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Rookie Cop Wong hatte den Flur im Bereich um Mandy Gills Apartment mit einem breiten Streifen gelbem Polizeiband abgesperrt. Striker nickte anerkennend. »Machen Sie das bei der 305 genauso. Und lassen Sie da niemanden rein, ausgenommen die Kollegen von der Spurensicherung natürlich. Führen Sie Buch. Und fordern Sie Verstärkung an.«
»Delta 13 ist bereits auf dem Weg hierher, Detective.«
»Gute Arbeit, Constable.«
Striker wandte sich ab und betrat Mandy Gills Apartment. Das Erste, was ihm auffiel, war das leere Tablettenröhrchen, das die junge Frau noch immer umklammert hielt. Weiß mit blauem Deckel und schwarzer Aufschrift. Apothekenstandard, nichts Besonderes.
Cross-Kontamination war immer ein Problem bei der Spurensuche, folglich streifte Striker seine Latexhandschuhe ab, steckte sie in die Gesäßtasche und zog frische an. Dann neigte er sich über die Tote.
Er schob vorsichtig Mandys Finger auseinander – es ging relativ leicht, trotz der einsetzenden Leichenstarre – und nahm ihr das Röhrchen ab. Er las die Aufschrift.
Lexapro.
»Grundgütiger«, stöhnte er.
Er blickte zu Felicia, die eben ein Sunlite aufstellte, eins dieser tragbaren Beleuchtungssysteme, wie ihre Abteilung sie häufiger einsetzte. Eigentlich war es für Filmaufnahmen gedacht, aber es war genauso ideal, um einen Tatort auszuleuchten. Seine Kollegin schaltete den Scheinwerfer ein, grelles Licht flutete das Zimmer.
Striker bot sich ein deprimierender Anblick. Vorhin, mit der Taschenlampe, war es halb so wild gewesen. Das grelle Sunlite dagegen beschönigte nichts. Der Boden starrte vor Schmutz, genau wie die Kochnische. Das ganze Elend, in dem Mandy Gill gehaust hatte, kam buchstäblich ans Licht – Müll auf dem Boden, Schwamm und Pilz in den Wänden, eine tote Ratte lag auf der Küchentheke.
Wie um das Gesehene zu verdrängen, schüttelte er den Kopf. Hielt Felicia die Pillenröhrchen hin: »Sie ist auf Antidepressiva«, erklärte er. Beide beugten sich über das Etikett:
Pharmasave.
Verschreibungsnummer: 1079880 – MVC.
Inhalt: 50 Tabletten.
Abfülldatum: 28. Januar.
Striker tippte mit dem Zeigefinger auf das Datum.
»Der Achtundzwanzigste«, sagte er.
»Der war gestern«, bemerkte Felicia. »Dienstag.«
Fünfzig Tabletten, die erst gestern abgefüllt worden waren, überlegte Striker, und heute war der Behälter leer. Das reichte für mehr als eine Überdosis. Er schrieb die Informationen in sein Notizbuch und legte die Pillenröhrchen direkt neben das Stuhlbein, für Noodles, seinen Kollegen von der Spurensicherung, der bereits auf dem Weg hierher war. Dann stand er auf und schaute sich weiter im Zimmer um.
Er fühlte sich hundeelend. War es möglich, dass sein schlechtes Gewissen seine Urteilskraft aushebelte?, grübelte er betroffen. Abgesehen von der Kamera, die draußen installiert worden war, und seinem Zusammentreffen mit dem Verdächtigen – vor Gericht waren das lediglich Indizien – gab es keine physischen Hinweise, dass da irgendwas faul war. Zumindest keine, die sich an der Leiche oder in deren Umgebung feststellen ließen.
Folglich war ein Suizid nicht auszuschließen.
Striker wusste, dass Mandy Gill labil war, denn er kannte das Mädchen seit einigen Jahren. Er hatte sie auf einem Sportwettkampf kennen gelernt, an dem auch seine Tochter teilgenommen hatte. Mandy war zu dem Zeitpunkt sechzehn gewesen, nur ein paar Jahre älter als seine Tochter Courtney. Sie hatte in der Gegend von Dunbar gewohnt, ganz in der Nähe von ihnen. Sie war ein hübsches, freundliches junges Mädchen gewesen, hatte aber schon länger mit Depressionen zu kämpfen gehabt.
Wen wunderte das? Mandys Mutter war vor ein paar Jahren an Krebs gestorben, ihr Vater, ein unsympathischer, unnahbarer Typ, saß unter anderem wegen wiederholter Betrugsdelikte im Gefängnis. Mandy hatte keine Geschwister und war völlig allein in dieser Welt.
So, wie sie heute Abend gefunden worden war.
Die Vorstellung war quälend. »Ich hätte mich mal besser mehr um sie gekümmert«, seufzte Striker und ließ die Schultern hängen.
»Schau dir das mal an«, rief Felicia, die eben die Küchenschränke inspizierte.
Striker durchquerte den Raum, der Müll auf dem Boden knirschte unter seinen Schuhen. Seine Kollegin hielt ihm ein Tablett hin, auf dem mindestens vierzig Tablettenröhrchen lagen.
»Großer Gott, hat sie das Zeug gebunkert?«, entfuhr es ihm.
»Alles Effexor«, erklärte sie.
»Effexor? Lass mal sehen.« Er nahm eins von den Röhrchen und las die Aufschrift. Es war dieselbe Apotheke und Verschreibungsnummer wie bei dem Lexapro. Angesichts der beiden Medikamente wusste er spontan, was mit Mandy los gewesen war.
»Sie war manisch-depressiv«, sagte er.
Felicia hob den Kopf. »Woher willst du das wissen?«
Er musterte sie hart. »Persönliche Erfahrungen – Amanda bekam das gleiche Zeug nach ihrem ersten Selbstmordversuch.«
»Oh«, meinte Felicia betroffen. Dann schwieg sie.
Einen Moment lang war die Stille im Raum unerträglich. Strikers Gedanken kreisten um seine Frau und ihre Depressionen.
Die Erinnerung würde vermutlich nie verblassen.
Er hoffte inständig, dass Courtney anders war als ihre Mutter. Leider Gottes war sie genauso eigenwillig und launisch wie Amanda, und er machte sich häufiger Sorgen, dass sie irgendwann Probleme mit Depressionen bekommen könnte. Dass sie sich im letzten Jahr eine schlimme Wirbelsäulenverletzung zugezogen hatte und jetzt eine Therapie machte, kam erschwerend hinzu. Seit einiger Zeit war sie kaum ansprechbar und oft richtig zickig. Typisch für eine Sechzehnjährige, redete er sich zu. Oder, wie Felicia meinte, typisch für einen Skorpion.
Er rief sie an. Sie nahm beim fünften Klingeln ab.
»Hey, Mäuschen«, sagte er.
»Oh, hi, Dad. Lass mich raten – es wird heute Abend mal wieder spät, stimmt’s?«
»Scherzkeks. Mmh, ich glaub schon.«
»Du glaubst? Nee, Dad, das war mir gleich klar.«
Er lachte. Sie kannte ihn verdammt gut. Kannte den Job.
»Verdammt schlechter Tag heute«, erklärte er. Einen kurzen Moment lang war er versucht, ihr das mit Mandy zu erzählen, aber dann überlegte er es sich anders. Sie waren zwar nie wirklich Freundinnen gewesen, trotzdem war es besser, wenn er es Courtney persönlich sagte.
»Dad?«, fragte sie.
»Wie war es heute bei der Therapie?«
»Ich bin nicht hingegangen.«
Striker schluckte. »Hör mal, Courtney, ich finde das nicht gut. Du musst zu dieser Therapie gehen. Sonst wirst du nie wieder richtig fit. Annalisa meint auch …«
»Ich kann Annalisa nicht ausstehen. Sie ist eine blöde Zicke.«
Striker atmete tief durch. Felicia beobachtete ihn und belauschte wie üblich ihr Gespräch, folglich wandte er sich ab. »Hey, nenn sie nicht so. Das finde ich nicht gut. Es ist respektlos. Schließlich will Annalisa dir bloß helfen.«
Courtney lachte zynisch auf. »Helfen? Das nennst du helfen? Sie hilft mir kein bisschen. Du hast ja keine Ahnung. Du machst schließlich keine Therapie!«
»Stimmt, aber das ändert nichts an der Tatsache …«
»Ich muss Schluss machen, Dad, sonst läuft die Badewanne über.«
»Courtney …«
Sie hatte aufgelegt.
Striker fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Nach einer kurzen Weile steckte er sein iPhone zurück in die innere Sakkotasche. Er brauchte einen kurzen Moment, um sich zu fassen. So war es in letzter Zeit ständig mit Courtney – eine emotionale Achterbahnfahrt mit Höhen und Tiefen.
Wie früher mit Amanda.
Er drehte sich um und fing Felicias Blick auf. »Wenn du das nächste Mal mithören willst, tu dir keinen Zwang an, und stell dich einfach neben mich.«
Felicia ignorierte seine spitze Bemerkung. »Ist sie mal wieder sauer auf dich?«
»Sie denkt, ich bin der Antichrist.«
»Tja, das denken bestimmt viele Frauen.«
Sie lachte leise über ihren eigenen Scherz; Striker blieb ernst. Er inspizierte den Raum und fand nichts Aufschlussreiches, nur die traurigen Hinweise auf eine schwere Persönlichkeitsstörung; schmutzig verkrustetes Geschirr auf der Küchenanrichte, vergammelte Essensreste auf dem Tisch, bergeweise ungewaschene Wäsche, Zeitungen stapelten sich auf dem Boden. Überall lag irgendetwas herum.
Er beugte sich über die Arbeitsplatte und ging Mandys herumliegende Post durch. Handyrechnungen. Abrechnungen für Kreditkarten. Mahnschreiben. Bewerbungsschreiben und Absagen.
Alles in dem Zimmer signalisierte die Abwärtsspirale der Depression, die niemand aufgehalten hatte.
»Hey, Schiffswrack.« Ein massiger kleiner Cop mit buschigen weißen Augenbrauen und einem imposanten Bauch zwängte sich durch die Tür. Er schob sich schwer und leise ächzend in den Raum.
»Hey, Noodles.« Striker nickte kurz zu seinem Kollegen.
Noodles. Eigentlich hieß er Jim Banner. Striker hielt große Stücke auf ihn. Noodles war der beste Mann bei der Spurensicherung, ach was, er war die Spurensicherung. Den Spitznamen Noodles hatte Banner bekommen, als er sich im Noodle Shack in Burnaby an einer Gabel Linguine in Sahnesoße verschluckt hatte und fast daran erstickt wäre. Banner hasste den Spitznamen, aber damit musste er jetzt leben.
So war das halt mit den netten Kollegen.
»Ihr verfluchten Cops«, knurrte Noodles. »Ihr ruiniert mir komplett mein Sozialleben.«
Striker feixte. »Du brauchst uns, Mann. Ohne Freunde hast du kein Sozialleben.«
»Mein bester Freund ist Jack Daniel’s, und außerdem hab ich heute Abend frei.« Banner stellte seinen Instrumentenkoffer hinter der Zimmertür ab. »Konntest du nicht Marty anrufen? Der hat schließlich Dienst.«
»Das hier ist mir persönlich wichtig, Noodles. Dafür wollte ich den Besten haben.«
Der Techniker zuckte wegwerfend mit den Schultern, heimlich ging ihm das Kompliment aber runter wie Öl. »Der Beste, scheiß drauf«, brummte er. »Du kannst mir Honig ums Maul schmieren, so viel du willst, Schiffswrack – dafür bist du mir was schuldig.«
»Such dir was aus.«
»Eine Flasche Jack Daniel’s. Gentleman’s Blend.«
»Sollst du haben. Und jetzt mach dich an die Arbeit. Die Zeit läuft.«
Noodles erwiderte nichts darauf; bevor er seine Kamera hervorholte, verschaffte er sich einen ersten optischen Eindruck. Striker vertraute auf die lange Erfahrung seines Kollegen. Er führte ihn zu der toten Mandy Gill und zeigte ihm die Stelle am Fenster, wo die Videokamera gestanden hatte.
»Bei mir trug der Typ zwar Handschuhe, aber vielleicht hatte er die nicht die ganze Zeit an. Ich hoffe schwer auf ein paar Fingerabdrücke an der Scheibe«, erklärte er. »Vor allem außen, da, wo die Kamera stand.« Er zeigte auf die Stelle. »Check sämtliche Pillenröhrchen. Eins liegt neben ihrem Stuhl – Felicia hat die auf der Anrichte sichergestellt. Wir hatten beide Handschuhe an. Wenn du fertig bist, muss der Kühlschrank in 305 untersucht werden, von wegen brauchbare Spuren und so. Der Kerl hielt sich darin versteckt.«
»In dem Apartment?«
»In dem Kühlschrank.«
Noodles wackelte verblüfft mit den Brauen. »Wird gemacht. Wenn es nicht anders geht, bleib ich über Nacht hier.« Eine kurze Weile konzentrierte er sich auf die Leiche von Mandy Gill, sein rundes, faltiges Gesicht völlig ausdruckslos.
»Die Kleine war noch verdammt jung«, meinte er kopfschüttelnd.
»Sie war ein verdammt nettes Mädchen«, gab Striker zurück. »Es ist nicht fair.«
Seine Laune sank in den Keller. Er schob Felicia aus dem Zimmer. Sie nickten Noodles zum Abschied zu. Striker wollte nur noch weg. Bloß raus hier, dachte er. Zum einen arbeitete Noodles schneller und effizienter, wenn er allein war; zum anderen musste der Handschuh schleunigst ins Labor geschickt werden. Außerdem konnte Wagen 10, der Wagen vom Boss, jede Minute auf der Bildfläche aufkreuzen. Und das musste er nicht unbedingt haben.
Er konnte Deputy Chief Laroche nicht ausstehen – eine Tatsache, die auf Gegenseitigkeit beruhte.