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Endlich kam die Sonne raus: ein grellweißer Ball an einem blass verwaschenen Himmel.

Striker fuhr die Main Street runter und hielt an einem Starbucks Drive-thru, wo er Frühstückswraps und Kaffee bestellte, einen Americano, schwarz, für sich, und einen Vanilla latte für Felicia.

Dann fuhren sie zum Präsidium.

Das Morddezernat war wie leergefegt, die kleinen Büromodule unbesetzt. Die halbe Mannschaft hatte frei, die andere war draußen im Einsatz. Ein paar von den Jungs würden bis in die Puppen ermitteln, die meisten konnten jedoch schon am frühen Nachmittag ihr Wochenende einläuten.

Striker hievte die drei mitgebrachten Kartons auf seinen Schreibtisch. In der Ostermann-Villa stand noch jede Menge Nachschub. Weil es so immens viel war, hatte er Clowe und Parker vom Einbruchdezernat um Unterstützung gebeten. Die beiden saßen jetzt im Büro des Doc und blätterten Akten durch.

Felicia trat zu ihm. »Ich fände es sinnvoller, wenn wir Gabriel suchen würden«, pflaumte sie ihren Kollegen an. »Und Dalia und Lexa. Der Papierkram hier läuft uns nicht weg.«

Striker schüttelte den Kopf. »Diese Akten sind der Auslöser für alles, was passiert ist. Versteh die Opfer, und du verstehst die Natter besser.« Striker legte gedankenvoll den Kopf schief. Was sie brauchten, war der Zugang zum Police Information Retrieved System – PIRS – und zum Law Enforcement Information Postal – LEIP. »Du recherchierst Gabriel auf PRIME, PIRS und LEIP; ich wühle mich inzwischen durch die Aktenberge.«

Der Vorschlag stieß bei Felicia auf Gegenliebe. Sie setzte den Latte-Becher an die Lippen, stellte fest, dass er leer war, und warf ihn in den Abfall. »Ich mach uns einen Kaffee«, und weg war sie.

Striker war froh, dass er ein bisschen Freiraum hatte. Er zog sich die erste Kiste heran und begann, die Akten durchzugehen.

Jede war wichtig, angesichts der Schwere der Verbrechen. Identitätsbetrug hatte das Leben vieler Menschen zerstört und war das Delikt mit den aktuell höchsten Zuwachsraten. In ihrer Gesamtheit betrachtet sagten die Akten zudem eine Menge aus. Als er sich ungefähr bis zur Hälfte der ersten Kiste vorgearbeitet hatte – er war beim Buchstaben H –, wurde ihm das Muster klar.

Ihm drehte sich der Magen um.

Er las gerade die Akte Jeremy Heath. Die Seiten waren mit Trennblättern unterteilt. Der erste Teil enthielt allgemeine Informationen: Geburtsname, Mädchenname der Mutter, Computerpasswörter, Bankinformationen, Postvordrucke für Adressänderungen.

Im zweiten Teil waren die Versicherungen aufgeführt, die Jeremy Heath abgeschlossen hatte: Krankenversicherung, Lebensversicherung und Unfallversicherung. Er hatte außerdem Anspruch auf eine Rente aus seiner Zeit beim Militär.

Im dritten Teil waren seine Finanztransaktionen aufgelistet: Visa, MasterCard, American Express, Namen von Banken, Bankleitzahlen und Kontonummern, Depots für Aktien und Fondsanteile.

Die vierte und letzte Unterteilung enthielt Hinweise über seine Bonität: Einnahmen und Ausgaben, Höhe des Kreditrahmens, Häufigkeit der Überziehung.

Alles war präzise, systematisch, geplant.

In dem Umschlag in der hinteren Klappe befanden sich persönliche Dokumente. Während Striker sie inspizierte, begriff er, warum die Ausweisdokumente täuschend echt aussahen. Die Antwort war einfach.

Sie waren echt.

Die Ostermanns hatten weder Pässe noch sonst etwas gefälscht, sie hatten sich echte Dokumente von den Originalquellen besorgt. Sämtliche Führerscheine, Sozialversicherungsausweise und Geburtsurkunden waren behördlich ausgestellte Dokumente. Er hatte so etwas noch nie gesehen, nicht in diesem Umfang.

»Die sind zum Straßenverkehrsamt marschiert und haben brutal ihre Fotos in die jeweiligen Führerscheine setzen lassen«, erläuterte er Felicia.

»Das sind ausgefuchste Experten«, meinte sie.

Er nickte ernst. »Sie zerstören systematisch Existenzen und plündern ihre Opfer bis auf den letzten Cent aus.« Er angelte nach seinem Handy und rief bei der Collins Group an.

Das war eine private Gesellschaft, der Inhaber Tom Collins ein Excop und guter Freund von Striker. Collins hatte beim Vancouver Police Department häufiger mit Finanzdelikten zu tun gehabt, Versicherungsbetrug war sein Spezialgebiet. Als sie seinen Namen hörte, vermittelte die Telefonistin den Detective umgehend weiter.

»Hey, Tom«, meldete Striker sich. »Alles im grünen Bereich?«

Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte dumpf. »Schiffswrack. Schön, dass du mal anrufst. Ich hab gehört, du hattest letztes Jahr Probleme an der St. Patrick’s?«

Eine kleine Pause entstand. »Ja, war eine verdammt schlimme Sache«, antwortete Striker schließlich. »Tom, ich hab hier mehrere Opfer von Identitätsbetrug und dachte, vielleicht kannst du da was für mich tun.«

»Wie schnell brauchst du die Infos?«

»Am liebsten schon gestern.«

»Ich Idiot. Hätte ich doch nicht abgenommen!«

Striker lachte kurz und gab Tom eine Liste der Namen, die er aus den Aktenordnern zusammengestellt hatte.

»Und was genau suchst du da?«, fragte Collins.

»Sieh selbst. Wenn du was findest, ruf mich zurück. Am besten heute noch.«

»Und zwar schneller, als die Polizei erlaubt, was?« Collins lachte über seinen eigenen Witz.

»Du hast es erfasst, Kumpel.«

Nach dem Gespräch fühlte Striker sich gleich besser. Er mochte Tom. Der Mann war ein guter Cop gewesen und ein verdammt guter Kumpel. Schade, dass sie sich so selten sahen.

Typisch in seinem Job.

Er blickte zu Felicia, deren Augen förmlich am Computermonitor klebten. »Ist Gabriel in PRIME erfasst?«

Sie drehte den Bildschirm halb zu ihm. »Mit Ausnahme von Ostermann steht da wenig über die anderen. Gabriel wurde in ein paar Polizeiberichten als Zeuge aufgeführt, aber da ging es immer um Autounfälle. Dann hab ich hier noch einen Bericht, aber der ist fast zwölf Jahre alt. Ich schätze, Gabriel war zu der Zeit ungefähr acht.«

»Was steht drin?«

»Ich kann das Dokument nicht öffnen, es ist privatisiert, zudem ist es eine Burnaby-Datei.«

»Kümmer dich drum«, sagte er.

»Ich hab schon alles veranlasst«, gab sie zurück. Sie giggelte über sein verblüfftes Gesicht. »Die zuständige Beamtin heißt mit Nachnamen Constable. Ist das nicht witzig? Detective Constable.«

Striker grinste. »Wenn sie irgendwann Chief Constable wird, stehen die Medien auf dem Schlauch.«

»Jetzt warte ich auf ihre Rückmeldung.«

»Was ist mit Lexa?«, schob er nach.

»In PRIME? Lexa ist bloß einmal gelistet. In der Rubrik Fingerabdrücke.«

»Vermutlich, weil sie für ihren Beruf ein polizeiliches Führungszeugnis brauchte.«

»Möglich«, erwog Felicia. »Dalia ist nirgends erfasst. Sie existiert gar nicht.«

Striker überlegte.

»Check die Autos der beiden mal auf Verkehrsdelikte. Auffahrunfälle, überhöhte Geschwindigkeit, Überfahren einer roten Ampel, Parkverstöße und so weiter. Die ganze Palette.«

Felicia zuckte bloß mit den Achseln. »Wir wissen bereits, dass Ostermann wie ein Irrer fuhr.«

»Mir geht es nicht um die Verstöße, sondern um die Gegend, wo es passierte.«

Seine Kollegin drehte sich schweigend zu dem Computer. Nach ein paar Klicks pfiff sie verblüfft. »Hey, sieh dir das an. Der X5 hat massenweise Knöllchen bekommen, aber der Landrover, der auf Lexa zugelassen ist, nur drei – alle auf dem Trans-Canada Highway.«

»Wo genau?«, fragte Striker, hellhörig geworden.

»Einmal am Furry Creek, die anderen beiden kurz vor Whistler Village.« Sie hob den Kopf. »Vielleicht haben sie dort ein Ferienhaus. Ich check das mal.« Sie griff nach dem Telefonhörer und ließ sich mit dem Einwohnermeldeamt von Whistler verbinden; während sie telefonierte, kümmerte Striker sich weiter um die Kartons. Als er zu dem Buchstaben L kam, fiel ihm Larisas Akte in die Hände.

Logan, Larisa.

»Heilige Scheiße«, brummte er.

Er öffnete die Akte, doch sie war leer.

Irritiert sah er in den Karton. Ob der Inhalt vielleicht herausgefallen war? Er fand jedoch keine losen Blätter. Womöglich waren Larisas Unterlagen irrtümlich in einer falschen Akte gelandet? Ärgerlich ging er die nächsten drei Akten durch.

Fehlanzeige.

Das musste er erst mal verarbeiten. Er saß da und fühlte sich elend. Er angelte nach dem Telefon auf seinem Schreibtisch, checkte seinen Anrufbeantworter. Sieben Anrufe in Abwesenheit, aber keiner von Larisa und auch keiner, der den Fall betraf.

Dann ging er seine E-Mails durch. Jede Menge Mails, aber nichts ermittlungstechnisch Relevantes. Deprimiert las er die E-Mail nochmal, die Larisa ihm gestern geschickt hatte, und mailte noch einmal zurück:

An: L.Logan@gmail.com

Betreff: Kontaktieren Sie mich!

Larisa,

bitte informieren Sie mich, wo Sie sind! Oder gehen Sie zur nächsten Polizeistation, und rufen Sie mich von dort an. Dr. Ostermann ist tot. Gabriel, Lexa und Dalia sind abgetaucht. Die drei sind sehr gefährlich. Nehmen Sie sich vor denen in Acht! Gehen Sie zur Polizei, oder rufen Sie mich an. Bitte!

Jacob

Er hoffte, dass er sich deutlich genug ausgedrückt hatte, und drückte auf »Senden«. Dann saß er eine lange Weile da und wartete auf eine Antwort. Es kam keine. Und nach dem, wie es im Arabic Beans Coffee Shop im Metrotown gelaufen war, rechnete Striker auch nicht wirklich damit.

Die Frau vertraute ihm nicht mehr. Sie vertraute keinem. Sie war allein und auf der Flucht. Die Chance, Larisa irgendwo aufzugreifen, wurde zunehmend kleiner. Das waren die kalten, harten Fakten.

Die Zeit spielte gegen sie.

Zornesblind
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