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Striker beschloss, Lexa Ostermann mit ihren sämtlichen Decknamen über Interpol zu checken. Interpol war eingerichtet worden, um die Polizeiaufgaben von fast zweihundert Staaten zu koordinieren. Im Wesentlichen war es ein gigantisches Informationsnetz. Dort zu beginnen war mit Sicherheit das Beste, was sie machen konnten.
Sie kehrten zum Präsidium zurück.
Im Büro war die Hölle los. Von ihrer Kollegin Jana Aitken erfuhren sie, dass eine Bandenschießerei auf dem Granville Strip stattgefunden habe.
Kalter Kaffee.
Er setzte sich in sein Büromodul, loggte sich in den Computer ein und checkte seine E-Mails. Keine Mitteilung von Larisa. Auch keine Voicemail. Frustriert initiierte er Versadex und lud die Anfrageseite für Interpol.
Soweit Striker wusste, hatte Lexa kein nennenswertes Vorstrafenregister. Die Datenbank listete alles auf, angefangen mit gesuchten Verbrechern über vermisst gemeldete Kinder bis hin zu Einbruch- und Diebstahlsdelikten. Striker hoffte, dass Lexa dort irgendwo auftauchte; das Delikt war ihm egal. Hauptsache, es gab eine brauchbare Spur, irgendeinen Anhaltspunkt.
Statt mit Ostermann zu starten, gab Striker den ältesten ihnen bekannten Namen ein.
Lexa Novak.
Als Geburtsdatum tippte er eine Spanne von fünfunddreißig bis achtundvierzig Jahren ein.
Das Ergebnis wurde nach dreißig Sekunden auf dem Monitor eingeblendet. Angesichts der ungenauen Angaben ergaben sich über dreißig Treffer.
Striker scrollte alle durch, bis er den fand, der auf Lexa passte:
Lexa Novak, 46 Jahre alt.
167 cm. 59 kg. Schlank.
Haare: blond. Augenfarbe: blau. Hautfarbe: weiß.
Geburtsort: Mesto Roztoky, Tschechien.
Die Geburtsstadt war ganz in der Nähe von Prag. Auffällige Merkmale wie Tätowierungen oder Narben waren nicht bekannt. Striker scrollte durch die Seite und kam zu der Rubrik Bemerkungen.
Er grinste hinterhältig.
Policie ceské Republiky
Zielperson. Identitätsbetrug.
Kontakt: Detective Lundtiz. 974 852 319.
»Tschechien?«, fragte Felicia verblüfft.
Striker nickte. »Polizei der Tschechischen Republik«, erläuterte er. »Damit haben wir schon mal einen möglichen Anhaltspunkt.«
Er wählte über Festnetz die angegebene Nummer. Als die Verbindung nach mehreren Versuchen endlich zustande kam, sprach der Beamte am Telefon nur gebrochen Englisch. Er berichtete Striker jedoch, dass Detective Lundtiz inzwischen zum Inspektor Lundtiz befördert worden und in der Abteilung Korruptionsbekämpfung und Finanzdelikte tätig sei.
Er stellte Striker durch.
Nach mehrmaligem Klingeln fiel Striker auf die Zentrale zurück und musste abermals erklären, wer er war und weswegen er anrief. Wieder wurde er verbunden.
Während er in der Leitung hing, wurde Felicia von einem der Cops zurückgerufen, die sie in Burnaby South kannte. Die privatisierte Datei von Gabriels Kindheit lag für sie bereit. Sie zeigte ihrem Kollegen den erhobenen Daumen, dann düste sie zum Dezernat in Burnaby South.
Striker winkte ihr nach und wartete geduldig auf seine Verbindung.
Nach einer langen Weile nahm jemand ab. »Guten Abend, Detective Striker. Hier ist Inspektor Lundtiz.«
Striker war verblüfft, dass der Inspektor nahezu akzentfrei Englisch sprach. »Guten Abend, Inspektor. Danke für Ihre Kooperationsbereitschaft. Ich ermittle im Fall …«
»Lexa Kalinka Novak«, beendete Lundtiz dessen Satz. »Ich kenne die Dame ganz gut. Verdammt gut, um genau zu sein. Ich hab sie monatelang beschattet, aber dann ist sie mir doch noch entwischt. Das ist um die zwanzig Jahre her. Meine Güte, wie die Zeit vergeht.«
»Sie ist nach Kanada ausgewandert und jetzt hier in Vancouver«, klärte Striker den Inspektor auf.
»Hat sie wieder gemordet?«
Die Aussage schockierte Striker. »Hatte sie vor ihrer Emigration jemanden getötet?«
»Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Dummerweise konnten wir ihr nichts beweisen.«
Die Leitung blieb einen Moment lang stumm. Striker angelte nach Notizbuch und Stift. »Was wissen Sie über diese Frau?«
»Eine ganze Menge.«
»Ich hab Zeit.«
Der Inspektor räusperte sich und legte los. »Ich hab die Akte zwar vor mir liegen, aber angesichts der vielen Nachfragen kenne ich sie praktisch auswendig. Lexa Novak stammt aus der Nähe von Prag und studierte an der Karls-Universität. Aber das wissen Sie sicher schon.«
»Ja.«
»Sie hat noch zwei Schwestern, Katerna und Nava – Lexa ist die Jüngste. Die Familie war wohlhabend und bestens eingeführt. Ihr Vater, Dagan, ein renommierter Arzt, hatte seine Finger in der Politik.«
»Klingt, als wäre er ein mächtiger Mann gewesen«, bemerkte Striker.
»Das war er. Ich kannte ihn noch. Und um Lena, seine Frau, wurde er von allen Männern der Stadt beneidet. Lena war attraktiv, Lena war die perfekte Ehefrau und Mutter. Außerdem brachte sie das Vermögen mit in die Ehe.«
»Also absolute Eliteschicht«, folgerte Striker.
»Exakt. Von außen betrachtet, hatten sie ein traumhaftes Leben. Doch das war alles Fassade. Dagan Novak war ein Sadist. Er hatte unbändigen Spaß daran, seine Familie zu dominieren und zu quälen – psychisch, physisch und sogar sexuell, als die Mädchen in die Pubertät kamen. Das Leben der Familie Novak war eine Existenz der Hilflosigkeit und Folter. Ich muss leider Gottes einräumen, dass der Polizei damals die Hände gebunden waren.«
»Die Missbrauchsfälle waren bekannt?«
»Ja, sie waren aktenkundig. Aber wegen Dagans gesellschaftlicher Stellung und seiner politischen Verbindungen wurde die Sache – wie soll ich es ausdrücken? – stillschweigend unter den Teppich gekehrt.«
Das kam leider häufig genug vor, dachte Striker dumpf. »Und wie ging es weiter?«
»Lena soll die Familie angeblich verlassen haben und nach Paris gezogen sein, weil sie dort Verwandte hatte. Meine Suche nach ihr verlief jedoch im Sande. Ich bin davon überzeugt, dass Dagan sie umgebracht hat.«
»Und was ist mit den Mädchen?«
»Das ist eine sehr, sehr traurige Geschichte. Erst die Missbrauchsfälle und dann das …«
Striker schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen da nicht folgen.«
»Katerna, Lexas älteste Schwester, erkrankte mit sechzehn Jahren an Schizophrenie. Drei Jahre später wurde die Krankheit auch bei Nava diagnostiziert.«
»Ein Gendefekt.« Striker ließ sich die Infos durch den Kopf gehen. Kein Wunder, dass Lexa ihren Doktor in Psychiatrie gebaut hatte. »Lexa muss mit der permanenten Angst gelebt haben, ebenfalls zu erkranken.«
»Oh ja, das mit der Krankheit verfolgte sie, quälte sie … Und ich denke, es war der Wendepunkt in ihrem Leben. Der so genannte Aussetzer. Nicht lange nach dem Ausbruch der Krankheit bei Nava erkrankte Dagan Novak. Seine Symptome kamen schleichend, schubweise. Er wurde immer blasser und immer dünner, irgendwann fielen ihm die Haare aus.«
»Arsen?«
»Hm, wir vermuten, sie hat ihm das Gift in den Tee getan.«
»Und Sie konnten ihr nie etwas beweisen.«
»Wie denn? Die Familie hatte eine Köchin, eine Zugehfrau, ein Kindermädchen. Lexa war eine von mehreren möglichen Verdächtigen. Wir konnten ihr nichts anhängen. Und mal ganz ehrlich, ich war mir damals nicht sicher, ob sie involviert war. Ich hatte eher die Kinderfrau im Visier, die Rache für ihre Schützlinge nehmen wollte, weil sie Opfer der brutalen Gewalt ihres Vaters waren.«
Dass Dagan Novak an einer Arsenvergiftung gestorben war, ließ Striker relativ kalt. »Demnach ist sie unbehelligt davongekommen.«
»Ja. Dann, mit neunzehn, lernte Lexa Victor Devorak kennen. Er war jung, gut aussehend und nicht unvermögend. Die beiden heirateten. Nach nicht mal einem Jahr Ehe erkrankte er ebenfalls und verstarb unter mysteriösen Umständen. Zwei Jahre später heiratete Lexa wieder. Der Mann hieß Kavill Svaboda, war jung und stammte aus einer reichen Familie. Er hielt länger durch als der vorherige Ehemann – nämlich fast drei Jahre. Aber dann, vier Monate, nachdem Lexa ihren Abschluss in der Tasche hatte, starb er aus ungeklärter Ursache.«
Striker sagte nichts und überlegte. So ziemlich jeder, der Lexa nahestand, starb, und ihre beiden Schwestern waren in der Irrenanstalt gelandet. Die Diagnose lautete Schizophrenie, doch fragte er sich inzwischen, ob Lexa da nicht auch nachgeholfen hatte. Er wusste zu wenig über diese Krankheit, folglich war es reine Spekulation.
»Das macht zwei Ehemänner in gut sechs Jahren. Und sie starben auf ähnliche Weise wie Lexas Vater. Haben Sie die Dame damals befragt?«, wollte Striker wissen.
»Aber natürlich! Nach dem Tod von Ehemann Nr. zwei. Die Frau war so was von charmant und offen. Selbstbewusst. Absolut glaubwürdig. Eine begnadete Schauspielerin.«
»Wie viele Psychopathen. Gab es danach weitere Morde, die möglicherweise auf Lexas Konto gehen?«
Der Inspektor seufzte geschafft. »Keine Ahnung. Irgendwann verschwand sie spurlos. Sie verließ das Land, und ich bekam sie nicht mehr zu fassen. Einer meiner Kontakte verfolgte sie angeblich bis nach Brüssel, wo sich ihre Spur verlor. Später stellte sich heraus, dass die Frau in Brüssel hochschwanger war.«
»Lexa hat Kinder.«
Der Inspektor schnaufte bekümmert. »Das ist ja das Schlimme.«
»Wann war das mit Brüssel?«
»Ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Vor siebzehn, achtzehn Jahren, glaube ich. Und trotzdem, als meine Sekretärin Sie vorhin durchstellte, dachte ich spontan: Lexa.«
»Können Sie mir im Zuge meiner Ermittlungen noch den einen oder anderen guten Rat mit auf den Weg geben?«
»Nur diesen einen, Detective. Fassen Sie Lexa. Lassen Sie sie nicht wieder entkommen. Denn eins habe ich inzwischen gelernt: Lexa Novak wird nie aufhören zu töten. Dafür macht ihr das Morden und Töten einfach viel zu viel Spaß.«