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Die Empfangssekretärin ließ die beiden in Dr. Ostermanns Büro und schloss die Tür hinter ihnen. Kaum war sie weg, wirbelte Felicia zu Striker herum. Um ihre Mundwinkel zuckte es verräterisch.
»Das war ein verdammt mieser Trick«, meinte sie.
Striker quittierte es mit einem müden Achselzucken. »Ich weiß, bin auch nicht stolz darauf, aber was sollte ich machen? Wir mussten halt irgendwie hier rein, bevor Ostermann zurückkommt. Wir müssen herausbekommen, wer dieser Billy ist. So einfach ist das.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Zehn vor elf. »Wann, sagte sie, endet seine Sitzung?«
»Um elf – wenn er nicht früher fertig ist.«
Striker zog skeptisch die Brauen hoch. Zehn Minuten war nicht lange. Er schaute sich im Zimmer um. Zu seiner Verblüffung war das Büro ziemlich kahl und nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Er hatte erwartet, dass überall an den Wänden medizinische Diplome, Zertifikate und Auszeichnungen hingen. Vielleicht auch ein paar Werbeplakate für das EvenHealth-Programm. Wenigstens ein paar Regale mit Büchern.
Aber da war nichts dergleichen.
In dem Büro standen lediglich ein hoher Eichenschrank, ein großer Schreibtisch und davor zwei bequem aussehende Ledersessel.
An den Wänden hingen drei Drucke: ein Matrose, der übers Meer schaut, ein kleiner Junge bei einem Arztbesuch und die indianische Darstellung eines Präriewolfs. Ein paar große Zimmerpflanzen lockerten das Ambiente auf, ansonsten nichts, was die Aufmerksamkeit der Patienten abgelenkt hätte.
Auf dem Schreibtisch standen ein Tintenstrahldrucker, ein Computer und eine Tastatur mit Maus. Striker versuchte, ob sich die Schubfächer öffnen ließen, aber sie waren alle verschlossen. Der Computermonitor war dunkel, und als er die Maus bewegte, wurde das Logo eingeblendet.
»Ohne Passwort läuft da nichts«, meinte Felicia.
»EvenHealth?«, schlug er vor.
»Das wäre zu einfach«, giggelte sie.
Sie hatte Recht, und er versuchte es erst gar nicht. Stattdessen trat er zu dem Schrank, der an der Längswand des Büros stand, und öffnete das TV-Fach. Dahinter stand ein kleines Fernsehgerät mit eingebautem DVD-Player. Ein Samsung. Auf dem Regal darunter standen Reihen mit DVDs, jede Hülle auf dem Rücken beschriftet. Striker suchte nach den Namen Larisa Logan und Mandy Gill, fand jedoch nichts. Aber eine DVD, die mit Billy Stephen Mercury etikettiert war. Dahinter in Klammern geschrieben: Kuwait. Afghanistan. PTSD.
PTSD – Posttraumatisches Stresssyndrom.
Er drehte sich zu Felicia um. »Ob das der besagte Billy ist?«
»Schreib dir seinen Namen auf. Los, beeil dich. Bevor Ostermann hier reinplatzt.«
»Ich weiß was Besseres«, versetzte er. Er schaltete den Fernseher ein, öffnete die DVD-Hülle und legte die Disk ein.
Felicia wurde sichtlich nervös. »Jacob, mach keinen Scheiß!«
»Bleib du an der Tür.«
»Ich soll an der Tür bleiben? Die ist keine zwei Meter weit entfernt von dir.«
»Bleib einfach da stehen, und spitz die Ohren. Wenn du ihn kommen hörst, gibst du mir ein Zeichen.«
»Ostermann kann jeden Augenblick zurückkommen. Und wenn ich ihn nicht höre, was dann?«
Striker grinste. »Dann geht hier die Post ab.« Er beugte sich vor und drückte die Play-Taste.
Sekunden später lief der Film ab.
Das Video hatte HD-Qualität, der Ton war jedoch leicht übersteuert. Die Kamera war links von Dr. Ostermann positioniert, der hinter einem leeren Schreibtisch saß. Ihm gegenüber saß ein junger Mann.
Es handelte sich ganz offensichtlich um ein anderes Büro, denn an den Wänden hing nicht ein einziges Bild.
Striker konzentrierte sich auf Dr. Ostermanns Gesprächspartner: Er war hellhäutig, entsetzlich dünn und ausgezehrt, trotzdem wirkte er drahtig und zäh. Der Detective schätzte ihn auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Es war schwer zu sagen, denn dessen dunkelbraune Haare wurden an den Schläfen grau, und sein stoppeliger Bart war fast schlohweiß.
»Er sieht jung aus und gleichzeitig alt«, bemerkte Felicia.
Striker nickte wortlos und konzentrierte sich auf den Patienten auf dem Bildschirm.
Seine Haut war noch relativ glatt, doch um die Augen gruben sich tiefe Falten. Billy Mercury sah müde aus, als hätte er jahrelang kaum geschlafen, was seine fahle Blässe zusätzlich unterstrich. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn, und beim Atmen hob und senkte sich seine Brust so hektisch, als würde er hyperventilieren.
Dr. Ostermann rückte mit seinem Sessel leicht nach links, direkt in den Fokus der Kamera. Er nannte Datum und Zeitpunkt des Gesprächs – es lag gerade mal zwei Wochen zurück – und stellte sich und seine Arbeit kurz vor.
Dann stellte er seinen Patienten vor.
»Mir gegenüber sitzt Billy Stephen Mercury«, sagte Ostermann in die Kamera. »Billy war als Soldat in Afghanistan stationiert. Siebtes Regiment, Elitetruppe. Nach seiner Rückkehr litt Billy unter starken Depressionen und nächtlichen Panikattacken. Schlafstörungen und Versagensängste waren die Folge. Nachdem bei ihm ein Posttraumatisches Stresssyndrom diagnostiziert wurde, ist er bei mir in Therapie und nimmt seit sieben Monaten am EvenHealth-Programm teil. Billy macht erkennbare Fortschritte, und wenn die Therapie erfolgreich verläuft, wird er demnächst entlassen und kann wieder ein ganz normales Leben führen. Seine Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit haben für uns oberste Priorität.«
Strikers Augen klebten an dem Bildschirm. Bislang hatte Billy Mercury keinen Ton gesagt. Er saß bloß da und starrte ins Leere. Er zitterte am ganzen Körper und schwitzte. Sein Atem ging schnell und ungleichmäßig.
»So, Billy«, fuhr Dr. Ostermann fort. »In unserer letzten Sitzung sprachen wir über Ihre Zeit in Afghanistan, genauer gesagt über die feindlichen Angriffe. Sie sprachen im Speziellen über Kandahar. Ich glaube, das war eine schlimme Zeit für Sie.«
Der Psychiater machte eine Pause, um Billy Mercury Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äußern. Als der Patient schwieg, fuhr Ostermann fort:
»Sie erzählten mir, dass einer Ihrer Kameraden, ein gewisser Colonel Dylan, bei einem Straßengefecht ums Leben kam und dass Sie später von Ihrer Einheit getrennt wurden. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit der Geschichte fortzufahren?«
Billy Mercury blieb für eine lange Weile stumm. Er saß bloß da, zitternd und schwitzend, und schwieg sich aus. Mit einem Mal erwachte er aus seiner Apathie. Er schaute sich um, seine Augen irrten durch das Zimmer, als könnte er Dinge sehen, die sonst niemand wahrnahm.
»Sie waren überall«, sagte er schließlich. »Auf den Straßen im Dorf. In den Hauseingängen und auf den Märkten, in sämtlichen Winkeln … und immer versteckt. Immer versteckt.«
»Und das war …«
»Der Feind.«
»Wen meinen Sie?«, wollte Dr. Ostermann wissen. »Die Stadtguerilla? Die Widerstandskämpfer? Wer genau waren sie, Billy?«
»Wer?«, fragte Billy und stieß plötzlich ein schrilles Lachen aus, das in einen hysterischen Schrei mündete. »Das Was ist viel entscheidender.«
Einen Herzschlag lang erstarrte Dr. Ostermanns Miene zu Stein. »Billy, das haben wir doch schon lang und breit diskutiert …«
»Ich hab sie gesehen. In Farah und Herat und Kandahar. Ich sah sie oft. Sie waren überall. Taten so, als wären sie Soldaten. Und Dorfbewohner. Oder sogar Kinder. Sie lebten in der Finsternis. Kamen aus der Finsternis. Sie werden in der Finsternis geboren, sind aus Finsternis gemacht. Sie quillt aus ihren Augen, ihren Mündern.«
»Billy …«
»Verdammt, sie kommen aus der Hölle!«
»Billy, das haben wir bereits diskutiert. Es ist eine Psychose, eine Wahnvorstellung …«
»NEIN! Sie verstehen das nicht, Doktor. Sie waren nicht dort, folglich können Sie es nicht wissen. Es ist nicht wie hier. Es ist eine andere Welt. Ein anderer Ort. Sie können dort leben, sie können wachsen. Und es werden mehr. Sie werden bald hier sein. Sie werden in die Klinik eindringen. Mich holen! Sie holen! Alle holen!«
Dr. Ostermann schien konsterniert über den Gesprächsverlauf, ließ sich das aber nicht anmerken. Er stand bedächtig auf und schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, wir müssen Ihre Medikation überprüfen«, sagte er.
»NEIN!«, protestierte Billy. »Sie verstehen das nicht. Sie denken, ich bin verrückt. Aber Sie wissen gar nichts. Ich kann sie nachts hören, wenn sie flüstern. Dauernd flüstern sie. Sie kommen wegen mir. Wegen uns allen. Verdammt, Sie WISSEN gar nichts!«
Als Dr. Ostermann nach der Türklinke tastete, sprang Billy auf. Er umrundete den Schreibtisch, packte den Mediziner, woraufhin der nach den Pflegern rief. Innerhalb von Sekunden stürmten drei weiß gekleidete Hünen den Raum. Sie stürzten sich auf Billy Mercury, doch der wehrte sich nach Kräften. Grub seine Fingernägel einem der drei brutal ins Gesicht, boxte dem zweiten mit der Faust gezielt in den Adamsapfel.
»Dämonen!«, kreischte er. »Verfickte Dämonen – SIE KRIEGEN UNS ALLE!«