65

Normalerweise dauerte die Fahrt von der Main Street zur Metrotown Mall gut zwanzig Minuten. Mit Lichthupe und Vollgas schaffte Striker es in weniger als zehn. Auf der Burnaby South trafen sie auf die Zivilcops.

Striker erkannte die Undercoverlimousine schon von Weitem, als sie am Kingsway in die Tiefgarage fuhr. Er schüttelte den Kopf – von wegen Undercoveroperation und Zivilstreife. Die Kollegen fuhren genauso einen dicken weißen Crown Victoria wie sein Boss. Larisa, die drei Jahre bei der Opferhilfe gearbeitet hatte, würde einen solchen Schlitten auf hundert Meter erkennen. Hinzu kam, dass sie selbst früher in so einem Teil zu ihren Terminen gefahren war.

»Funk ihnen, dass sie sich vom Acker machen sollen«, wies Striker seine Partnerin an. »Wenn Larisa die Karre erkennt, ist alles verloren.«

Felicia nickte und informierte die Zentrale in Burnaby South. Kurz darauf schoss der Crown Vic mit quietschenden Reifen und stinkendem Gummiabrieb aus dem Parkhaus.

Es war ein Fuck you von den Kollegen.

»So ein Idiot«, bollerte Striker. »Lass dir die Nummer geben, das gibt ein Nachspiel.«

Damit der Wagen nicht direkt ins Auge fiel, parkte Striker etwas abseits, hinter einem der breiten Betonpfeiler. Als Felicia ausstieg und die Größe des Parkhauses realisierte, japste sie vor Schreck.

»Ich glaub fast, wir müssen uns aufteilen«, sagte sie. »Diese Mall ist riesig. Wenn Larisa nicht mehr in dem Café ist, finden wir sie wahrscheinlich nie.«

»Umso mehr Grund, uns zu beeilen«, versetzte Striker. Er zeigte auf den Aufzug. »Arabic Beans ist auf der Nordwestseite der Mall, unter den älteren Kinos, nicht das neue Cineplex. Du kommst aus Richtung Skytrain-Rampe, ich lauf durch die Mall und stoß dann zu dir.«

»Und wenn ich sie finde, was dann? Soll ich sie überwältigen?«

Striker überlegte. »Nein. Besser, sie sieht dich nicht. Ruf mich kurz an, ich mach das auf meine Art. Sollte sie abhauen wollen, überwältigst du sie. Das müssen wir. Es ist zu ihrem Besten.«

Felicia nickte. Sie trennten sich und nahmen unterschiedliche Aufzüge, die sie in die Verkaufsetagen der Mall brachten.

Hoffentlich kommen wir nicht zu spät, dachte Striker.

Ungeachtet der Tatsache, dass Weihnachten und der Winterschlussverkauf lange vorbei waren, war es in der Mall proppenvoll. Teenagerhorden mit Baggypants und Skateboards hingen bei McDonald’s ab, Kinder schleiften ihre Eltern durch die Spielzeugabteilungen. Es war sieben Uhr, Abendessenszeit, und in den Restaurants tobte der Bär.

Striker blieb stehen und sondierte das Terrain.

Larisa Logan war hellhäutig, mittelgroß und mittelschlank wie viele junge Frauen, folglich fiel sie in dem Gedränge bestimmt nicht auf. Ihre schulterlangen Haare hatte sie mal offen, mal zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Außerdem war sie Brillenträgerin, trug aber manchmal auch bunte Kontaktlinsen, erinnerte er sich.

Als Zielperson war sie eine harte Nuss.

Da Striker sie im Restaurantbereich nicht entdeckte, lief er zu den Ausgängen. Er verließ das Einkaufszentrum und umrundete den Komplex über den Kingsway Boulevard.

Draußen war es stockdunkel geworden, der Gehweg eisglatt. Die Straßenlaternen erhellten nur einen kleinen Teilbereich, die Passanten warfen lange Schatten.

Striker konzentrierte sich auf jedes Gesicht, doch sie war nicht dabei. Je näher er dem Arabic Beans kam, desto mehr verkrampfte sich sein Herz, und seine Hoffnung verpuffte.

Vor der Kaffeebar stand ein Crown Victoria. Ein Polizeiwagen der Stadt Vancouver. Mit zuckenden blauen und roten Signalleuchten und eingeschalteten Scheinwerfern.

»Verdammt, was soll das?«, knirschte er.

Er rannte unwillkürlich los. Stürmte am Happy Gate Sushi Shop, am Muffin Inn und Save-on-Foods vorbei zu der Kaffeebar.

Ungefähr fünfzehn Meter vom Arabic Beans entfernt, erspähte er Felicia, die aus der entgegengesetzten Richtung kam. Ihre harte Miene signalisierte ihm, dass sie seine Verärgerung teilte. Was war da los? Wer zum Kuckuck war noch vor ihnen im Arabic Beans eingetrudelt?

Zehn Schritte weiter, und Striker wusste Bescheid.

Die Milchglastüren zu dem Café schwenkten langsam auf, zwei Personen traten hinaus. Die zierliche Asiatin wusste Striker auf Anhieb nicht zuzuordnen. Den Cop, der sie begleitete, kannte er allerdinge zur Genüge: Bernard Hamilton, Wagen 87, vom Mental Health Team. Der Ermittler sah rot.

Die beiden waren bestimmt wegen Larisa hier.

Striker baute sich vor Hamilton auf. »Verdammt, was machen Sie hier?«

Bernard Hamilton grinste gönnerhaft. »Wir suchen Larisa. Hab einen Tipp bekommen, dass sie hier sein soll.« Er zwinkerte vielsagend.

»Einen Tipp? Von wem?«

Bernard grinste bloß. »Seine Informanten sollte man schön für sich behalten«, lautete sein lapidarer Kommentar.

Striker sah weit und breit keine Spur von dem Mädchen. »Wo ist sie?«

»Hier ist sie jedenfalls nicht«, räumte Bernard ein. »Ich hab den Laden überprüft. Sie war schon weg, bevor wir kamen.«

Der Detective tauschte mit Felicia einen Blick. »Du behältst die Tür im Auge.« Dann verschwand er in der Kaffeebar.

Es war ein kleines, dämmriges Café mit einem großen Spiegel hinter der Bar, der die blaue Neonreklame Arabic Beans reflektierte, die im Fenster hing. Hinter der Theke stand ein dunkelhäutiger Barista, hoch gewachsen und überschlank. Er spülte Kaffeebecher.

Striker trat zu ihm. »Ist Ihnen hier drin zufällig eine junge Frau aufgefallen?« Er beschrieb Larisa. »Sie hat halblange braune Haare«, schloss er.

Der Mann stellte die Tasse ab und zog die Stirn in Falten. »Ich seh hier drin ’ne Menge Leute«, sagte er, seine Stimme angenehm tief. Er sprach langsam, als hätte er alle Zeit der Welt. Der weiche Akzent erinnerte Striker an die Honduraner, mit denen er als Streifenpolizist oft aneinandergerasselt war. »Wir sind im Metrotown, Mann. Hier ist immer viel los.«

Striker angelte sein iPhone aus der Tasche und öffnete seine Fotogalerie. Er scrollte durch die Bilder, fand das von Larisa und zeigte es dem Mann. Der Barista sah sich das Foto lange an und schüttelte den Kopf.

»Nie gesehen, das Mädchen.«

»Haben Sie Videoüberwachung?«

»Nää, Mann, ist dem Chef zu teuer, Mann. Wir sind froh, dass wir heißes Wasser zum Abwaschen haben.«

Striker fluchte. Er verließ den Tresen und sah sich in der Kaffeebar um. Er begann im hinteren Teil, checkte die beiden Toiletten, sie waren leer. Dann schlenderte er an den Tischen vorbei und konzentrierte sich auf die wenigen Gäste. Fünf Männer, vier Frauen: zwei Asiatinnen, eine Afroamerikanerin und eine Weiße von über eins achtzig.

Striker kochte innerlich.

Larisa war weg; sie hatten sie verpasst.

Wieder einmal.

Beim Hinausgehen fiel sein Blick auf eine Reihe Monitore, die an der Längswand standen. Die ersten vier waren in seine Richtung, der fünfte war zur Wand gedreht.

Striker lief spontan dorthin, checkte Stuhl und Boden. Vielleicht war irgendetwas hinuntergefallen. Geldbörse. Personalausweis. Irgendetwas, das Larisa gehörte und ihnen neue Aufschlüsse gab.

Er fand jedoch nichts.

Er drehte den Monitor so, dass er den Bildschirm sehen konnte. Auf der weißen Fläche tanzten schwarze Buchstaben. Eine Nachricht. Kaum las Striker die Message, sank sein Herz ins Bodenlose.

Wagen 87?

Bin wohl wieder aufs Kreuz gelegt worden, was?

Ich kann es nicht fassen.

Sie waren meine letzte Hoffnung, Jacob.

Meine einzige Hoffnung.

Zornesblind
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