76

Bevor er hinunterkletterte, entsicherte der Ermittler seine SIG Sauer und tastete mit Blicken den Keller ab. Muffige Feuchtigkeit schlug ihm entgegen, ansonsten regte sich nichts. Totenstille. Er schätzte den Kellerraum auf sechs mal neun Meter. Viel steingrauer Beton. Ein ungemachtes Bett. Ein Nachtschrank, darauf ein kleiner Fernseher und ein Blue-Ray-Player. Und eine Anrichte, auf der ein Computer stand.

Nichts Auffälliges.

Striker trat auf die oberste Leiterstufe und schaute nach unten. Ungefähr fünf Meter unter ihm befand sich der harte Betonboden. Das war verdammt tief. Seine Waffe für den Ernstfall nach unten gerichtet, kletterte er hinab.

Von oben gab Felicia ihm Deckung.

Als seine Füße festen Boden berührten, schnellte Striker herum und erfasste mit einem Blick das Zimmer. Das Bett war ein alter Futon, davor stand ein Paar Laufschuhe.

Es roch unangenehm ätzend, nach Verdünner oder Desinfektionsmittel. Nach ein paar Schritten fand er die Ursache für den Gestank. In einer Ecke, hinter einer Kiste mit Latexhandschuhen, stand ein alter Lackkanister.

Steinman’s.

Er umkrampfte seine SIG automatisch fester.

»Was ist denn da unten?«, rief Felicia.

»Verdammt, sieht aus wie ein geheimes Versteck«, rief er hinauf. »Das ist garantiert von dieser Natter.«

»Ich komm zu dir runter.«

Schlagartig flammten in Strikers Gedächtnis die Bilder auf, wie sie in Sarah Roses brennendem Apartment festgesessen hatten. »Nein!«, gab er zurück. »Bleib, wo du bist. Du musst mir Deckung geben.«

»Die angeforderten Streifencops sind bei mir.«

Striker blickte nach oben und erspähte hinter ihr eine blaue Uniform. »Okay, dann komm. Aber stell oben jemanden zur Bewachung ab, ja? Ich hab keine Lust, noch mal abgefackelt zu werden.«

Felicia wies den Cop an, ihnen Deckung zu geben, dann kletterte sie über die Leiter zu Striker. Kaum war sie unten, bekam sie Platzangst. Striker wusste von Felicias Klaustrophobie; es war nicht das erste Mal, dass sie mit sich rang.

»Warte besser oben. Ich schaff das schon allein hier unten.«

»Will mich bloß mal kurz umgucken«, muffelte sie.

Er untersuchte die Schuhe, die vor dem Bett standen. Größe vierundvierzig. Gleiche Größe wie die Abdrücke, die sie in Mandy Gills Apartment genommen hatten.

Striker drehte die Schuhe um und analysierte die Sohle. Das Profil war rechts mehr abgelaufen als links. Das ließ auf eine Ganganomalie schließen. Vielleicht von einer früheren Knie- oder Hüftverletzung. Oder auch im Beckenbereich. Wie auch immer, das Profil passte auf die am Tatort gefundenen Abdrücke.

»Das Profil ist zweifellos identisch«, räumte Striker ein.

»Ich krieg die Krise«, stöhnte Felicia.

»Sei bloß vorsichtig. Nicht dass uns die Bude hier unten um die Ohren fliegt.«

Felicia zeigte ihm gereizt den Stinkefinger und begann, behutsam das Futonbett abzutasten; Striker knöpfte sich das Sideboard vor, auf dem ein neuer Computermonitor und drei externe Festplatten standen, davor Tastatur mit Maus. Auf einem Regal standen DVDs und Blue-Ray-Discs. Alle neu und in Zellophan verschweißt.

Striker bewegte die Maus, und der dunkle Monitor strahlte bläulich auf. Dann wurde die obligatorische Aufforderung Password? eingeblendet. Bloß keine Experimente, entschied Striker. Ein falscher Versuch reichte, um sie auszuloggen oder eine vorprogrammierte Formatierungsanwendung zu starten.

Die Jungs von der Forensik hatten für so was das bessere Händchen.

Er probierte, Ich anzurufen, bekam in dem Betonbunker aber kein Netz. Er lief zur Leiter und blieb auf der ersten Stufe stehen.

Links von ihm hing ein Druck an der Wand. Irgendeine berühmte Lithografie. Striker fiel der Name des Künstlers nicht ein, er kannte jedoch den Titel.

Relativität.

Es war befremdlich und bizarr, wie der Künstler sich über die Gesetze der Schwerkraft hinweggesetzt hatte.

Irgendwie passte das Ding in diesen Bunker.

Der gerahmte Druck bedeckte einen großen Teil der Wand und hing ein bisschen schief, stellte Striker beim zweiten Hinsehen fest.

Er knöpfte sich das Bild genauer vor, leuchtete mit der Taschenlampe den Rahmen ab. Auf dem Wandverputz waren feine goldfarbene Kratzspuren erkennbar, vermutlich von dem goldbronzierten Rahmen.

Er nahm den Druck von der Wand und stellte ihn auf den Boden. Dahinter entdeckte er eine seltsame Klappe, sechzig mal neunzig Zentimeter groß.

Er musste länger überlegen, bis er darauf kam: ein altmodischer Speisenaufzug.

Ideal als Versteck oder Fluchtmöglichkeit.

Er winkte Felicia aufgeregt zu sich. Ihre Pistole schussbereit, beobachtete sie, wie Striker die Klappe vorsichtig hochschob. Dann leuchtete er mit seiner Taschenlampe in die gähnende Dunkelheit – der Schacht war leer.

Felicia atmete hörbar erleichtert auf und steckte die SIG zurück ins Holster; Striker neigte sich vor und leuchtete mit der Taschenlampe in den dunklen Gang, der nach oben führte. Er war immerhin so breit, dass ein Mensch darin stehen konnte.

Striker leuchtete mit dem Strahl bis in die oberste Etage. Direkt in Dr. Ostermanns verschlossenes Arbeitszimmer.

Interessant.

»Wieso haben die hier unten so einen Aufzug installiert?«, wunderte Felicia sich laut.

»Vermutlich wurde dieser Raum früher als Vorratsraum oder Weinkeller genutzt«, erwiderte Striker. »Kalt genug ist es jedenfalls hier unten.«

Er inspizierte den kleinen Aufzug.

Links auf der Innenseite war ein Zugmechanismus angebracht. Striker schnappte sich das Seil und ließ den Aufzug langsam nach unten in den Keller gleiten. Auf dem Holzbord stand eine Videokamera, ein Modell, das er noch nie gesehen hatte, mit LCD-Display. Statt mit DVD oder Cassette arbeitete die Kamera mit einer eingebauten Festplatte. Außerdem hatte sie einen eingebauten Bewegungssensor. Sobald Striker sie bewegte, begann die Kamera wieder aufzuzeichnen.

Er fand die entsprechenden Knöpfe und stellte den Sensor ab.

Felicia trat zu ihm. »Was ist da drauf?«

»Das sehen wir gleich.«

Striker drückte auf »Play«, und das Video lief ab. Auf dem Display waren Ostermann und Lexa zu erkennen. Der Doktor war nackt bis auf ein Lederhalsband mit Kette, das er um den Hals hatte; Lexa trug eine eng geschnürte rote Lederkorsage, die ihre Brüste aufreizend hochschob, dass sie förmlich aus dem Ausschnitt drängten. Dazu einen roten Seidenslip und passende Strümpfe.

Sie fesselte Dr. Ostermann bäuchlings an den Tisch, fixierte seine Hände und Füße an den dafür vorgesehenen Eisenklammern. Dann, als er hilflos und mit gespreizten Beinen dalag, begann sie, seinen Körper mit einer dünnen, schwarzen Lederpeitsche zu streicheln.

Ostermann stöhnte hingebungsvoll, sobald das Leder ihn streifte. Die Peitschenhiebe wurden jedoch zunehmend fester. Brutaler. Sie hinterließen breite, fleischig rote Striemen auf dessen Nacken, Rücken, Gesäß und Beinen.

»Red«, brüllte er. »Red, Lexa. RED

Sie tat jedoch, als hätte sie ihr Sicherheitswort noch nie gehört, und schlug weiter auf den wehrlosen Mann ein. Mit einem Ausdruck auf ihrem Gesicht, dass Striker Gänsehaut bekam: überlegen, kontrolliert, sadistisch.

Das Video ging ungefähr vier Minuten so weiter. Bis Ostermann nicht mehr stöhnte und keuchte, sondern leise winselnd auf dem Tisch lag, weich geklopft wie ein rohes Steak.

Lexa trat zu ihm, ein selbstgefälliges Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie umrundete langsam den Tisch, öffnete die Handschellen und befreite ihren Mann von den Fesseln. Dr. Ostermann rührte sich nicht. Er blieb schwer atmend auf dem Tisch liegen.

Lexa beugte sich über ihn. Küsste ihn sanft auf den Nacken. Griff nach unten und quetschte ihm die Eier.

Dr. Ostermann schrie panisch auf, aber Lexa lächelte bloß.

»Ich finde dich widerwärtig, du perverses Stück Scheiße«, sirrte sie.

Sie ließ die Peitsche auf seinen Rücken fallen, schälte sich aus ihrem Dominaoutfit und streifte den grünen Seidenkimono über. Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, stöckelte sie aus dem Zimmer.

Das Video zoomte auf Dr. Ostermann. Seine Schultern zuckten, und er schrie und stöhnte vor Schmerz.

Dann stoppte das Video.

Striker riss den Blick vom Display los und spähte zu Felicia. »Das Büro da oben … ist eine Folterkammer … Die Ostermanns stehen auf Sadomaso«, stammelte er erkennbar verblüfft.

»Mannomann, sind das zwei kranke Hirne«, meinte seine Kollegin.

Da musste er ihr spontan zustimmen. Es passte wie die Faust aufs Auge. »Die Striemen auf Ostermanns Rücken und Hals stammten nicht von einer Gürtelrose oder einem Sturz, sondern von dieser verfluchten Peitsche.«

Felicia nickte. »Das würde auch seine fahrigen Bewegungen erklären.«

»Und weshalb er wegen der Videos dermaßen in Panik geriet. Grundgütiger, als ich ihm mit den Mordvideos drohte, dachte er, ich meinte seine SM-Videos. Seine Heimvideos.«

Felicia überlegte. »Dr. Ostermann war wohl ein Masochist.«

»Und Lexa ist eine Sadistin«, schloss Striker.

Der Begriff ging ihm schwer über die Lippen, aber anders konnte es nicht sein. Lexa war die Dominante in dieser Beziehung. Er hatte spontan wieder das Bild vor Augen, wie sie die Treppe hinunterkam, in ihrem flatternden grünen Kimono, verschwitzt, ihre Pupillen dunkel und geweitet.

»Lexa. Verdammt, wo ist sie eigentlich?«

»Keine Ahnung.«

Striker stellte die Kamera wieder in den Aufzug, das war ein Fall für die Spurensicherung. Unvermittelt kreisten seine Gedanken um die Natter. Er knipste seine Taschenlampe an und leuchtete sorgfältig sämtliche Ritzen und Winkel ab. Keine versteckten Kameras, keine Mikrofone oder vergleichbares Überwachungsequipment. Das musste jedoch nichts heißen.

Der Raum würde gründlich untersucht werden müssen.

Er leuchtete unter das Bett – nichts. Er leuchtete den gesamten Boden ab. Bis er plötzlich stutzte. Auf dem Betonboden unter der Computerkonsole entdeckte er bräunliche Kratzer.

Kratzer, so ähnlich wie bei dem gerahmten Druck.

»Das Sideboard wurde bewegt«, sagte er.

Er packte die Ecken des Schranks und schob ihn langsam von der Wand weg. Dahinter entdeckte er eine Öffnung, etwa so groß wie eine kleinere Mikrowelle. Darin standen zwei Reihen DVDs und Blue-Ray-Boxen. Alle waren mit Back-up beschriftet, darunter das jeweilige Datum. Striker ging sie einzeln durch.

Eins war an diesem Morgen gemacht worden.

Er nahm es und schob es in den Blue-Ray-Player, tippte auf »Play«, und das Video begann. Striker gefror das Blut in den Adern: Das Video war von ihm und Felicia. In Sarah Roses Apartment. Kurz bevor das Feuer ausbrach.

Felicia machte einen langen Hals. »Um Gottes willen, sind wir das?«

Striker blieb stumm. Er blickte von dem Fernseher zu den DVDs in dem Kabuff hinter dem Schrank. Die würden sie sich alle reinziehen müssen. Um irgendeine Spur, irgendwelche Hinweise zu finden.

Es würde Stunden dauern.

Die Aufzeichnung stoppte in dem Moment, als sie die Haustür aufbrechen und flüchten konnten.

Und startete erneut.

Die Aufnahme wackelte, als würde die Kamera hochgehoben. Und dann, für einen winzigen Augenblick, kam ein junger Mann mit wilden, schwarzen Locken ins Bild, seine Augen fast durchscheinend grün.

Felicia wurde aschgrau im Gesicht.

»Dr. Ostermann war gar nicht die Natter«, sagte sie leise. »Es ist …«

»Gabriel«, sagte Striker ungläubig.

Gabriel Ostermann.

Der Junge.

Der Sohn.

Und er war verschwunden.

Zornesblind
cover.html
978-3-641-06753-3.html
978-3-641-06753-3-1.html
978-3-641-06753-3-2.html
978-3-641-06753-3-3.html
978-3-641-06753-3-4.html
978-3-641-06753-3-5.html
978-3-641-06753-3-6.html
978-3-641-06753-3-7.html
978-3-641-06753-3-8.html
978-3-641-06753-3-9.html
978-3-641-06753-3-10.html
978-3-641-06753-3-11.html
978-3-641-06753-3-12.html
978-3-641-06753-3-13.html
978-3-641-06753-3-14.html
978-3-641-06753-3-15.html
978-3-641-06753-3-16.html
978-3-641-06753-3-17.html
978-3-641-06753-3-18.html
978-3-641-06753-3-19.html
978-3-641-06753-3-20.html
978-3-641-06753-3-21.html
978-3-641-06753-3-22.html
978-3-641-06753-3-23.html
978-3-641-06753-3-24.html
978-3-641-06753-3-25.html
978-3-641-06753-3-26.html
978-3-641-06753-3-27.html
978-3-641-06753-3-28.html
978-3-641-06753-3-29.html
978-3-641-06753-3-30.html
978-3-641-06753-3-31.html
978-3-641-06753-3-32.html
978-3-641-06753-3-33.html
978-3-641-06753-3-34.html
978-3-641-06753-3-35.html
978-3-641-06753-3-36.html
978-3-641-06753-3-37.html
978-3-641-06753-3-38.html
978-3-641-06753-3-39.html
978-3-641-06753-3-40.html
978-3-641-06753-3-41.html
978-3-641-06753-3-42.html
978-3-641-06753-3-43.html
978-3-641-06753-3-44.html
978-3-641-06753-3-45.html
978-3-641-06753-3-46.html
978-3-641-06753-3-47.html
978-3-641-06753-3-48.html
978-3-641-06753-3-49.html
978-3-641-06753-3-50.html
978-3-641-06753-3-51.html
978-3-641-06753-3-52.html
978-3-641-06753-3-53.html
978-3-641-06753-3-54.html
978-3-641-06753-3-55.html
978-3-641-06753-3-56.html
978-3-641-06753-3-57.html
978-3-641-06753-3-58.html
978-3-641-06753-3-59.html
978-3-641-06753-3-60.html
978-3-641-06753-3-61.html
978-3-641-06753-3-62.html
978-3-641-06753-3-63.html
978-3-641-06753-3-64.html
978-3-641-06753-3-65.html
978-3-641-06753-3-66.html
978-3-641-06753-3-67.html
978-3-641-06753-3-68.html
978-3-641-06753-3-69.html
978-3-641-06753-3-70.html
978-3-641-06753-3-71.html
978-3-641-06753-3-72.html
978-3-641-06753-3-73.html
978-3-641-06753-3-74.html
978-3-641-06753-3-75.html
978-3-641-06753-3-76.html
978-3-641-06753-3-77.html
978-3-641-06753-3-78.html
978-3-641-06753-3-79.html
978-3-641-06753-3-80.html
978-3-641-06753-3-81.html
978-3-641-06753-3-82.html
978-3-641-06753-3-83.html
978-3-641-06753-3-84.html
978-3-641-06753-3-85.html
978-3-641-06753-3-86.html
978-3-641-06753-3-87.html
978-3-641-06753-3-88.html
978-3-641-06753-3-89.html
978-3-641-06753-3-90.html
978-3-641-06753-3-91.html
978-3-641-06753-3-92.html
978-3-641-06753-3-93.html
978-3-641-06753-3-94.html
978-3-641-06753-3-95.html
978-3-641-06753-3-96.html
978-3-641-06753-3-97.html
978-3-641-06753-3-98.html
978-3-641-06753-3-99.html
978-3-641-06753-3-100.html
978-3-641-06753-3-101.html
978-3-641-06753-3-102.html
978-3-641-06753-3-103.html
978-3-641-06753-3-104.html
978-3-641-06753-3-105.html
978-3-641-06753-3-106.html
978-3-641-06753-3-107.html
978-3-641-06753-3-108.html
978-3-641-06753-3-109.html
978-3-641-06753-3-110.html
978-3-641-06753-3-111.html
978-3-641-06753-3-112.html
978-3-641-06753-3-113.html
978-3-641-06753-3-114.html
978-3-641-06753-3-115.html
978-3-641-06753-3-116.html
978-3-641-06753-3-117.html
978-3-641-06753-3-118.html