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Ungeachtet des dichten Verkehrs und der eisglatten Straßen schafften sie die Fahrt von Burnaby zum Präsidium an der Main Street in weniger als zwanzig Minuten. Sie nahmen den großen Parkplatz hinter dem Gebäude – nur Anfänger parkten vorn, wo auch die Leute parkten, die eine Anzeige oder Beschwerde loswerden wollten und sich deswegen auf den erstbesten Streifencop stürzten, der ihnen über den Weg lief.

Sie betraten das Hauptgebäude, nahmen die Treppe in den zweiten Stock. Die Wände waren in einem hässlichen Gelbton gestrichen. Es sollte heller und freundlicher wirken, aber das konnte man in diesem großen, tristen Betonklotz getrost vergessen. Striker hasste die Farbe, sie wirkte für ihn wie Pisse.

In der zweiten Etage war das Canadian Police Information Center, kurz CPIC, untergebracht, also die zentrale Informationsabteilung: Strafsachen, Polizeiberichte, Prozesskopien. Und natürlich richterliche Beschlüsse.

Striker angelte den Schlüssel aus seiner Jackentasche. Alle anderen Türen waren mit einem modernen Magnetkartensystem ausgestattet, aber dieses alte Ungetüm nicht. Er drehte den Schlüssel im Schloss, betete, dass es nicht schon wieder klemmte, und riss die schwere Tür auf.

Der Raum war mit kackbraunem, fadenscheinigem Teppichboden ausgelegt. Vermutlich passend zu den dünnpfiffbraun getönten Fensterscheiben, dachte Striker etwas sarkastisch. Über ihnen summten nackte flackernde Neonröhren in der kalten Winterluft. Felicia blinzelte und fluchte. »Je eher sie den Kasten hier abreißen, desto besser«, ätzte sie. »Verdammt, was wollen wir hier eigentlich?«

»Lilly besuchen.«

»Lilly? Die alte Pissnelke? Grundgütiger, weswegen?«

»Überraschung.«

Bevor sie weitere Fragen stellen konnte, verschwand Striker zwischen den winzigen Büroabteilen, die mit Computerausdrucken beschriftet waren: Prozesskopien. CPIC. Strafsachen. Staatsanwaltschaft.

Wie üblich war mal wieder die Hölle los. Alle waren in Action, Tastaturen klackerten, Telefone klingelten. Übertönt von hellen Frauenstimmen, von Lachen und Schwatzen, denn in dieser Abteilung arbeiteten ausschließlich Frauen.

In der Sektion Richterliche Beschlüsse erspähte Striker Lilly. Wie üblich war ihre Frisur mit reichlich Haarlack bretthart hoch toupiert und ihr Gesicht mit Make-up zugekleistert – vermutlich war das Lillys verzweifeltem Versuch geschuldet, ihre Falten zuzuschmieren.

Sie erreichten ihren Schreibtisch, Lilly ignorierte sie jedoch und tippte weiter. Erst als Striker sich räusperte und fragte: »Na, wie geht’s denn so, Süße?«, blickte sie gereizt auf. Als sie den Detective erkannte, nahm sie die Finger von der Tastatur und lächelte.

»Puh, ein Unglück kommt selten allein. Hab seit heute Morgen eine Scheißmigräne.«

»Tja, dann wird das heute nichts mit uns beiden, was, Süße?«

Lilly schnaubte verächtlich über diesen Scherzversuch, und Striker sah sich in ihrem Büroabteil um. Er schob mit einem Arm halb gepackte Umzugskartons zu Boden und stützte einen Ellbogen auf dem Schreibtisch auf. Lilly funkelte ihn an. »Mach das nochmal, und ich schmeiß dich achtkantig raus«, fauchte sie.

Felicia fuhr erschrocken zusammen, aber Striker lachte bloß amüsiert.

Lilly war das Urgestein in der Abteilung. Mit fünfundsechzig hätte sie locker in Rente gehen und ihren Lebensabend genießen können, stattdessen hing sie in ihrem winzigen Büroabteil rum und schnaufte wie eine alte Diesellok.

In der harten künstlichen Beleuchtung wirkte ihr Gesicht müde. Die Lider hingen erschlafft über den wässrig blauen Augen, und ihre kastanienbraun gefärbten Haare ließen am Scheitel einen breiten grauen Ansatz erkennen.

»Was willst du, Schiffswrack?«, fragte sie.

»Richterliche Beschlüsse. Die neuesten, die du hast.«

Als Lilly auf die Kisten zeigte, schüttelte Striker den Kopf. »Bah, die neuesten, Lilly. Und nicht bloß die Haftbeschlüsse – ich muss alle sehen.«

Sie kam schwer atmend auf die Füße. »Du machst mir bloß zusätzliche Arbeit«, schimpfte sie. »Warte hier.« Sie schnappte sich ihren Stock, den sie nach einer Hüftoperation benötigte, und schlurfte durch den Gang.

Striker sah ihr nach und grinste; Lilly war unverbesserlich.

»Gott, die alte Schnepfe ist echt zu bedauern«, zischelte Felicia.

»Hey, mal ein bisschen nett. Lilly ist nun mal so.«

»Typisch Jacob! Du nimmst immer jeden in Schutz. Sie ist und bleibt eine alte Schachtel, die längst in Rente geschickt gehört. Wieso bleibt die Frau nicht zu Hause?«

»Weil sie sonst nichts hat«, versetzte Striker. »Keine Kinder. Keine Familie. Ihr Mann starb vor sechs Jahren. Lilly hat nicht mal einen Hund. Sie liebt ihren Beruf. Was soll sie sonst auch machen?«

»Anfangen zu leben. Sich ein paar schöne Hobbys zulegen.«

Striker erwiderte nichts darauf. Felicia hatte teilweise Recht; Lilly war bisweilen launisch und kalt wie eine Hundeschnauze. Trotzdem, wenn man sie besser kannte, merkte man, dass sich unter ihrem Eispanzer ein gutes Herz verbarg.

Nach einer Weile kam Lilly zurückgehumpelt, ihre Miene angespannt vor Schmerz. Vermutlich hatte sie wieder einmal Probleme mit ihrer Hüfte. »Hier.« Sie warf die Akten auf den Schreibtisch. »Das sind die neuesten.«

Striker schnappte sich den Stapel und begann zu blättern.

»Was suchen wir eigentlich?«, wollte Felicia wissen.

»Larisa Logan.« Er schob ihr den halben Stapel hin. »Knöpf du dir die vor.«

»Richterliche Beschlüsse? Sie mag ein Problemfall sein, aber sie ist kein Knacki, Jacob.«

»Ich weiß, Feleesh. Guck einfach mal.«

Felicia nickte knapp. Sie befeuchtete ihren Daumen und blätterte durch den Stapel. Als sie die Hälfte durch hatte, entfuhr ihr ein verblüfftes Oh, und sie wedelte mit einem Schriftstück.

»Ich hab’s. Hier ist sie.«

Striker legte seinen Stapel auf dem Schreibtisch ab und trat zu ihr. Er überflog den Beschluss und fand, was er suchte: Verfügung 21.

Er tippte mit dem Finger darauf.

»Ein Beschluss von ganz oben?«, fragte sie.

Er nickte. Jetzt ergab das alles einen Sinn.

Verfügung 21 war das medizinische Äquivalent zu einem Haftbeschluss. Im Wesentlichen räumte ein solcher Beschluss der Polizei das Recht ein – und die Pflicht –, jemanden unter Vormundschaft zu stellen. Laut Verfügung 21 verdonnerte ein Psychiater seinen Patienten zur weiteren medizinischen Beobachtung, was mehr oder weniger bedeutete: ihn in eine geschlossene Anstalt zu sperren und auf Teufel komm raus zu therapieren.

Verfügung 21 dokumentierte für Striker, dass Larisa psychisch am Ende war – und ihr eigener Arzt inzwischen davon ausging, dass sie eine Gefahr für sich und andere darstellte.

Das musste er erst mal verdauen.

»Deshalb ist sie vor uns getürmt«, sagte er dann. »Sie weiß von der Verfügung. Folglich möchte sie zwar unsere Hilfe, hat aber gleichzeitig Angst vor uns.«

Felicia nickte. »Weil wir sie, sobald wir sie zu fassen bekommen, in ein Krankenhaus einliefern lassen müssten.«

»Nicht in irgendein Krankenhaus«, korrigierte Striker. »Riverglen.«

»Also ins Irrenhaus.«

»Psychiatrische Klinik«, korrigierte der Ermittler erneut. »So heißt das heute politisch korrekt.«

Felicia hob eine Braue. »Neuer Begriff, aber dieselbe alte Scheiße.«

Striker nickte zustimmend. »Egal welchen Weg Larisa einschlägt, sie kann nur verlieren. Und das begreift sie offenbar, denn sonst wäre sie längst hier bei uns aufgetaucht.«

»Es zeigt aber auch, dass sie labil ist, Jacob.«

Striker fotokopierte den Beschluss und legte das Original wieder zu den übrigen Unterlagen. Als er sich umdrehte, fixierte Felicia ihn nachdenklich.

»Was ist denn?«, fragte er.

»Ich hab die Geschichte mit dem Wagen gesucht«, meinte sie nachdenklich. »Die steht da gar nicht drin.«

»Weil sie noch nicht ins System eingegeben wurde. CPIC ist manchmal bis zu sechs Wochen im Rückstand«, klärte Striker sie auf.

»Bis zu sechs Wochen?«

»Ja, sechs Wochen«, bekräftigte Striker etwas gereizt. »Manchmal auch länger. Verdammt, Felicia, streng deine grauen Zellen an. Das musst du doch wissen. Was bist du eigentlich, eine erfahrene Mordermittlerin oder eine blutige Anfängerin?«

Felicia blieb stumm und wurde rot. »Du musst dringend relaxen«, giftete sie zurück. »Nimm mal eine von deinen Beruhigungspillen.«

Striker ging darüber hinweg. »Die meisten Beschlüsse gehen gar nicht durch die Gerichte«, fuhr er fort. »Nur wenn Gewaltanwendung im Spiel ist. Und Larisa hat nicht versucht, sich selbst oder andere zu verletzen, folglich ist das zu vernachlässigen.«

»Sie hat es bisher noch nicht versucht.«

Sie verabschiedeten sich von Lilly und liefen zum Ausgang, wo Striker direkt in Bernard Hamilton hineinlief. Hamilton blieb ruckartig stehen, musterte ihn verblüfft und setzte sein übliches Plastiklächeln auf.

»Striker, Santos. Wie läuft’s denn so bei Ihnen?«

Striker versperrte seinem Kollegen den Weg. »Ich weiß von dem Beschluss, Bernard.«

»Welcher Beschluss?« Hamiltons Lächeln gefror.

»Verfügung 21. Das erklärt, weshalb Sie letzte Nacht und heute Morgen bei Larisa zu Hause waren. Und auch die Sache mit der CAD-Anfrage. Sie reißen sich aus dem Hemd, um sich bei Ihren Vorgesetzten einzuschleimen, obwohl Sie genau wissen, was wir hier machen. Sie versuchen bloß, Ihre verdammten Statistiken aufzupeppen.«

Das Lächeln fiel Hamilton aus dem Gesicht. »Was ich hier versuche, Striker, ist, eine unserer Patientinnen zu lokalisieren – zu ihrem eigenen Wohl.«

»Tatsächlich? Wollen Sie sich ernsthaft hinter diesem Argument verstecken?« Striker baute sich vor Hamilton auf. »Erklären Sie mir mal, wieso Sie uns heute Morgen nicht über diesen Beschluss informiert haben. Sie wussten doch, dass wir Larisa Logan suchen.«

»Ich … ich wusste da noch nicht …«

»Der Beschluss ist von gestern Abend. Wagen 87 wird umgehend über alles informiert. Folglich wussten Sie es als einer der Ersten

Bernard wischte sich mit dem angewinkelten Ellbogen den Schweiß von der Stirn. »Das hat was mit Datenschutz und Wahrung der Privatsphäre zu tun.«

»Seit wann geht Datenschutz über den Schutz von Leib und Leben?«

»Ich muss das nicht kommentieren.«

»Nein, müssen Sie nicht, Bernard. Was bedeutet schon das Leben einer Frau, verglichen mit Ihrer Erfolgsstatistik?«

Hamiltons Blick verdunkelte sich. »Der Beschluss besagt, dass Larisa Logan in Gewahrsam genommen werden muss. Mehr nicht.«

»Was längst geschehen wäre, wenn Sie uns nicht ausgetrickst hätten.« Bernards Gesicht zeigte Verblüffung. Striker wurde wütend. »Larisa Logan erwartete mich, als Sie versuchten, sie zu schnappen. Jetzt denkt sie, ich hätte Sie zu ihr geschickt. Sie glaubt, ich hätte sie geleimt. Und deswegen ist sie auf der Flucht. Prima Job, Bernard. Top Ten, wie immer.«

»Ich … ich wusste ja nicht …«

»Sie hätten es gewusst, wenn Sie mal nachgefragt hätten, aber dabei würden Sie sich ja einen Zacken aus der Krone brechen.«

Striker starrte ihn vernichtend an, und Bernard schluckte. Nach einer kurzen Weile zog Felicia ihren Partner am Arm. Er schüttelte gereizt ihre Hand ab.

»Eine Sache noch, Bernard. Sollte Larisa irgendwas passieren, sorg ich dafür, dass alle in der Abteilung erfahren werden, wie Sie die Sache verbockt haben. Und dass es Ihnen bloß um Ihre dämliche Erfolgsstatistik geht. Haben wir uns verstanden? Dann können Sie einpacken, von wegen Cop des Jahres, Verdienstmedaille und so.«

Bernards Augen weiteten sich bei der Erwähnung, seine Nasenflügel bebten. Schließlich trat Striker beiseite. Ohne Bernard oder Felicia eines weiteren Blickes zu würdigen, stürmte er durch den Gang, trat die Tür auf und schoss die Treppe hinunter.

Die Sache wurde zunehmend kompliziert.

Zornesblind
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