.
Strikers Finger entkrampften sich. Der dunkle Stahlabzug der Waffe schmiegte sich kühl an seine Haut, es fühlte sich gut an. Beruhigend. Wie ein Schutz.
Sie erreichten den Parkplatz, der zu den Safe Haven Suites gehörte.
Striker blieb an dem Holzzaun stehen, nutzte ihn als Deckung. Er ging mental sämtliche Eventualitäten durch. Wie würden die Dinge sich entwickeln, wenn sie hier in einen Schusswechsel gerieten? Nur die Ruhe, keine Hektik, redete er sich zu.
Denn Ruhe und Kontrolliertheit waren das A und O im Umgang mit der Waffe.
»Kannst du sein Apartment sehen?«, fragte Felicia hinter ihm.
»Pscht, warte«, raunte er.
Er steckte vorsichtig den Kopf um den Zaun herum, checkte Parkplatz und Rückseite des Gebäudes. Der Parkplatz war klein, für fünf, maximal sechs Autos, der Asphalt rissig. Hinter dem Holzzaun, von dessen schmutzigen Latten die Farbe abblätterte, erhob sich eine alte Holztreppe, die zu den oberen Etagen führte.
Striker zeigte nach oben, Westseite.
»Das da oben müsste Billys Apartment sein.«
»Aber er wohnt in 103«, gab Felicia zu bedenken. »Müsste das nicht im Parterre sein?«
Striker nickte. »Stimmt, ist es aber nicht. Diese Anlage ist verdammt verbaut.« Er spähte zu Dr. Ostermann. Dessen Gesicht war aschgrau, angespannt. Er atmete hektisch. »Waren Sie schon mal zu einem Hausbesuch hier?«
Dr. Ostermann schüttelte den Kopf. »Nein, nie. Ich hab Billy immer in der Klinik therapiert. Und natürlich im Riverglen.«
Striker zog die Stirn in Falten. Er hatte gehofft, der Arzt könnte ihm den Grundriss des Apartments erläutern. Unwissenheit war nie gut. Einen kurzen Moment lang erwog er, sich vorher eins von den anderen Apartments anzuschauen – was keine schlechte Idee war, denn in solchen Apartmentblocks waren die Wohnungen immer identisch aufgeteilt. Er ließ den Gedanken jedoch schnell wieder fallen. Angesichts der An- und Umbauten sahen die Safe Haven Suites bestimmt unterschiedlich aus. Folglich war es keine Hilfe.
Sie würden das Apartment aufs Geratewohl stürmen müssen.
Bevor sie das Haus betraten, warf der Detective einen letzten Blick auf die Häuser, die Safe Haven flankierten – auf verlassene Balkone und offene Garagen. Ihm fiel zwar nichts Verdächtiges auf, trotzdem war er skeptisch. Die Vorstellung, die Treppe hochzuklettern und null Deckung zu haben, bereitete ihm Bauchschmerzen.
Völlig ungeschützt.
»Ich geh allein«, sagte er schließlich.
Felicia schüttelte den Kopf. »Was? Von wegen. Du brauchst Deckung.«
»Du kannst mir von hier unten Deckung geben.«
»Was ist, wenn er dir da oben auflauert?«
»Dann muss er auf zwei Zielobjekte schießen statt auf eins. Wenn wir zusammenbleiben, knallt er uns ab wie Schießbudenfiguren.«
»Lass uns warten, bis sie einen Hundeführer schicken«, schlug sie vor.
Striker schüttelte den Kopf. »Nein, ich will Mercury jetzt stellen.«
»Dann lass uns weitere Einheiten anfordern.«
Striker spürte, wie seine Verärgerung wuchs. »Du hast doch gehört, dass das schwierig ist, Feleesh. Die sind alle im Einsatz. Und zu warten, bis welche aus South Burnaby hier sind, dauert mir einfach zu lange. Wenn wir noch ewig warten, verlieren wir ihn. Billy ist gefährlich. Wir dürfen ihn nicht wieder entkommen lassen.«
»Jacob …«
»Ich geh da jetzt hoch, Feleesh. Gib mir Deckung – von hier unten.«
Er wich ihrem Blick aus und verließ seine Deckung.
Auf dem Parkplatz standen nur zwei Fahrzeuge, ein viertüriger Toyota Tercel und ein weißer Minivan. Beides ältere Modelle. Baujahr Ende der Achtziger oder Anfang der Neunziger. Rostlauben.
Das Gewehr im Anschlag kroch Striker hinter den Toyota. Die Fenster waren sauber, und es war niemand drin. Sein Versuch, den Kofferraumdeckel zu öffnen, scheiterte, und er kroch weiter zu dem weißen Van. Der Wagen hatte keine Fondfenster, nur zwei stabile Laderaumtüren und seitlich eine Schiebetür, die auf das Gebäude zeigte. Striker stellte fest, dass sie verschlossen waren, und bewegte sich in geduckter Haltung weiter.
Als er die Treppe erreichte, stieg er die ersten Stufen hoch und behielt dabei das Areal rechts und links von sich fest im Auge. Es war menschenleer. Leere, nackte Betonflächen.
Er bewegte sich langsam weiter. Die alten Holzstufen knarrten unter seinem Gewicht. Jedes laute Knarzen war wie eine unheilvolle Warnung, und in Strikers Magengrube begann es schmerzhaft zu pochen.
Trotzdem ging er weiter. Er erreichte den Treppenabsatz und schob sich langsam vorwärts. Kaum hatte er einen Fuß auf die nächste Stufe gesetzt, krachte ein Schuss durch die kalte, winterliche Luft. Er kam jedoch nicht aus dem Apartment über ihm, sondern von der Straße.
Verdammt, die Garagen hinter ihm.
»Pass auf! Schieß! Schieß! Schieß doch ENDLICH!«, kreischte Felicia.
Striker schnellte herum und hob die Waffe. Und erfasste blitzartig die Situation:
Billy Mercury sprintete eben aus einer der dunklen Garagen. Sein Gesicht war verzerrt, und er schrie. Und er ballerte wild drauflos. Ka-WUMM! Ka-WUMM! Ka-WUMM!
Aber nicht auf Striker.
Sondern auf Felicia.
Der erste Schuss ging an ihr vorbei in den Zaun, dass das alte Zedernholz in sämtliche Richtungen splitterte. Die zweite Kugel prallte neben Felicia auf dem Betonboden auf, der darufhin wie Zwieback zerkrümelte.
Starr vor Entsetzen presste Ostermann beide Hände vor sein Gesicht und ließ sich zu Boden fallen. Felicia stürmte weiter. Es kam zu einem Schusswechsel zwischen ihr und Billy.
Bei dem sie den Kürzeren zog.
Die dritte Kugel, die Billy Mercury abfeuerte, erwischte sie. Sie kippte nach hinten. Auf das Pflaster. Hilflos.
»BILLY!«, brüllte Striker.
Der Detective feuerte aus der Hüfte: ein ungezielter Schuss, um Billy von Felicia abzulenken. Dann raste er wild um sich ballernd die Stufen hinunter.
Billy Mercury rührte sich nicht vom Fleck. Er stand da, völlig ohne Deckung und erwiderte das Feuer. Ein Kugelhagel traf auf die Außentreppe, zersplitterte das Holz, bohrte sich in die verputzten Wände hinter Striker.
Der erreichte den Treppenabsatz. Stoppte. Zielte.
Und schoss.
Eine laute Detonation erfüllte die Luft. BUMM! Das Geschoss explodierte auf der Straße. Eine geballte Ladung Schrot riss Billy Mercury von den Füßen. Er wirbelte herum wie eine aufgezogene Puppe. Die Waffe fiel ihm aus der Hand, und er kippte vornüber auf das Pflaster.
Striker sprang von der Treppe und landete mit beiden Füßen auf dem Betonboden. Die Flinte schussbereit, setzte er über den Parkplatz zu dem weißen Van, den er als Deckung nutzte.
Billy krabbelte bereits zu seiner Waffe. Griff danach.
Striker zielte auf den Mann. »LASSEN SIE DAS, BILLY! PFOTEN WEG!«
Doch Billy war schneller.
»Verfickte Dämonen!«, gellte er. Dabei hob er die Waffe.
Striker drückte auf den Abzug. Er feuerte eine weitere Salve ab. Dann noch eine und noch eine. Die erste erwischte Billy an der Schulter; die zweite ging durch seine Brust und trat im Rücken wieder aus.
Billy ließ seine Waffe fallen und landete mit einem weichen Klatschen auf dem Asphalt. Sein Kopf sank zurück, er zuckte für einen kurzen Moment, dann lag er still.
Striker lief zu ihm, kickte dessen Waffe über die Straße. Es war ein schwarzer Revolver. Keine Polizeipistole. Der Detective schob ein Knie auf Billys Rücken, presste ihn zu Boden. Durchsuchte ihn nach weiteren Waffen.
Nichts. Ein Schwall Blut pulste aus Billys Verletzungen.
»… Dämonen …«, krächzte der Mann ein letztes Mal, seine Stimme zart und entrückt, bevor er starb.
Striker sprang auf und suchte mit Blicken nach Felicia. Sie lag halb gekrümmt auf der Seite und versuchte aufzustehen. Ihre Haare verdeckten ihr Gesicht, ihre Waffe lag einen guten halben Meter entfernt von ihr.
Sie robbte eben dorthin.
»Warte! Ich komme!«, rief Striker.
Er stürmte zu ihr. Fasste sie an den Schultern. Drehte sie auf den Rücken. Fest damit rechnend, dass sie jede Menge Blut verloren hatte.
Falsch gedacht.
»Meine Rippen«, stöhnte sie. »Meine verdammten Rippen.«
Sein Blick schoss automatisch zu ihrer Brust, auf die zerrissene Weste. Als er den verbeulten Stahlkern unter der Ummantelung bemerkte, seufzte er erleichtert auf.
»Er hat auf mich gezielt«, sagte Felicia fassungslos. »Der Wichser hat voll auf mich gezielt.«
Striker schwieg für einen langen Augenblick und starrte sie mit entsetzt geweiteten Augen nur an. Den schluchzend am Boden liegenden Ostermann und den toten Billy ausblendend, zog er Felicia in seine Arme.
»Ich dachte, ich hätte dich verloren. Gütiger Himmel, ich dachte, ich hätte dich verloren«, wiederholte er immer wieder.