70

Der Verkehr war enorm, und sie waren später dran als vereinbart. Als sie endlich das Nordende der Cambie Street Bridge erreichten, rechnete Striker halb damit, dass Meathead schon weg wäre. Sekunden später, am Rand der Nelson Street, erspähte Felicia eine Gruppe von trainierten Männern. Ihre schwarzen Overalls verschmolzen perfekt mit der Dunkelheit. Einige von ihnen sprangen gerade in einen wartenden weißen Transporter.

Das waren die Männer vom SEK. Sondereinsatzkommando.

Striker kannte die meisten aus dem Red Team: Reid Noble, Spitzname Jitters. Davey Combs, einhundert Kilo reine Muskelmasse verteilt auf einem Meter fünfundsiebzig. Und Victor Santos, ein verrückter Draufgänger und zum Glück nicht mit Felicia verwandt. Ihr Sergeant, Zulu 51, hieß eigentlich Tyrone Takuto, ein Spitzencop mit asiatischen Wurzeln. Striker ließ auf den Mann nichts kommen und fand, dass Takuto das Zeug zum Chief hätte.

Die Männer schienen erledigt vom Training und froh, dass sie Dienstschluss hatten. Zeit für ein kaltes Bier.

Striker parkte auf der Nelson und ließ den Blick die Straße entlangschweifen. »Siehst du irgendwo Meathead?«

»Bloß in meinen Albträumen«, knirschte Felicia.

Striker warf lachend den Kopf in den Nacken. Dabei entdeckte er Meathead, der sich eben von einem benachbarten Wolkenkratzer abseilte. Er baumelte im dritten Stock. Ein muskelbepackter Hüne, mit dem man besser keinen Streit anfing.

Im zweiten Stock sah er Striker und Felicia und bollerte los: »Hey, Süße, darf ich runterkommen und dir deinen Muffin buttern?«

»Steck dir deinen schmierigen Butterpinsel sonst wohin!«, brüllte sie zurück.

Meathead stieß einen rauen Lacher aus und sprang zu Boden. Im Sprung versuchte er, die Knie anzuhocken und nach einem eleganten Salto aufzukommen, aber er war zu schnell und patzte, bevor seine Füße aufsetzten. Er rollte seitwärts, landete halb auf dem Hintern, halb auf den Händen.

»Butterweiche Landung«, ätzte Felicia.

Meathead feixte. »Heiße Typen machen mich schwach.«

»Grrr«, fauchte sie.

»Sorry, Süße, ich meinte Schiffswrack.«

Meathead stieß ein hyänenähnliches Lachen aus und stand auf. Striker, knapp einen Meter fünfundachtzig und an die einhundert Kilo schwer, stellte sich neben den Adonis und kam sich spontan wie ein Zwerg vor. Nachdem sie ein paar Minuten über alte Zeiten geplaudert hatten, packte Meathead seine Sachen zusammen und schleppte sie zu dem Transportfahrzeug.

»Was ist mit der Ausrüstung für mich?«, fragte Striker.

Der Spezialist vom SEK nickte. »Ja, ja. Ich hab alles für dich vorbereitet. Brauch die Sachen aber heute Abend wieder zurück, sonst reißt Stark mir die Eier ab.«

James Stark war der zuständige Inspektor für das SEK. Stark war der Prototyp Cop, wie er im Lehrbuch stand, und hielt sich immer an die Anweisungen. Wäre er involviert gewesen, hätte Striker erst einmal einen ausufernden Papierkrieg führen müssen, um das Equipment zu bekommen – und selbst dann womöglich nicht. Das SEK war Starks Baby, und er schottete die Einheit am liebsten von den anderen ab.

Meathead hielt in diesem Fall den Kopf für sie hin, und Striker war ihm dankbar.

»Großes Indianerehrenwort«, grinste er.

Meathead schoss ihm einen skeptischen Blick zu. Dann nahm er zwei Nachtsichtferngläser aus seinem Ausrüstungskoffer. Er gab Striker eins davon. Als Felicia nach ihrem greifen wollte, hielt Meathead es sich spielerisch vor die Augen, betrachtete ihren Busen und seufzte: »Hmmm, leeecker.«

»Gib mir das verdammte Fernglas«, schimpfte sie.

Als sie danach grabschte, schwenkte der Cop es durch die Luft. Sie bedachte Striker mit einem harten Blick und sagte: »Ich glaube, wir sollten SF einschalten.«

SF. Strike Force. Die Abteilung polizeiliche Überwachung.

Zwischen Strikers Brauen schob sich eine steile Falte. Sie hatte das Thema schon im Wagen angeschnitten und ließ sich wie üblich schwer davon abbringen.

»Quatsch, wir machen das selbst«, erklärte er.

»Darauf sind wir nicht geschult.«

»Geschult?« Er lachte. »Was muss ich denn da großartig können? Dumm rumsitzen und warten. Gott, ist doch nicht das erste Mal, dass wir Leute observieren, oder?«

Felicia zuckte bloß mit den Schultern und verkniff sich eine Antwort.

»Wir machen doch bloß eine Observation«, fuhr er fort.

»SF hat mehr Erfahrung in so was.«

»SF dauert zu lange«, argumentierte er. »Die müssen Formulare ausfüllen, einen Antrag stellen. Warten, bis dieser Antrag genehmigt wird. Und du kennst doch Laroche. Der würde das in unserem Fall niemals abnicken.«

Felicia warf einen Blick auf ihre Uhr. »Dann mach voran.«

»Ich leg die Teile später zurück in deinen Spind«, sagte Striker zu Meathead.

»Wehe, wenn nicht«, lautete die Antwort. »Immerhin halt ich meinen Arsch hin.«

»Tust du doch gern, oder?«, ätzte Felicia.

Darauf sprangen die beiden Detectives in den Wagen und brausten los. Es war gegen neun Uhr abends und Endowment Lands nur zehn Minuten entfernt.

Striker parkte ein paar Blocks vorher. Sie legten das letzte Stück zu Fuß zurück. Die meisten Fenster der Villa waren dunkel, lediglich in Küche und Arbeitszimmer war Licht, registrierte er nach einem Blick durch den Vorgarten hinter dem Eisenzaun.

»Macht ganz den Eindruck, als wäre keiner zu Hause«, meinte Felicia.

Striker zeigte auf den Landrover, der neben dem Haus stand, und auf den BMW in der Auffahrt. »Doch, es ist jemand da.«

Er rekapitulierte: Die Zimmer, die ihn besonders interessierten – Schlafzimmer, Büro und Arbeitszimmer –, lagen auf der Südwestseite. Demnach war die kleine Anpflanzung von japanischen Pflaumenbäumen ideal, um ihnen ausreichend Deckung zu bieten. Die Bäume standen ein bisschen erhöht, genau richtig, darüber hinaus war das Gartenstück dunkel.

»Da«, gestikulierte er.

»Das seh ich selbst«, fauchte Felicia.

Striker peilte das östlich angrenzende Nachbargrundstück. Offenbar hatten sie dort keine Wachhunde. Es war stockdunkel, wahrscheinlich waren die Bewohner ausgegangen.

Als Beobachtungspunkt nahezu ideal.

Sie nahmen die mitgebrachte Ausrüstung und machten sich auf den Weg zu dem benachbarten Anwesen. Eine Mauer mit Eisenspitzen trennte die beiden Grundstücke. Striker duckte sich hinter einen der hohen, schmalen japanischen Pflaumenbäume und überprüfte, ob sein Handy auf Vibration gestellt war.

»Schalt den Klingelton bei deinem Handy aus«, raunte er Felicia zu.

Sie nickte.

Währenddessen tastete er die Mauer ab. Sie war gut zwei Meter hoch. Er half seiner Kollegin beim Hinüberklettern. Dann setzte er selbst mit Anlauf über die Mauer.

Im Garten der Ostermanns war alles ruhig. Von ihrem Platz aus konnten sie einen Großteil des Grundstücks einsehen. Durch die Bäume hindurch sah Striker bis zu den abfallenden Klippen. Der Mond spiegelte sich auf dem Wasser der Bucht, das wie Rauchglas anmutete.

»Von hier aus lassen sich Schlafzimmer, Büro und Arbeitszimmer super observieren«, bemerkte Felicia. »Bibliothek und Küche aber leider nicht.«

Striker nickte. »Lauf noch ein Stück weiter. Check, ob sich Küche und Bibliothek von einem anderen Punkt aus besser beobachten lassen. Dann gibst du mir Bescheid, okay? Damit wir das gesamte Haus im Blick haben.«

Felicia stand aus ihrer geduckten Haltung auf und schlich sich vorsichtig weiter. Sobald sie außer Sichtweite war, nahm Striker das Fernglas und fokussierte es auf den Eingangsbereich des gegenüberliegenden Hauses.

In der Auffahrt stand Dr. Ostermanns BMW. Auf der Ostseite des Hauses stand der Landrover. Striker registrierte die Säulen mit den antik gebeizten Außenlampen, die die gepflasterten Wege beleuchteten. Er nahm das Arbeitszimmer des Psychiaters ins Visier.

Die Vorhänge waren vorgezogen.

Sein Handy vibrierte in der Tasche, und er brachte es an sein Ohr.

»Ich hab einen guten Platz gefunden«, berichtete Felicia. »Von hier aus kann ich die West- und die Nordseite des Hauses observieren.«

»Schon irgendwas Interessantes entdeckt?«

»Hmpf«, machte Felicia ein wenig gefrustet. »Bislang null.«

»Bleib auf dem Posten. Und halte dich auf mein Zeichen hin bereit.«

Dann konzentrierte er sich abermals auf das Haus.

Lange beobachtete er das Arbeitszimmer. Er starrte auf den Vorhang, als würde der jeden Moment aufgehen und das Geheimnis lüften, das sich dahinter verbarg. Fehlanzeige. Nach ein paar Minuten richtete Striker seinen Fokus auf das Büro im Erdgeschoss. Es wirkte verlassen. Kein Licht. Nichts regte sich.

Sein Blick glitt zu Ostermanns Schlafzimmer, dort waren die Vorhänge nur halb vorgezogen, und er konnte mit der Teleskoplinse des Fernglases hineinzoomen.

Alles war dunkel und still wie in dem Büro.

Er war gerade dabei, sein Gewicht in eine bequemere Position zu verlagern, als die Schlafzimmertür aufging und Licht aufflammte. Dr. Ostermann kam ins Zimmer geschlurft wie ein alter Mann. Er zog sein Hemd aus, dabei schien ihn jede Bewegung zu schmerzen. Er streifte das Kleidungsstück über den Kopf und ließ es auf den Boden fallen.

Striker registrierte die langen, feuerroten Male auf dessen Haut. Striemen oder Kratzspuren?, fragte er sich. Eine im Hals-, eine im Hüftbereich. Dummerweise trat der Arzt hinter den halb geschlossenen Vorhang und nahm dem Detective jede Möglichkeit, seine Beobachtungen zu vertiefen.

Er besann sich, wie vorsichtig Ostermann sich bei ihrer ersten Begegnung bewegt hatte – wenige Stunden, nachdem der Verdächtige den Detective angegriffen und aus dem zweiten Stock von Mandy Gills Wohnhaus gesprungen war.

Wie es schien, hatte der gute Doc sich wieder einmal verletzt.

Verdächtig. Höchst verdächtig.

Plötzlich schwang die Eingangstür auf. Dalia rannte aus dem Haus. Sie hielt sich die Ohren zu, ihre Miene schwer gestresst. Sie rannte über den Vorplatz, riss das Tor auf und setzte westlich über die Belmont Avenue. An der nächsten Ecke verlor Striker sie aus den Augen.

Irgendetwas war da faul.

Striker telefonierte mit Felicia. »Gibt’s irgendwas Neues bei dir?«

»Nein. Alles ruhig.«

»Ich hatte den Doktor im Fokus, sieht aus, als wäre der mal wieder handgreiflich geworden. Außerdem ist Dalia wie von einer Tarantel gestochen aus dem Haus gelaufen. Irgendwas stimmt da nicht, Feleesh. Ich komm zu dir und schau mir das mal von Nahem an.

»Lass uns vorher Verstärkung anfordern.«

»Es dauert bloß eine Sekunde.«

»Mit dieser Familie stimmt was nicht, Jacob. Was du da vorhast, behagt mir gar nicht. Es ist gefährlich.«

»Die Arbeit der Polizei ist immer gefährlich.«

»Das hier ist was anderes.«

»Du gibst mir Deckung, Feleesh. Gib mir Deckung und lass dein Handy eingeschaltet, okay?«

Er schaltete das Gespräch ab und stahl sich durch die Pflaumenbäume hindurch in die Einfahrt. Auf dem Vorplatz steckte er das Fernglas weg und lief in geduckter Haltung zum Eingang.

Die Haustür stand halb offen, im Haus war alles ruhig. Am Ende der Halle fiel fahlgelbes Licht aus Küche und Bibliothek in den Flur.

Es war niemand da.

Striker betrat die Eingangshalle. Drinnen war es vergleichsweise heiß, und er vernahm das leise Summen des Elektrokamins.

»Hallo?«, rief er.

Keine Reaktion.

Er trat ein, zwei Schritte zurück, tastete mit der Hand draußen nach der Klingel. Das Läuten schrillte durch das Haus, echote in der Halle. Augenblicke später hörte er Schritte, die über das Tropenholzparkett schlurften.

Aus dem Schlafzimmer, schloss Striker.

Er wartete gelassen ab, bis die Schritte lauter wurden und Dr. Ostermann auf dem Treppenabsatz auftauchte. Er schwitzte und atmete schwer. Seine scharfsichtigen dunklen Augen huschten immer wieder blitzschnell durch das Foyer, er selbst bewegte sich dagegen lethargisch langsam. Er trat auf die nächste Stufe und stockte mitten in der Bewegung, sobald er Striker erkannte.

»Detective«, sagte er erkennbar verblüfft. »Ihr Besuch kommt ziemlich … unerwartet.«

»Wir müssen endlich miteinander reden.«

Dr. Ostermann nickte langsam. »Miteinander reden … ja natürlich. Kommen Sie einfach morgen früh wieder vorbei, und dann …«

»Nicht morgen. Jetzt«, sagte Striker mit Nachdruck.

Er schloss die Tür hinter sich.

Zornesblind
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