74
Die Detectives erreichten die überdachte Frontveranda der Ostermann-Villa und positionierten sich auf beiden Seiten. Strikers Blick glitt von den verstreuten Glasscherben zu der zerstörten Tischlampe, die auf dem BMW lag, und von dort zu dem Zimmer über ihnen, wo sich die Vorhänge durch das Loch in der Scheibe bauschten.
»Pass auf«, raunte er Felicia zu und nickte vielmeinend zu dem Fenster.
»Logo. Du übernimmst die Tür.«
Striker ging zur Haustür und klopfte hart.
»Vancouver Police!«, brüllte er. »Detectives Striker und Santos. Dr. Ostermann, kommen Sie an die Tür!«
Keine Reaktion.
Er drückte den Klingelknopf und läutete Sturm.
»Dr. Ostermann! Lexa!«, rief er, und dann: »Dalia? Gabriel?«
Wieder keine Antwort.
»Verdammte Hacke«, knirschte er.
Er trat von der Tür weg und inspizierte sie kritisch. Eiche massiv mit Stahlhalterungen, solide Arbeit. War bestimmt nicht einfach, dieses Ding einzutreten, aber hatten sie eine Wahl?
Er stellte sich seitlich und verpasste der Tür drei gezielte Tritte, indem er den Absatz zwischen Schloss und Rahmen rammte. Beim dritten Tritt knackte der Rahmen. Beim vierten splitterte er. Beim fünften Tritt brach das Schloss komplett aus, und die Haustür krachte in den Flur.
Striker zog seine Pistole und benutzte den ausgebrochenen Rahmen als Deckung. »Los, komm«, rief er zu Felicia. »Weiter.«
Sie nickte und zog ihre Waffe.
Gemeinsam stürmten sie in das Haus.
Sie glitten in das Foyer und positionierten sich rechts und links im Flur. Striker strengte sein Gehör an, aber der plärrende Autoalarm übertönte alles.
Ansonsten verströmte das Haus tödliche Ruhe.
»Verdammt, ist das hier still, richtig unheimlich«, flüsterte Felicia.
»Halte dich bereit«, raunte Striker.
Sie inspizierten das Erdgeschoss: Kaminzimmer, Esszimmer, Küche, das Wohnzimmer und die Bibliothek.
Am Ende des Flurs war noch ein Zimmer: das Büro. Striker drückte auf die Klinke, die Tür war jedoch verschlossen. Er zögerte keine Sekunde lang, sondern wich einen Schritt zurück, holte mit dem Fuß aus und trat die Tür ein.
Das Schloss brach aus, und die Tür schwenkte nach innen, in ein kleines Büro. Der Raum hatte keine Fenster und keine weiteren Türen. Ein großer, alter Holzschreibtisch, auf dem ein Computer stand, davor der Bürosessel des Mediziners, auf der anderen Seite zwei Besucherstühle. Das war die gesamte Einrichtung.
Ein Raum für private Therapiesitzungen?, überlegte Striker. Das spartanisch ausgestattete Büro mutete befremdlich an.
»Nichts Verdächtiges«, meinte Felicia.
Striker nickte. »Dann machen wir oben weiter.«
Sie machten kehrt und nahmen die Stufen in den ersten Stock.
»Dafür bräuchten wir eigentlich Verstärkung. Eine Streife wäre sofort hier gewesen.«
»Nicht schnell genug«, entgegnete Striker.
Am Ende der Treppe zweigte ein Gang ab. Striker blieb stehen. Ein angenehm frischwürziger Duft wehte durch den Flur. Wahrscheinlich von dem Bad, das Lexa genommen hatte. Lavendel oder Rosmarin, tippte er.
»Du gehst in die Richtung und ich in die.« Er machte eine ausgreifende Geste. »Pass auf, dass dir niemand folgt.«
»Alles klar«, versicherte Felicia.
Striker durchquerte den Gang. Er kam in ein Bad mit Dusche und Wanne, vermisste jedoch den Kräuterduft. Daran schlossen sich zwei Schlafzimmer an. Das kleinere war bestimmt Dalias, tippte er, als er die Kleider auf dem Stuhl sah: Gothic Style – dunkel und gruftiemäßig. An den Wänden hingen Poster von Marilyn Manson.
Das zweite Schlafzimmer war das exakte Gegenteil. Ein Gästezimmer vom Feinsten. Mit einem breiten Himmelbett, auf dem eine weiche, dunkelrote Tagesdecke lag, die Farbe harmonierte mit den Vorhängen, die mittlerweile aus dem Fenster hingen. In einer Ecke standen zwei antike viktorianische Stühle mit hoher Rückenlehne, an einer Wand eine kleine Bar mit Kühlschrank und Eiswürfelbereiter.
Nach seinem Rundgang gesellte Striker sich zu Felicia. Sie inspizierte mit gezogener Pistole die Räumlichkeiten auf der anderen Seite der Galerie.
»Alles in Ordnung«, meinte er. »Bist du hier fertig?«
»Ja.«
Sie liefen gemeinsam weiter. Passierten eine Abstellkammer, in der ein paar Kisten und ein alter Fernseher standen. Dann checkten sie das Lesezimmer mit dem großen Panoramafenster, das die Klippen und den Hafen überblickte. Draußen war tiefe Nacht, das Wasser in der Bucht schwarz und unheimlich.
Striker riss sich von dem Anblick los. Inzwischen hatten sie die beiden Etagen fast komplett überprüft. Von den Ostermanns fehlte jedoch jede Spur.
Das passte ihm absolut nicht ins Konzept.
Vor dem letzten Schlafzimmer im oberen Flur blieb Striker stehen. Das elterliche Schlafzimmer, fuhr es ihm durch den Kopf. Immerhin hatte Lexa bei ihrer ersten Unterhaltung im Foyer so etwas angedeutet.
Durch die Tür roch er den starken erdigen Duft.
Nach einem kurzen aufmunternden Nicken zu Felicia drückte er die Tür auf. Mitten im Zimmer stand ein Kingsize-Bett, ungemacht. Jemand hatte die Schubfächer aus dem Toilettentisch herausgezogen und umgekippt.
»Sieht aus, als wäre das Zimmer durchwühlt worden«, stellte Felicia fest.
»Oder jemand musste mitten in der Nacht verschwinden.«
Striker betrat den Raum. Er warf einen Blick in den begehbaren Kleiderschrank, ehe er zu einer weiteren Tür hielt, die zu einem angrenzenden Zimmer führte. Mit gezogener Dienstwaffe schob er die Tür vorsichtig mit dem Fuß auf.
Und war geschockt.
Die Fenster waren beschlagen, die Luft heiß und feucht. An der hinteren Wand stand ein Jacuzzi, bis zum Rand mit heißem, schaumigem Wasser gefüllt. Der Schaum war jedoch nicht weiß, sondern bräunlich rot. Und mitten in dem Whirlpool lag Dr. Erich Ostermann.
Seine Pupillen waren geweitet und starr wie die einer Puppe, seine Haut war gespenstisch weiß. Ein Arm baumelte aus dem schmutzig braunen Wasser; der andere lehnte auf dem Rand. Mit einem Blick erfasste Striker die Fleischwunde, die an Ostermanns Unterarm aufklaffte und in der Handinnenfläche mündete. Mehrere Schnitte, mit einem Rasiermesser beigebracht, tippte der Ermittler.
Tiefe, ausgezackte Linien, die nicht mehr bluteten.
»Heiliger Himmel«, stöhnte Felicia. »Er hat sich umgebracht.«
»Gib mir Deckung«, zischelte er.
Er glitt in den Raum und sah sich um. Auf dem Boden, neben dem Jacuzzi, lag ein altes Rasiermesser. Die Klinge war bräunlich rot verkrustet.
Auf dem Toilettensitz lagen eine Notiz und ein Schlüssel.
Striker beugte sich darüber. Auf dem zusammengefalteten Papier stand sein Name.
Detective Striker
Er zog Handschuhe an und nahm die Notiz auf. Faltete das Papier auseinander und las. Die Botschaft war kurz und direkt:
Sehr geehrter Detective Striker,
ich habe fünfzehn Jahre lang damit verbracht, das EvenHealth-Programm zu perfektionieren, indem ich unzählige Stunden selbstlos in die Arbeit mit meinen Patienten steckte. Ich habe alles geopfert für die sozial Schwachen und Kranken und bitte Sie inständig, dies zu berücksichtigen und meinen Ruf nicht zu zerstören.
Bevor Sie überstürzt reagieren – bevor Sie öffentlich enthüllen, was ich getan habe –, bedenken Sie das bitte … sehr genau. Die Videos. Sie sind, was sie sind. Ich bin nicht stolz auf diese Videos. Auch nicht auf meine Neigungen. Ich will ganz offen zu Ihnen sein; ich konnte mich einfach nicht bremsen. Ich konnte nicht aufhören – ich habe es immer wieder versucht, denn ich fühlte mich nachher schlecht, aber es hat nie geklappt.
Bitte, zeigen Sie niemandem diesen Brief. Und bitte, erzählen Sie niemandem, was ich getan habe. Vor allem nicht den Mitgliedern meines Berufsstandes. Das ist meine einzige Bitte.
Bei diesem Brief liegt der Schlüssel zu meinem Arbeitszimmer.
Ihr ergebener
Doktor Erich Reinhold Ostermann