28

Es war noch dunkel, als Striker sich im Bett aufsetzte. Er fühlte sich wie gerädert, als drehte der Raum sich um seine eigene Achse. Er trat die Decke beiseite und schwang die Füße auf die kalten Holzdielen. Im Dunkeln zerrte er seinen Bademantel von dem Wandreck, wickelte sich fröstelnd darin ein und tappte in die Diele.

Aus der Küche drang schwacher Lichtschein, und er hörte das Klappern einer Tastatur. Es war Percy Wadsworth, den alle Ich nannten, weil er Ichabod Crane aus Sleepy Hollow so ähnlich sah. Als Striker ihn über die E-Mail informiert hatte, war der Techniker augenblicklich rübergekommen.

Er war ein Geschenk des Himmels.

Striker lief durch die Halle und blieb in der Küchentür stehen. Der eingeschaltete Computermonitor hüllte Ich in gespenstisch blaues Licht. Striker knipste die Deckenbeleuchtung an.

Ich reagierte nicht, als das Licht aufflammte. Er saß am Küchentisch, die Schultern eingesunken, als hätte er Arthritis, eine runde Nickelbrille auf der Nase, sein Oberhemd war bestimmt zwei Nummern zu groß und schlotterte um seinen schmächtigen Körper. Er hatte sich mit mehreren Dosen Irish Coffee Monster Energydrink und ein paar Schokoriegeln eingedeckt.

»Und, gibt’s was Neues?«

Sofort hörte Ich auf zu tippen. Er rückte die Brille zurecht und hob den Kopf. »Nicht viel«, seufzte er, und Striker war gefrustet. Percy Wadsworth war der Internetspezialist ihrer Abteilung – wenn er die Quelle der E-Mail nicht aufspürte, schaffte es auch sonst keiner.

So einfach war das.

Der säuerliche Geruch von abgestandenem Kaffee hing in der Luft, und Koffein hatte Striker bitter nötig. Er trat zu der Kaffeemaschine, angelte sich eine Tasse aus dem Spülbecken und nahm einen Schluck von der alten Brühe. Das Zeug war irgendwann in der Nacht durchgelaufen und schwarz wie Teer. Er nahm ein Paket Gebäck aus dem Küchenschrank – Himbeerplunder und Zitronenschnitten – und warf es auf den Tisch.

»Bedien dich, Ich. Frühstück für Siegertypen.«

»Sind bestimmt ganz frisch gebacken«, ätzte Ich.

»Und schön hygienisch abgepackt«, konterte Striker. »Sind ganz wenig Transfette drin.«

Ich grinste. »Felicia würde dich einen Kopf kürzer machen, wenn sie wüsste, dass du so ’n Zeug futterst.« Er griff kurz entschlossen nach einem Himbeerplunder und biss hinein.

Striker schlenderte zum Tisch. »Also … wissen wir denn, woher der Typ überhaupt meine Adresse hat? Ich meine, die E-Mail kam immerhin von meinem persönlichen E-Mail-Account.«

Ich kaute und schluckte. »Das war eine meiner leichtesten Übungen. Immerhin hast du eine 16-jährige Tochter.«

»Und was weiter?«, fragte Striker alarmiert.

»Courtney ist bei MyShrine, irgendeinem sozialen Netzwerk.«

»So?«

Ich winkte Striker neben den Computer. Dann öffnete er Firefox und klickte auf MyShrine. Er drückte die Entertaste, und Courtneys Homepage wurde auf den Bildschirm geladen:

Name: The Court

Striker verfolgte, wie Ich durch das Profil navigierte. Er konnte sich nicht helfen, aber er fühlte sich, als würden sie in die Privatsphäre seiner Tochter eindringen und deren elektronisches Tagebuch lesen. Er blickte schuldbewusst durch die Halle zu Courtneys Zimmertür hinüber.

»Schau mal«, sagte Ich. Er klickte sich durch die Fotos. Auf mehreren war Striker mit abgebildet – teilweise in Uniform. Er betrachtete die Bilder mit gemischten Gefühlen: Einerseits freute er sich darüber, dass sie ihn mit einbezog. Andererseits behagte es ihm gar nicht. Er war oft genug in den Zeitungen oder im Fernsehen – immer, wenn er einen großen Fall bearbeitete – und einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Damit hatte er sich abgefunden.

Was Courtney da gemacht hatte, verknüpfte jedoch unweigerlich seinen Job als Detective mit ihrem Privatleben.

Und das war eine mittlere Katastrophe.

»Ich möchte, dass diese Fotos entfernt werden«, sagte er dumpf.

Ich nickte. »Die Message, die der Typ dir geschickt hat, ist hier.« Er klickte auf das Verzeichnis und öffnete die unterschwellige Drohung. »Courtney hat ihre persönlichen Sicherheitseinstellungen auf Minimum gestellt. Das sollte sie unbedingt ändern. Sie hat die Weiterleitungsfunktion angeklickt, folglich werden ihre sämtlichen Mitteilungen automatisch an eure Home-E-Mail geschickt. Und da du eingehende E-Mails auf dein Handy weiterleitest, hast du die Message auch bekommen.«

Striker schüttelte unschlüssig den Kopf. »Aber ich bekomm doch sonst keine MyShrine-Mitteilungen, bloß die eine.«

»Wegen der Filtereinstellungen. Sie wurden in dem Moment geändert, als die E-Mail verschickt wurde. Was wiederum bedeutet, dass jemand an euren Einstellungen herumspielt.«

Was Ich ihm da verklickern wollte, war technisches Fachchinesisch für den Detective. »Ist der Typ auf ihrer Freunde-Liste?«, fragte er etwas beunruhigt.

»Nein. Er hat lediglich eine Message an ihr System abgeschickt – das kann jeder. Normalerweise wäre alles gefiltert worden und nur an Courtney gegangen. Das Verrückte ist, dieser Typ wusste genau, dass du die Mitteilung bekommen würdest.« Er scrollte durch die Sendeoptionen und fand Strikers E-Mail-Adresse. »Da ist sie … Aber das erklärt nicht, wie er an deine E-Mail-Einstellungen kam. Welche Sicherheitseinstellungen hast du auf deinem Computer?«

Striker zog die Schultern hoch und ließ sie wieder sinken. »Keine Ahnung. Davon versteh ich nichts.«

»Hey, Schiffswrack, du musst dich allmählich mit diesem Kram auseinandersetzen. Wir leben im Computerzeitalter, schon vergessen?«

»Das überlasse ich Felicia. Ich knalle dafür Schurken ab.«

Ich lachte leise. Er checkte die Einstellungen und schüttelte den Kopf. »Null Sicherheit, Mann. Jeder kann sich hier einloggen.« Er machte ein paar Klicks und speicherte die Veränderungen. »So. Alles paletti. Trotzdem, der Typ könnte schon seit Monaten an deinem PC rummanipulieren. Ich meine, wenn er gut ist – und das ist er.«

Striker sagte nichts. Er hatte es weder mit sozialen Netzwerken, noch war er auf dem aktuellen Stand der PC-Technik. Er schaltete das Teil jeden Tag ein und arbeitete damit. Das reichte ihm. Felicia war der Technikfreak in ihrem Ermittlerteam. Er wünschte, sie wäre jetzt hier.

Bei ihm.

»Was ist mit dem ursprünglichen Absender?«, wollte er von Ich wissen. »Können wir den eruieren?«

»Untraceable – unauffindbar.« Ich schnappte sich eine Dose Energydrink vom Tisch und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter. Dann wischte er sich mit dem Ärmel den Mund und fuhr fort: »Außerdem brauchst du für so was erst mal ’ne Genehmigung.«

»Kein Problem, die bring ich dir innerhalb von zwei Stunden.«

Ich schüttelte den Kopf. »Bemüh dich nicht. Das ist nicht der Punkt. Ich kenn jemanden bei MyShrine und hab den auch schon kontaktiert. Er gab mir die Accountinfo – auf dem ›kleinen Dienstweg‹, logo. Die Message kam über einen Proxyserver. Das ist ziemlich blöd für uns.«

»Wieso?«

»Weil die meisten dieser Unternehmen ihre Daten stündlich löschen. Und neunundneunzig Prozent davon sind im Ausland. Die Chance, da was zu finden, ist fast null. Und wenn der Typ clever ist, bedient er sich zusätzlich weiterer Hideware-Programme.« Ich sah Striker eindringlich an. »Sei vorsichtig mit diesem Typen. Scheiße, der hat es echt drauf.«

»Okay, ich merk’s mir. Bloß nützt mir das jetzt wenig.«

Striker las abermals die Message. Analysierte sie. Es war keine explizite Drohung, nur eine vage Andeutung. Aber das reichte schon. Und der Absender hatte nicht mit einem Namen, sondern mit Die Natter signiert – diese Bezeichnung war Striker bislang noch nicht untergekommen.

Na, und wenn schon. In einer Zeit, wo Internetjunkies Cybermobbing betrieben, pädophile Chatrooms eröffneten und virtuell rumballerten, wunderte ihn nicht mehr viel.

Er trank seinen Kaffee aus. »Danke für deine Hilfe, Ich. Werd mich dafür revanchieren, okay?«

Der Techniker zuckte bloß müde mit den Achseln. »Kein Problem, Detective.«

Striker legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du hast die halbe Nacht durchgearbeitet. Fahr nach Hause, und schlaf eine Runde.« Er grinste. »Mein Tag fängt eben erst an.«

Ich nickte und stand vom Tisch auf. »Sollte dieser Typ weitere Mitteilungen schicken, lösch sie nicht, öffne sie aber auch nicht, okay? Und schalte den Computer nie aus. Ruf mich sofort an. Ich komm dann so schnell ich kann.«

Striker nickte. Er brachte Ich zur Tür, bedankte sich nochmals und wartete, bis der Polizeiwagen in der grauen Morgendämmerung verschwand.

Kaum war Ich weg, brauste ein anderes Polizeifahrzeug die Straße hinunter. Ein Ford Taurus, Zivilwagen. Er bremste auf der eisglatten Straße und hätte fast den Bordstein gerammt. Striker musste grinsen.

Typisch Felicia.

Sie glitt geschmeidig aus dem Wagen, in jeder Hand einen Becher Kaffee. Tim Horton’s Coffee. Der beste. Sie lief über die Zuwegung, trat das Tor auf, balancierte die glatten Stufen hinauf und reichte ihm einen Becher. In dem milchigen Licht der Verandabeleuchtung sah sie wunderschön aus. Ausgeruht. Als hätte sie gut geschlafen und wäre bereit für einen neuen Tag.

»Guten Morgen, Süße«, sagte er weich.

Sie lief an ihm vorbei. »Verdammt, ich will diese Nachricht sehen!«

Bevor er antworten konnte, war sie im Haus, trat ihre Schuhe aus und lief in die Küche. Als Striker die Tür geschlossen hatte und zu ihr trat, scrollte sie bereits durch MyShrine.

»Die Natter?«, fragte sie.

»Mmh, eine Schlangenart«, erklärte er. Als sie ihn mit einem gereizten Blick torpedierte, schob er seelenruhig nach: »Eine Giftschlange.«

»Spar dir den Atem, Jacob. Bin schließlich keine kleine Dumme. Also, wer ist dieser Typ?«

Striker zuckte die Schultern. »Unauffindbar.«

Felicia stellte ihren Kaffeebecher ab und schüttelte den Kopf. Ihre Miene entschlossen, heftete sie den Blick auf den Bildschirm.

»Das gefällt mir gar nicht«, muffelte sie.

»Mir auch nicht. Allerdings ist es keine echte Drohung, nur ein Wischi-Waschi-Scheiß. So fasse ich die Botschaft jedenfalls auf. Von irgendeinem Spinner.«

»Vielleicht ist er der von uns gesuchte Typ.«

Striker nickte zustimmend. »Hab ich auch schon überlegt. Das Timing und so würde hinkommen. Trotzdem bin ich da skeptisch.«

»Wieso?«

»Hmm, weil die Mitteilung erst verschickt wurde, nachdem wir im Fernsehen waren. Vor den Nachrichten wär sie glaubwürdiger gewesen, denn so könnte es auch irgendein Trittbrettfahrer sein, der sich einen Spaß mit uns macht.«

Felicias Miene verhärtete sich. »Wir müssen auf jeden Fall vorsichtig sein. Angenommen, er ist es doch? Ich mach doch nicht meinen Job und präsentier mich als lebende Zielscheibe für den Kerl!«

»Nein, wir müssen aufpassen. Eine unserer leichtesten Übungen.«

Eine Pause entstand. Sie las die Mitteilung erneut, dann nochmal und zog die Stirn in Falten. »Hört sich an, als wäre es für ihn ein Spiel«, dachte sie laut. »Der Typ ist krank im Kopf. Und größenwahnsinnig. Womöglich hat er sich heimlich schon an uns drangehängt.«

Striker lächelte sarkastisch.

»Nichts wäre mir lieber.«

Zornesblind
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