58

Auf der Fahrt zum Burnaby General hatte Striker rasendes Herzklopfen, seine Laune verdunkelte sich schneller als die abendliche Fünfuhr-Skyline. Er konnte machen, was er wollte, aber die MyShrine-Warnung, die auf dem PC der Natter aufgeflammt war, ging ihm nicht aus dem Kopf.

Er stellte das Zivilfahrzeug auf einem für die Polizei reservierten Parkplatz ab und lief durch den Haupteingang zur Notaufnahme. In der Ambulanz war es zwar brechend voll, aber lange nicht so chaotisch wie im St. Paul’s.

Striker schob sich durch den Gang zu einem der Patientenzimmer, in denen sechs Betten standen, dazwischen lediglich Trennvorhänge. Felicia saß auf dem sechsten Bett. Striker sah, dass sie eben ihren Hosengürtel zuschnallte und dabei leise aufstöhnte. Als sie ihn bemerkte, zeigte sich Erleichterung auf ihrem Gesicht, und sie lächelte.

»Hey, Tigger.«

Striker trat an ihr Bett und half ihr in den Mantel. »Schon fertig?«

Sie nickte. »Ja. Bevorzugte Behandlung – von wegen Polizei und so.«

»Und was haben sie festgestellt?«

»Dass ich den Body einer Zwanzigjährigen habe«, grinste sie.

»Verdammt, welcher Arzt hat an dir rumgefummelt? Den Kerl schnapp ich mir!«

Sie lächelte über seinen Kommentar, und Strikers Herzschlag beschleunigte sich. Mit zweiunddreißig war Felicia fast zehn Jahre jünger als er. Das war nicht unbedingt viel, aber genug, um den Altersunterschied zu fühlen. Manchmal schien sie Generationen weit weg von ihm. Und dann, so wie jetzt, war Zeit gar kein Thema.

»Wie geht es dir?«, fragte er, seine Stimme wurde ernst. »Ganz ohne Scheiß, Feleesh.«

Sie zuckte vorsichtig mit den Schultern. »Ich hab ein paar Rippenprellungen, Prellungen im Bereich des Brustbeins, aber es ist nichts gebrochen. Nicht mal angeknackst. Die verstärkte Weste hat das Projektil abgefangen. Ich glaub echt, ich häng mir das Ding eingerahmt an die Wand … Ich hab dieses Mal verdammt Glück gehabt.«

»Ich hatte nicht so viel Glück«, räumte er ein.

Sie streckte eine Hand aus und streichelte sein Gesicht. Striker umschlang ihre Taille und zog sie in eine zärtliche Umarmung. Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Zog ihren Duft ein, das vertraute Vanilleparfüm.

Sie fühlte sich so gut an. Am liebsten hätte er sie nie mehr losgelassen.

Felicia schob ihn sanft von sich. »Jacob, die Leute gucken schon.«

»Lass sie doch«, versetzte er. »Verdammt, lass ihnen doch den kleinen Spaß.«

Sie lachte und stöhnte kurz darauf: »Oh Scheiße, meine Rippen.«

Als er sich schließlich von ihr löste, waren ihre Wangen zart gerötet, und sie sah ihn ganz seltsam an. Striker hätte sie am liebsten vor allen Leuten geküsst. Hier im Krankenhaus.

Plötzlich hatte er eine Eingebung. Er sah sich suchend um.

»Hör mal, wo ist eigentlich unser Dr. Ostermann abgeblieben?«

Felicia zog die Stirn hoch. »Der gute Doc hat sich nach einem kurzen Gesundheitscheck selbst entlassen. Ich hab gesagt, er soll hier auf uns warten, dass wir eine schriftliche Erklärung von ihm bräuchten und so weiter, woraufhin er dauernd wiederholte, er sorge sich um sein Personal – es klang wie eine auswendig gelernte Floskel.«

»Eine gute Ausrede.«

»Jedenfalls ist er weg wie ein geölter Blitz, als die Schwester mich durchscheckte.«

Bei Striker schrillten sämtliche Alarmglocken. Ehrliche Menschen liefen nicht einfach weg. Und das mit dem Personal kaufte er Ostermann nicht ab. Erstens war Ostermann nicht der Typ Chef, der sich um sein Personal sorgte. Und zweitens: Weshalb sollte er sich Sorgen machen? Als er darauf näher eingehen wollte, klingelte sein Handy. Jim Banner zeigte sein Display an. Er ging ran.

»Was hast du für mich, Noodles?«

»Wie geht’s Felicia?«, lautete die Gegenfrage.

»Sie ist okay, ich bin gerade bei ihr.«

»Gott sei Dank.« Banner klang sichtlich erleichtert und kam direkt zum Dienstlichen. »Ich hab einen Abdruck aus dem Kühlschrank in Apartment 305 nehmen können. Von einer Handfläche.«

»Bestimmt von Mercury, oder?«

»Also der ist nicht wirklich zuzuordnen.«

Das verblüffte Striker. Mercury war Soldat gewesen. Seine Fingerabdrücke waren folglich erfasst. »Du meinst, der Abdruck war zu schlecht?«, fragte er.

»Nein, ich meine, der Abdruck stammte nicht von Billy Mercury.«

Strikers Laune sank in den Keller. »Noch was?«, knurrte er.

»Das war’s.«

»Dann meld ich mich später noch mal.«

Striker beendete das Gespräch und gab die Info an Felicia weiter. Sie zuckte wegwerfend mit den Schultern. »In solchen Apartments gibt es eine ziemliche Fluktuation«, antwortete sie. »Müßig, ob der Abdruck von dem Verdächtigen stammte oder nicht. Offenbar ja wohl nicht.«

Striker blieb stumm, er war sich unsicher. Er stand da und hing seinen Gedanken nach, angefangen bei dem schlechten Fingerabdruck bis hin zu Ostermanns merkwürdigem Verhalten. Je mehr er darüber nachsann, desto ärgerlicher wurde er. Nach einer langen Weile suchte er Felicias Blick.

»Bist du hier fertig?«, wollte er wissen.

»Das war ich schon vor zwanzig Minuten.«

»Gut, dann lass uns Dr. Ostermann aufsuchen. Der gute Doc wird uns noch eine ganze Menge zu erklären haben.«

Im Wagen stellte Felicia als Erstes die Heizung auf Hochtouren. Es war halb sechs, und abends wurde es ungemütlich kalt.

Auf der Fahrt zu Ostermann brachte Striker seine Kollegin auf den neuesten Stand, von Laroches Anschuldigungen bis hin zu den Eindrücken, die er in Billy Mercurys Apartment gesammelt hatte. Während er erzählte, wurde er ruhiger. Konzentrierter.

Ihm fielen spezielle Fakten auf.

»Mit Ausnahme von dem Risperidone – das ist übrigens ein Antipsychotikum – bekam Billy die gleichen Medikamente verschrieben wie Mandy Gill, Sarah Rose und Larisa Logan.«

Sie nickte gedankenvoll. »Vielleicht, weil es gängige Medikamente sind? Oder weil jeder von ihnen an der gleichen Störung litt? Auch möglich, dass diese Medikamente in dieser Kombination am besten wirken.«

Striker biss sich nachdenklich in die Backentasche. »Das meine ich nicht. Was mich stört, ist die Bevorzugung dieses Medikamententyps.«

»Jetzt kann ich dir nicht mehr folgen.«

Er erklärte es ihr. »Es gibt Tausende von Stimmungsaufhellern, aber unsere Opfer und unser böser Billy bekamen exakt die gleichen Medikamente verordnet. Und das gleiche Antidepressivum.«

»Hmmm. Sie waren folglich alle in dem gleichen Programm.«

»Und da liegt das Problem«, erläuterte Striker. »Dr. Ostermann leitete die SILC-Therapiegruppe oder wie die heißt. Und trotzdem, Billy mal ausgenommen, stellt Dr. Richter die Rezepte aus. Warum?«

»Ist das denn so wichtig?«

»Kann ich im Moment nicht beurteilen. So viel ist jedenfalls sicher: Dr. Richter ist eine von den Hauptkontaktpersonen: für Mandy und Sarah wegen ihrer Medikation, für Larisa wegen der Opferhilfe.«

»Und was ist mit Billy?«

»Indirekt durch die Mapleview-Klinik. Mit Ostermann. Und durch ihre diversen Rehabilitationsprogramme.«

Felicia nickte. »Und Richter hat immer noch nicht zurückgerufen?«

»Nein, ich hab mehrere Nachrichten hinterlassen. Ist ja auch erst vierundzwanzig Stunden her.« Striker überlegte. »Möglich, dass es letztlich eine logische Erklärung dafür gibt, warum Richter und Ostermann involviert sind.«

»Eine kann ich dir sofort nennen. Beide sind psychiatrische Ärzte.«

Striker winkte ab. »Das bestreite ich ja gar nicht. Ich möchte das aber noch … genauer analysieren.« Er blickte aus dem Fenster auf die Sonne, die im Westen langsam hinter einer dunkel verschatteten Skyline unterging. »Da wäre übrigens noch etwas.«

»Was?«

»Die Waffe, die Mercury benutzte. Es hieß, dass sie von einem der getöteten Beamten stammt.«

»Stimmt, die Kollegen von der Streife sagten das.«

Striker schüttelte den Kopf. »Das war ein Irrtum. Es war keine SIG Sauer. Ich tippe eher auf Kaliber neun Millimeter.«

»Vielleicht kann uns Noodles mehr dazu sagen«, schlug sie vor.

Also rief er Noodles an und tippte auf Lautsprecherfunktion. Der Techniker nahm beim zweiten Klingeln ab. »Schiffswrack«, lachte er.

»Hey, altes Haus«, konterte Striker. »Hattest du schon Gelegenheit, die Tatwaffe zu checken?«

»Klar. Die Schießerei ist fast zwei Stunden her, der Tatort wurde komplett fotografiert, die Leiche ist in der Autopsie, die Waffe in der Ballistik – und ich hab noch ein neues Krebsmittel entdeckt.«

Felicia lachte, Striker blieb ernst.

»Ich muss die Resultate haben, Noodles. Und zwar schnell.«

Der Mann lachte sarkastisch auf. »Wovon träumst du eigentlich nachts, du Hirni? Ich bin kein Stück weitergekommen. Das Schießeisen hat keine Seriennummer.«

Striker fluchte. Er hätte es sich denken können. »Ausgefeilt?«

»Ausgefeilt und weggeätzt.«

»Echt? Okay, ich meld mich noch mal. Gib dein Bestes, Noodles.« Nachdem er das Gespräch beendet hatte, drehte er sich zu Felicia. »Kommt dir das nicht ein bisschen merkwürdig vor?«

»Was?«

»Die ganze Sache. Billy kommt irgendwie in den Besitz einer Waffe …«

»Find ich nicht merkwürdig. Der Typ war in der Army. Im Ausland. Wenn er gewollt hätte, hätte er sich vermutlich eine Raketenabschussrampe besorgen können.«

»Okay, okay. Aber dann feilt er die Seriennummer raus und behandelt das Metall zusätzlich mit Säure.«

»Und?«

»Das wirft für mich zwei Fragen auf: Erstens, kann sich jemand wie Billy, der extrem unter Wahnvorstellungen litt und sich in einem mental kritischen Zustand befand, überhaupt darauf konzentrieren, so etwas zu tun? Und zweitens, warum hat er sich die Mühe gemacht, die Seriennummer zu entfernen? Glaubte er, wir kämen ihm nicht auf die Schliche? Es war eine Mordmission. Er hat es bewusst auf einen brutalen Schusswechsel mit uns ankommen lassen. Macht das aus psychologischer Sicht Sinn?«

Felicia hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Keine Ahnung, ich bin kein Psychologe.«

»Stimmt, und der Experte, den wir deswegen befragen wollten, hat sich bei der erstbesten Gelegenheit aus dem Krankenhaus abgesetzt.«

Felicia nickte. »Ich hatte den Eindruck, es ging ihm gar nicht schnell genug.«

Striker drehte abrupt auf der Straße und fuhr nach Norden. Felicia bedachte ihn mit einem fragenden Blick. »Wohin fahren wir?«

»Zurück ins Mapleview. Ich schnapp mir Mercurys Krankenakte.«

Zornesblind
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