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Dann ging alles sehr schnell. Als Striker die Schreie hörte, war er gewarnt. Dann sah er Dalia. Das Mädchen rannte um das Haus. Sie stürzte zwischen den Bäumen hindurch in Richtung Straße.
Eine Sekunde später nahm Felicia die Verfolgung des Mädchens auf.
»Stehen bleiben!«, gellte seine Kollegin. »Stopp, Vancouver Police! Dalia, bleiben Sie sofort stehen!«
Dann wurden beide Frauen von der Dunkelheit verschluckt.
Striker heftete sich kurz entschlossen an ihre Fersen.
Nach einem kurzen Sprint hielt er hart inne. Ganz gleich, wer in dem Blockhaus war – Gabriel, Lexa oder beide –, wusste inzwischen zweifellos von der Anwesenheit der Polizei. Wenn er Dalia verfolgte, bot er Lexa und Gabriel die einmalige Chance zur Flucht. Dann konnten sie sich absetzen und sich womöglich dem Zugriff der Polizei völlig entziehen.
Das Abwägen lief blitzartig in seinem Kopf ab.
Felicia brauchte ihn. Wenn er jedoch zuließe, dass Lexa und Gabriel entkamen, würde das Morden nicht aufhören. Wie viele Opfer kämen dann noch auf deren Konto? Nicht hier, aber irgendwo anders, in einer anderen Stadt, einem anderen Land? Lexa empfand seit jeher eine sadistische Befriedigung am Töten, und sie würde weiter töten. Und Gabriel war die Natter, eine Mordmaschine und ihr williger Vollstrecker – darauf hatte sie ihren Stiefsohn programmiert. Nein, er musste den beiden das Handwerk legen, entschied Striker.
»Sie müssen gestoppt werden.«
Um jeden Preis.
Striker wendete sich in Richtung Blockhaus. Es schien einsam und verlassen. Die Frontfenster waren dunkel. Hinter dem Haus brummte leise ein Generator.
Dalia war durch den rückwärtigen Eingang geflüchtet.
Striker zog seine Dienstwaffe und hielt in geduckter Haltung auf das Haus zu. Alles war ruhig, der See lag gespenstisch still. Nebel kroch wie ein schmutzig weißes Ungeheuer über das Wasser und durch die Bäume, versperrte Striker die Sicht über den See. Da draußen, irgendwo hinter der dünnen Eisfläche, ballte sich kalte, undurchdringliche Schwärze.
Von Lexa oder Gabriel keine Spur.
Striker glitt hinter das Blockhaus. Die Glasschiebetür stand weit offen, in der Küche war Licht. Er nahm die rutschigen Verandastufen, brachte sich im Türrahmen in Deckung und schaute sich vorsichtig um.
Nichts.
Er stahl sich in die Küche und von dort leise die Treppen hinauf in die oberen Stockwerke.
Das Haus war leer.
Der Vogel war ausgeflogen.
Frustriert schlich er wieder nach draußen, wo er den Strahl der Taschenlampe langsam über den See gleiten ließ. Zuerst sah er nichts.
Dann entdeckte er die Leiche, die wie ein Stück Holz im Wasser trieb.
Sie lag nicht weit vom Ufer entfernt, dort, wo die Eisschicht dünner wurde und schlammige Pfützen bildete. Er kroch dorthin, fasste einen Arm und drehte die Tote mit einer schnellen Bewegung in Rückenlage.
Es war Lexa, stellte Striker alarmiert fest.
Die Natter hatte sie getötet. Im Affekt. Gabriel hatte die Kontrolle verloren.
Und er war verschwunden.