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Als Striker zum Lucky Lodge zurückkehrte, war seine Kollegin Felicia eingetroffen. Sie diskutierte mit Constable Wong – für Striker sah es allerdings mehr nach einem Verhör aus.
Er musste unwillkürlich grinsen; Felicia war immer sehr gründlich und direkt. Das mochte er an ihr, wie so vieles andere auch.
Sie redete mal wieder ohne Punkt und Komma, denn der Atem entwich in weißen Wölkchen ihren Lippen. Hoffentlich nahm sie den Jungen nicht zu hart in die Mangel, dachte Striker. Wong war noch ein Rookie, ein Anfänger. Er hatte erst ein paar Monate Streifendienst auf dem Buckel und war jetzt mehr zufällig in diesen merkwürdigen Todesfall mit noch ungeklärter Ursache geschlittert.
Willkommen bei der ganz harten Truppe, Junge.
Felicia entdeckte Striker, und ihre Miene wurde noch ernster. Sie stockte mitten im Satz, ließ den jungen Cop stehen und lief ihrem Kollegen entgegen.
»Und, irgendeine Spur?«, erkundigte sie sich.
Striker nickte. »Jede Menge. Aber alle negativ.« Er informierte sie kurz bis zu dem Moment, wo der Hundeführer die Spur verloren hatte. Felicia zog eine Grimasse.
»Güterbahnhof? Oh, Scheiße!«
»Das kannst du laut sagen. Der Typ hatte ein Fluchtfahrzeug. Da geh ich jede Wette ein.«
Sie überlegte. »Ein weiter Weg, um dort einen Fluchtwagen zu parken.«
»Stimmt, aber auch der sicherste Ort. Wen interessiert schon, was zwischen Glen und Malkin abgeht? Das ist Industriegebiet. Keine Videoüberwachung. Ein Haufen Sackgassen. Und Obdachlose, die null Bock haben, irgendwo mit hineingezogen zu werden. Wenn du genauer darüber nachdenkst, ist die Gegend tatsächlich ideal, um dort ein Fluchtfahrzeug abzustellen.«
»Folglich haben wir nichts in der Hand.«
»Nicht ganz.« Striker schwenkte den Handschuh. »Der ist von dem Flüchtigen. Hab ich ihm bei der Verfolgungsaktion von der Hand gerissen.«
»Okay, der muss auf jeden Fall ins Labor.« Sie angelte die Autoschlüssel aus seiner Tasche, lief zum Polizeiwagen und kam mit einer braunen Papptasche zurück. Sie schrieb mit dickem Filzer Zeitpunkt, Ort und Fallnummer auf den Umschlag und hielt ihn dann Striker hin. Sobald er den Handschuh hineingesteckt hatte, legte sie die Tüte in den Wagen und gab ihm die Schlüssel zurück.
Nachdem sie sich den Zeitpunkt der Übergabe in ihrem Notizbuch notiert hatte – lückenlose Dokumentation war vor Gericht ein absolutes Muss –, musterte sie Striker lange und intensiv.
»Was ist mit deiner Stirn passiert?« Sie hob die Brauen, ihr Blick wurde weicher. Sie streckte die Hand nach der Platzwunde aus.
Er bog unwillkürlich den Oberkörper zurück. »Nichts. Komm, lass gut sein.«
»Es hat geblutet, Jacob.«
»Ich weiß. Und es hat auch wieder aufgehört.«
»Wie ist das passiert? Von einem Schlag? Hat er dich angegriffen? Damit musst du unbedingt zum Arzt!«
»Hey, Feleesh, ich lebe noch, klar?«
Sie bedachte ihn mit einem weiteren langen, mütterlich-besorgten Blick, was Striker jedoch ignorierte. Bevor sie noch etwas sagen konnte, schwenkte er herum und wandte sich abermals dem Eingang des Lucky Lodge zu.
Es war fünf Uhr nachmittags. In der Abenddämmerung sah die Pension noch verwahrloster aus. Mit seiner kleinen Maglite leuchtete er die von Unkraut überwucherte Zuwegung nach möglichen Fußabdrücken ab. Er ging langsam, sorgfältig darauf bedacht, keine Spuren zu vernichten.
Felicia gesellte sich zu ihm, um ihm bei der Suche zu assistieren.
»Er ist in diese Richtung geflüchtet«, erklärte Striker. »Sieh dich mal nach Fußabdrücken und elektronischem Equipment um. Kabel, Adapter, egal was. Vielleicht hat er irgendwas verloren.«
»Ist er verletzt?«, fragte seine Kollegin ohne aufzublicken.
»Was weiß ich? Schon möglich – so wie der vom Dach gehechtet ist.«
»Ich ruf mal die Krankenhäuser in der Gegend an.«
»Gute Idee.« Striker zeigte nach Osten. »Möglicherweise hat er sich was gezerrt. Oder gebrochen, das wär ’n echtes Glück.«
Felicia überlegte. »Wenn er high war, kann er sich was gebrochen haben und merkt es erst, wenn die Wirkung des Stoffs nachlässt.« Sie kontaktierte die Zentrale und wies die Telefonistin an, sich in allen Kliniken nach Patienten mit Verletzungen zu erkundigen, die von einem Sprung aus hoher Höhe stammen könnten.
Währenddessen suchte Striker weiter den Außenbereich nach Spuren ab. Akribisch, Zentimeter um Zentimeter. Es war ein aufwendiger Prozess, aber in Fällen wie diesem führte kein Weg daran vorbei.
Jeder Hinweis konnte nützlich sein.
Kaum drei Minuten später entdeckte er den Abdruck eines Schuhs. Nicht weit entfernt von der Stelle, wo der Flüchtige in dem weichen Erdaushub gelandet war.
Striker beugte sich über den Abdruck. Er war von einem rechten Schuh. Standardgröße, schätzungsweise Größe vierundvierzig. Aber das war nicht wirklich wichtig. Was ihn viel mehr interessierte, war das Profil der Sohle in der weichen Erde. Rauten und tiefe Rillen. Der Abdruck war eigentlich gut erkennbar, nur der Zehenbereich nicht.
Striker schaute sich weiter um und entdeckte den Abdruck eines linken Schuhs. Er passte in Größe und Profil zu dem anderen. Er registrierte, dass die Sohle im Zehenbereich dieses Schuhs nicht so abgenutzt war wie die rechte.
Nach ihrem Telefonat gesellte Felicia sich wieder zu ihm. Er zeigte ihr seinen Fund.
»Was sagt dir das abgenutzte Profil im Bereich der Zehen?«, wollte er wissen.
»Dass der Träger einen auffälligen Gang hatte. Vielleicht von irgendeiner früheren Verletzung. Oder dass ein Bein länger ist als das andere.«
Striker nickte bekräftigend.
Sie markierten den Bereich um die Schuhabdrücke für die Spurensicherung. Dann setzten sie ihre Suche fort.
Eine gute halbe Stunde später konnten sie die Straße und das westlich gelegene freie Grundstück abhaken und widmeten sich abermals der Stelle, wo der Flüchtige nach seinem Sprung gelandet war. Striker schaute nach oben zu dem Fenster. Apartment 305. Von hier unten sah es verdammt hoch aus.
Felicia stupste ihn an. »Er trug eine Maske, nicht?«
»Ja. Ein schwarzes Lederteil. Mit schmalen Augenschlitzen. So ähnlich wie das Ding, das du bei unserem ersten Date anhattest.«
»Ich fahr eben voll darauf ab, meine Männer zu überraschen.« Felicia folgte seinem Blick. »Kein Strom in der ganzen Pension, was?«
»Abgeschaltet, anscheinend schon länger. Wir erfragen das genaue Datum bei der Stadt.«
Felicia legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Dieser Typ … Könnte er aus der Hausbesetzerszene sein, was meinst du?«
»Schon möglich. Vielleicht auch irgendein durchgeknallter Idiot. Keine Ahnung. Möglich ist alles. Aber das erklärt nicht, wieso er eine Videokamera vor ihrem Fenster installiert hatte.«
Felicia nickte, sagte jedoch nichts.
Striker kämmte mit der Taschenlampe durch die hohen Grasbüschel. Als er gerade frustriert aufgeben wollte, entdeckte er ein silbrig schimmerndes Objekt. Er zog einen Latexhandschuh über und hob es auf.
»Das ist ja interessant«, murmelte er.
»Was ist das?«, erkundigte sich Felicia.
Striker war sich nicht ganz sicher. Das Objekt sah irgendwie aus, als gehörte es zu einer Videoausstattung – eine winzige Plastikbox mit einem Sensor. Modell- und Seriennummer fehlten.
Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist es bloß Müll, was weiß ich. Das sollen die Jungs von der Spurensicherung entscheiden.« Er steckte das Objekt in eine kleine Papptüte, die er doppelt gefaltet aus der Manteltasche zog, und schrieb die Details darauf, bevor er einen abschließenden Blick auf die Umgebung warf.
Dann kehrte er gemeinsam mit Felicia zum Eingang des Lucky Lodge zurück. Die Jungs von der Streife waren inzwischen eingetroffen und hatten das Areal mit gelbem Flatterband abgesperrt. Ein paar von den Cops begannen mit Befragungen.
Seine Kollegen waren echt zu gebrauchen, zumal noch ein Haufen Arbeit vor ihnen lag. Striker machte sich mental eine Liste. Der Fundort der Leiche und die Umgebung mussten erneut untersucht, alles fotografiert und markiert werden. Das war Aufgabe der Spurensicherung. Das Labor würde den Handschuh auf DNA-Spuren untersuchen – und das alles möglichst schon gestern.
Als hätte sie seine Gedanken erraten, sagte Felicia: »Diese Woche bringt mich um. Ich hab kaum geschlafen und bin wie gerädert.«
»Kopf hoch, Baby«, erwiderte er flapsig. »Es kann eine lange Nacht werden.«
Sie schwieg für eine lange Weile und blickte zu den schwarz gähnenden Fenstern der heruntergewirtschafteten Pension, wo Mandy Gill gestorben war. Dann sah sie Striker mit ihren dunklen ernsten Augen an. »So was wie das hier macht mich fertig«, sagte sie. »Ganz ohne Quatsch. Welcher Irre filmt einen Selbstmord? Der Typ muss doch krank im Kopf sein.«
»Keine Ahnung, aber wir kriegen den Typen, verlass dich drauf«, versetzte ihr Kollege mit Bestimmtheit.