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Striker hämmerte aufs Gas und raste auf der Boundary Street nach Norden. Als sie 1 Avenue passierten, hatte der Ford Taurus glatt hundertvierzig Stundenkilometer auf dem Tacho. Auf der Napier Street – Striker wusste inzwischen, dass sechs Einheiten am Tatort eingetroffen waren – ging er auf die Bremse und fuhr im Schritttempo weiter. Am Ende der Straße flammten die blauen und roten Signalleuchten der Polizeiwagen auf.
»Los, fahr schneller«, drängte Felicia. »Mach voran. Gib Gummi. Die anderen sind längst da!«
Striker tat jedoch exakt das Gegenteil. Er presste den Fuß fester auf die Bremse und steuerte langsam zu dem grasbewachsenen Mittelstreifen. Dort parkte er.
»Jacob, was machst du da?«
Er ignorierte ihre Frage und schnappte sich das Funkmikro. »Gibt es weitere Anweisungen, wohin wir zu fahren haben?«, erkundigte er sich über Funk.
Als die Antwort »negativ« kam, sondierte Striker die Straße vor ihnen. Die Kreuzung, an der es zum Zusammenstoß mit dem Krankenwagen gekommen war, befand sich schätzungsweise ein bis zwei Meilen die Straße hinauf. Seine Vernunft sagte ihm, mit Vollgas zum Tatort zu fahren.
Seine Instinkte sagten ihm jedoch etwas anderes. Billy Mercury war ein Nervenbündel. Und der Kerl steckte noch irgendwo in der Nähe.
»Jacob?«, bohrte Felicia.
»Da oben sind mehr als genug Kollegen«, erklärte er. »Mercury wurde in einem von Cops eskortierten Krankenwagen nach Riverglen zurückgebracht. Als er entkam, hatte er nur zwei Fluchtmöglichkeiten.« Er zeigte in nordwestliche Richtung. »Mapleview ist hier gleich links. Und sechs Blocks weiter, auf der Nordseite der Pender, wohnt Mercury.«
»So nah?«
»Ja, so nah. Wir müssen beide Orte observieren. Wenn Mercury clever genug ist, flieht er in entgegengesetzte Richtung, aber das bezweifle ich. Nicht in seinem kritischen Zustand. Ich tippe, er hat sich an den nächstliegenden Ort geflüchtet, der für ihn bequem zu erreichen ist. Folglich hat er sich in seinem Apartment verschanzt.«
Felicia, die bereits ihre Waffe gezogen hatte, konzentrierte ihren Blick angespannt auf die Straße. Nichts, keine Auffälligkeiten. »Er ist verdammt nah an der Klinik«, meinte sie besorgt. »Die Ärzte müssen gewarnt und das Gebäude muss umstellt werden.«
Striker nickte zustimmend. Er trat aufs Gas und bretterte vom Mittelstreifen, dass Grasbüschel und Schotter unter den Reifen aufspritzten.
Zielort: Mapleview.
Die Adresse von Mapleview lautete 3600 Adanac Street, ihre einzige Zufahrt war jedoch auf der Boundary Road. Das Gebäude lag etwas zurückversetzt von der Straße, hinter einem großen Betonrondell, das mit Blumen und Sträuchern bepflanzt war. Nach Süden schloss sich ein Park an, auf der anderen Seite war ein Altenheim.
Eine weitere Fluchtmöglichkeit.
Weitere wehrlose Opfer.
Vor der Klinik verlangsamte Striker die Fahrt. Sein Blick pendelte zwischen Straße und Eingang hin und her. Sicherheit ging vor. Ihre Sicherheit. Billy Mercury hatte gerade zwei Cops und zwei Sanitäter umgelegt.
Er würde vor einem weiteren Mord nicht zurückschrecken.
Von der Ostseite der Boundary betrachtet, wirkte das Gelände menschenleer. Kopfzerbrechen bereitete ihm ein Minivan, der mit geöffneter Seitentür und ausgeschalteter Innenbeleuchtung vor dem Rondell stand. Ein Teilstück des bepflanzten Kreisels war abgezäunt, weil der Boden abgesunken war. Zudem bot der Park zig Verstecke. Alles in allem war es ein denkbar schlechter Ort für einen Polizeieinsatz. Hätte die Zeit nicht so gedrängt, hätte er auf weitere Einheiten und eine Hundestaffel gewartet.
Aber dieses Mal nicht. Sie mussten handeln.
Billy war verschwunden. Er hatte Menschenleben auf dem Gewissen. Und er würde wahllos weitertöten.
»Halte dich bereit«, sagte er zu Felicia. Dann fuhr er auf das Gelände mit dem zweistöckigen Bau.
Das Haus war relativ neu, aus hellem Sandstein mit viel verspiegeltem Glas. Mit dem Springbrunnen und den gepflegten Blumenarrangements hätte es ebenso gut ein Spa oder ein Wellnesshotel sein können.
Striker erwog, das Rondell zu umfahren, und verwarf den Gedanken schnell wieder. Es war zu gefährlich wegen der Nähe zu Park, Altenheim und Klinik.
Ein ideales Ziel für einen Heckenschützen.
Solange sie dahinter blieben, bot ihnen die Betonmauer mit der Bepflanzung Deckung.
Striker rammte die Automatik in die Parkeinstellung, öffnete die Autotür und sprang hinaus. Er war froh, aus dem Wagen zu kommen. Er zeigte auf das Altenheim. »Du kümmerst dich darum, dass die in dem Heim sämtliche Fenster und Türen geschlossen halten, okay?«
Statt einer Antwort lief sie los.
Als sie weg war, richtete Striker sein Augenmerk auf die Klinik. Er zog seine Waffe, duckte sich an der Betonmauer vorbei und setzte die Stufen hoch. Er trat die Eingangstüren auf, dass sie mit einem lauten, dumpfen Knall vor die Wand des Foyers schwangen. Das Sicherheitsglas vibrierte.
Die Rezeptionistin zog scharf den Atem ein.
»Vancouver Police Department«, rief Striker. »Ist Billy Mercury hier gewesen?«
Die Frau presste eine Hand auf ihr Herz. »Was? Ja, ja … er war hier.« Sie musterte ihn mit schreckgeweiteten Augen, erkennend, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. »Er ist vor nicht mal zwanzig Minuten hier weggefahren. Mit den anderen Beamten.«
»Im Krankenwagen?«
Sie nickte bekräftigend. »Ja, im Krankenwagen. Sie sind zum Riverglen gefahren. Er sollte … er sollte dort eingewiesen werden.«
»Er ist geflüchtet«, sagte Striker. »Und hat dabei zwei Cops und zwei Sanitäter getötet.«
Die Rezeptionistin wurde schneeweiß im Gesicht und presste die Lippen zu einer schmalen Linie aufeinander. Sie schien tief bestürzt. Und dann tauchte Dr. Ostermann unvermittelt aus einem der hinteren Räume auf. Er kam in den Empfangsbereich, seine Miene besorgt.
»Was führt Sie zu mir?«, wollte er wissen.
Striker trat zu ihm. »Ihr Patient hat sich aus dem Staub gemacht.«
»Wer? Doch nicht etwa Billy?«
»Doch, Billy. Er hat vorhin zwei Cops und die Sanitäter getötet.«
Dr. Ostermann begann zu schwanken. Sekundenlang dachte Striker, er würde vor seinen Augen zusammenbrechen. Der Arzt hielt sich jedoch geistesgegenwärtig am Schreibtisch der Rezeptionistin fest und blinzelte benommen.
»Oh Gott. Oh großer Gott«, presste er hervor.
»Gehen wir«, sagte Striker. »Sie begleiten mich.«
Der Mediziner sah auf. »Gehen? Aber … aber wohin?«
»Drei Blocks nach Norden. Zu Billys Apartment.«
Dr. Ostermann trat einen großen Schritt zurück. »Zu Billys Apartment? Aber-aber-aber … wieso ich?«
»Weil Sie meines Wissens der Einzige sind, der Einfluss auf den Mann hat. Er ist Ihr Patient, Doktor. Je nachdem, wie es ausgeht, brauchen wir Ihre Unterstützung.«
»Aber … aber ich kann nicht …«
»Sie kommen mit, Doktor. Ende der Diskussion.«
Striker fasste den Psychiater am Arm und führte ihn zum Ausgang. Bevor er die Tür hinter sich schloss, wies er die Rezeptionistin an: »Schließen Sie sämtliche Türen und Fenster. Und bis die Polizei eintrifft, öffnen Sie nicht, verstanden?«
Die Rezeptionistin nickte und blinzelte verstört, dann fasste sie sich und stürzte den Gang hinunter. Striker registrierte aus dem Augenwinkel, dass Felicia eben zu ihrem Wagen zurückkehrte. Er schob Dr. Ostermann durch die Glastür und die Stufen hinunter.
Er fixierte den Mann intensiv. »Machen Sie sich auf was gefasst, Doktor. Gleich wird sich nämlich herausstellen, ob Sie ein guter Psychiater sind oder nicht.«