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Snake Eyes.
Mandy Gill starb an einem kalten grauen Wintertag. Die Würfel des Lebens waren gegen sie gefallen. Sie hatte wieder einmal Pech gehabt. Wie immer, seitdem sie auf der Welt war. Sie starb einsam, in einem trostlosen, kalten Loch von einem Zimmer. Und das Schlimme war: Sie hätte nicht sterben müssen.
Wenn sich jemand um sie gekümmert hätte.
Der Gedanke flutete Detective Jacob Strikers Hirn, als er den Wagen zu der alten Hotelpension lenkte. Die Bude war die allerletzte Absteige. Eingeschlagene Fensterscheiben, die mit morschen Holzbrettern zugenagelt waren, an den Hausmauern wilde Graffiti, zwischen den Pflastersteinen wucherte der Giersch. Das war das Lucky Lodge Rooming House, und wer hier wohnte, war bestimmt kein Glückspilz.
Mandy Gill war dafür das beste Beispiel. Ihre letzte Reise von hier würde sie in dem steifen weißen Plastiksack des Gerichtsmediziners machen – das miese Ende eines miesen Lebens.
Game over. Du hast verloren.
Mordermittler Detective Striker machte buchstäblich die Faust in der Tasche und schwang sich aus seinem Dienstwagen, einem Zivilfahrzeug. Er hasste diese Gegend. Solange er denken konnte. Strathcona, einmal Hölle und zurück für die Durchgeknallten und Drogenfreaks. Zu viele checkten ein, nur wenige wieder aus.
So war das Leben im Lucky Lodge Rooming House.
Im Laufe der Jahre, während seiner Zeit als Streifenpolizist und beim Morddezernat, war Striker so oft hier gewesen, dass er die Male nicht mehr zählen konnte. Überdosis. Suizid. Vergewaltigungen. Mord. Schlimme Sachen. Aber heute war es besonders schlimm.
Aus persönlichen Gründen.
Der Detective schüttelte den Gedanken ab und warf einen Blick auf die Uhr an seinem Arm. Vier Uhr, und es war schon fast dunkel. Er lief über den brüchigen Asphalt, an dem faulig braunes Laub klebte. Die schneidend kalte Januarluft roch nach Schnee, eisige Windböen schlugen ihm hart ins Gesicht, rissen an seinen Haaren.
Er erreichte den Eingang, hebelte die Tür mit einem kurzen, gezielten Stoß seiner Schulter auf und drang ins Innere vor.
Im Foyer war es dunkel, der Geruch von feuchtem Schimmel und Schwamm entströmte dem Verputz. Striker versuchte, jeden Kontakt mit den Wänden zu vermeiden. Alles war ruhig, wie ausgestorben. Eine ausgebrannte Glühbirne baumelte von der Decke, am Ende des Gangs die nächste.
Sie flackerte seltsam.
Striker durchquerte die Eingangshalle in Richtung der Lichtquelle. Von wegen Glühbirne – das Licht stammte wohl eher von einer Taschenlampe. Was ihn nicht sonderlich überraschte. Er tastete mit einer Hand vorsichtig über die Wand und fand den Lichtschalter.
Nichts.
Logo, der Energieversorger hatte diesem Rattenloch den Saft abgedreht.
Striker angelte seine Mini-Maglite aus der Manteltasche, schaltete sie ein. Eine altersschwache Treppe führte nach oben. Die Stufen ächzten gequält unter seinen Schritten, als er in den zweiten Stock hochstieg. Oben schwenkte er nach links, tastete mit dem Lichtstrahl den Flur ab. Das fahlgelbe Licht erhellte eine Silhouette, die sich in einen der Türrahmen presste. Ein Mann in einer blauen Uniform.
Ein Kollege von der Streife.
Striker richtete den Strahl der Taschenlampe auf ihn. Der Cop war ein junger Asiate. Höchstens zwanzig und frisch von der Polizeiakademie. Und mit der Situation definitiv überfordert. Er fuchtelte hektisch mit einem Mordstrümmer von Taschenlampe herum, der Strahl tanzte durch den Flur. Als er Striker entdeckte, atmete er hörbar aus.
»Hey«, brachte er krächzend heraus.
Striker trat zu ihm. »Hey? Und was weiter? Haben Sie zufällig auch einen Namen?«
»Ähm, ja. Wong. Ich bin in Charlies Schicht. Team zwei-zehn.«
Der Mordermittler warf einen Blick auf die Dienstmarke des Typen. Nummer 2864 – über tausend Ziffern höher als seine eigene. Dagegen kam er sich echt alt vor. Er nickte dem jungen Polizisten zu. »Ich bin Detective Striker vom Morddezernat. Wo ist sie?«
»Da … da drin.« Der junge Typ leuchtete mit seiner Taschenlampe auf die nächste Tür. Zimmer 303.
»Haben Sie irgendwas angefasst?«
»Nein. Ich hab nichts angefasst. Kein Stück.«
Striker atmete erleichtert auf; der Kleine schien echt was draufzuhaben.
Er glitt zu Nummer 303. Es war totenstill, die zunehmende Dunkelheit legte sich in grafitweichen Schatten über den Raum. Mitten im Zimmer, in einem schäbigen Klappsessel, lag die Leiche von Mandy Gill.
Sonst war niemand im Zimmer.
Striker blickte stirnrunzelnd zu Constable Wong. »Wo ist Ihr Partner?«
»Mein Partner? Ich … ich hab keinen. Ich bin allein hier.«
»Wollen Sie damit sagen, Sie sind hierherbeordert worden und allein losgedüst?«
Der junge Typ nickte. »Ging nicht anders. War sonst keiner abkömmlich. Hieß zwar, ich krieg noch Verstärkung. Aber bis jetzt sind Sie der Einzige.«
»Sie haben vielleicht Nerven, Mann. Das nächste Mal warten Sie auf einen Kollegen, okay?«
Constable Wong musterte die Tote mit schief geneigtem Kopf. »Sieht … ziemlich frisch aus.«
Striker nickte deprimiert. Der Junge hatte Recht; das Mädchen war noch nicht lange tot.
»An der Rezeption ist sie bloß mit Gill eingetragen«, erklärte der junge Cop. »Ich konnte das aber noch nicht weiter überprüfen. Wenn Sie wollen, spring ich kurz runter in den Wagen und hol meinen Laptop.«
»Die Mühe können Sie sich sparen«, erwiderte Striker. »Das mit dem Namen stimmt. Sie hieß Mandy Gill und war neunzehn Jahre alt.«
»Oh, Sie haben das schon überprüft?«, fragte der Cop.
Striker schüttelte traurig den Kopf. »Nein, ich kannte das Mädchen.«