14

Die Tankstelle an der Ecke East Hastings Street und Vernon Drive war als ganz heißes Pflaster verschrien. Schon damals, als Striker beim VPD angefangen hatte. Folglich war die Eingangstür zum Shop nach zehn Uhr abends immer abgeschlossen, die Frontscheiben bestanden aus Sicherheitsglas, die Toiletten waren nur schwach beleuchtet, damit die Junkies es schwerer hatten, sich dort einen Schuss zu setzen. Striker war bei mindestens hundert Einsätzen dabei gewesen, wo sie Drogenfreaks und Betrunkene rausgeworfen, Ladendiebe oder bewaffnete Räuber gestellt hatten.

Deshalb kannte er das Personal gut.

»Hey, Wanda«, sagte er, als er den Shop betrat.

Die große, dunkelhäutige Frau mit den wilden Afrolocken blickte von der Kasse auf und strahlte. »Detective Striker!«, rief sie erfreut. »Wo waren Sie denn die ganze Zeit, mein starker schöner Mann?«

»Auf Wolke acht«, konterte er. »Ich arbeite dran, ins Nirwana zu kommen.«

Wanda brach in schallendes Gelächter aus und umrundete die Theke. Sie war eine große, kräftige Frau. Mit tüchtig Hüftgold, dass sie kaum durch die Thekenöffnung passte. Sie klemmte die Knie zusammen, ihre Brüste so gewaltig, dass sie die Knöpfe ihrer Dienstkleidung zu sprengen drohten. Sie umarmte Striker eine Spur zu lange und ließ ihn fast widerstrebend los.

Felicia beobachtete die beiden leicht konsterniert. Sie warf Striker einen fragenden Blick zu, aber der schüttelte bloß den Kopf. In den zehn Jahren, die er Wanda Whittington mittlerweile kannte, hatte sie sich kaum verändert. Mit einem Meter fünfundsechzig und doppelt so vielen Kilos war sie bestimmt kein Schönheitsideal. Ihr Aussehen war jedoch nebensächlich, ihre inneren Werte zählten: Wanda war ein herzensguter Mensch.

Striker machte die beiden Frauen miteinander bekannt, dann kam er direkt auf den Punkt.

»Wir bräuchten mal Ihre Hilfe«, wandte er sich an Wanda. »Ein großer SUV muss mit Vollgas durch die Tanke gebrettert sein, heute Nachmittag, so zwischen 16 Uhr 20 und 16 Uhr 40.«

Felicia nickte. »Der Anruf ging exakt um 16 Uhr 28 bei uns ein.«

»Ist Ihnen da zufällig was aufgefallen?«, hakte Striker nach. »Dieser Typ muss wie ein Berserker gefahren sein.«

Wanda Whittington dachte nach, die großen, braunen Augen in dem runden, dunklen Gesicht wurden schmal. Sie hob die Schultern und ließ sie mit einem leise frustrierten Seufzen wieder sinken.

»Heute war hier der Bär los«, antwortete sie. »Tut mir leid, aber da muss ich passen.«

»Kein Problem«, meinte Striker. »Hätte ja sein können. Wer hatte denn mit Ihnen die Nachmittagsschicht?«

Sie rieb sich abwesend die Fingerknöchel ihrer linken Hand. »Also … Davie stand heute mit mir auf dem Plan, aber der ist nicht aufgetaucht – vermutlich ist er mal wieder versackt. Sie kennen ihn ja. Rief letzte Woche dreimal hier an, um sich abzumelden. Angeblich war er krank. Hahaha, wahrscheinlich musste er seinen Rausch ausschlafen. Und dann dieser billige Fusel, widerlich! Sangria, Korn und so was.«

Striker nickte. Er kannte Davie beinahe so lange wie Wanda. Ein netter, gutmütiger Typ. Aber er hatte zweifellos ein Problem. Wie die Hälfte der Leute, die hier lebten.

Er blickte an Wanda und den dämmrigen Waschräumen vorbei zum Büro des Managers. Die blau gestrichene Tür war mit einem brandneuen Spion versehen – und aller Wahrscheinlichkeit nach abgeschlossen.

»Sie arbeiten doch mit Videoüberwachung, richtig?«, erkundigte sich Striker.

Wanda nickte. Sie ging zur Kasse, nahm den Büroschlüssel heraus und schloss die Kasse ab. Dann drängte sie sich an Striker vorbei zu der blauen Tür.

»Folgen Sie mir, schöner Mann.«

Sie schloss auf und verschwand im Innern. Striker machte Anstalten, ihr zu folgen. Als Felicia unschlüssig stehen blieb, drehte er sich mit den Worten zu ihr: »Hey, kommst du nicht mit?«

Statt einer Antwort deutete sie mit einem Kopfnicken zum Fenster. Zu der Kreuzung. »Der Anrufer sagte, der BMW sei auf der Franklin links abgebogen«, rekapitulierte sie. »Vernon und Franklin … Ist das nicht die Ecke, wo wir letztes Jahr diesen Selbstmord hatten – direkt vor dem Kunststofflager?«

Striker nickte. »Das Gelände wird ebenfalls videoüberwacht.«

»Ich lauf mal kurz runter und seh mich da mal um. Hol mich dort ab, wenn du hier fertig bist, okay?« Sie neigte sich süffisant lächelnd zu ihm und flüsterte: »Möchtest du dir nicht meine Trillerpfeife ausborgen? Ich meine, kann ja sein, dass Wanda spontan über dich herfällt oder so.«

Er grinste zurück und schüttelte den Kopf. »Wenn ich mit dir fertigwerde, werde ich bestimmt auch mit Wanda fertig. Ich bin in zwanzig Minuten bei dir.«

Felicia verdrehte vielsagend die Augen, tätschelte seine Wange und verließ den Shop. Als sie weg war, sperrte Striker die Fronttür ab, um Ladendieben das Leben schwerzumachen, und ging nach hinten.

Um in das Büro zu gelangen, musste er durch einen kleinen Lagerraum, in dem sich Kanister mit Motorenöl und Kartons mit Süßigkeiten stapelten. Es roch überall nach Zitrone von den Deobäumchen, die man sich ins Auto hängen konnte.

Eine Ecke des Raums war für das Überwachungssystem abgetrennt. Dort stand Wanda, über den Schreibtisch gelehnt. Neben ihr war kaum Platz für eine zweite Person, schon gar nicht für einen Hünen wie Striker, der zwei Zentner Lebendgewicht auf die Waage brachte. Er reckte den Hals, um ihr über die Schulter zu schauen und die Videoaufzeichnung zu verfolgen.

Das Videosystem war neu. Striker grinste. Das alte hatte mit dem Softwareprogramm Omni-Eye gearbeitet. Er kannte das Programm. Es war langsam, unkomfortabel und brach häufiger während der Anwendung zusammen – meistens dann, wenn man das Video als Beweisstück dem Staatsanwalt hätte vorlegen wollen. Manchmal war auch gar nichts drauf, dann stand man mit einer leeren DVD da.

»Ihr habt auf digital umgestellt«, bemerkte er.

Wanda zuckte mit den Schultern. Sie benutzte die Maus, um durch die Videozeitleiste zu nagivieren.

Das Video hatte eine Superqualität. Der neue Tankstellenbetreiber war früher beim Militär gewesen und nahm es mit der Sicherheit offenbar sehr genau. Striker kannte den Mann nicht persönlich, fand dessen Einstellung aber sehr vernünftig. Er fixierte die Zeitleiste und sagte: »Sie sind ganz nah dran, Wanda. Gehen Sie noch ein Stückchen runter.«

Sie tat es.

Die Maschine las 16 Uhr 25, und das Objektiv der draußen angebrachten Kamera fokussierte die nordwestliche Ecke des Geländes, die Einfahrt Vernon Drive. Die Videokamera war so installiert worden, dass sie die dreisten Benzindiebe erfasste, die zu einer echten Seuche wurden. Mit etwas Glück war der Fahrer des SUV auf dem Video. Wenn nicht – Pech gehabt.

Striker betrachtete die Aufnahmen im normalen Ablaufmodus.

»Ich hätte Cop werden sollen«, sagte Wanda. »Oder wenigstens einen heiraten sollen.«

»Das sagen Sie jedes Mal, wenn wir uns sehen.«

»Weil Sie den Wink mit dem Zaunpfahl anscheinend nie kapieren, schöner Mann.«

Striker grinste. Er wollte etwas erwidern, doch dann sah er einen schwarzen SUV auf dem Monitor. Der Anrufer hatte Recht: Der Fahrer raste wie ein Irrer. Das Fahrzeug bretterte den Vernon Drive hinunter, überfuhr eine rote Ampel und schoss über die East Hastings Street. Gegen vier, fünf Uhr nachmittags war in der Gegend viel los, es war ein Wunder, dass es keinen Crash gegeben hatte. Der Wagen fuhr dermaßen schnell, dass Striker die Videosequenz noch zweimal zurücklaufen ließ und die Wiedergabegeschwindigkeit verlangsamte in der Hoffnung, ein paar Details aufzuschnappen. Schließlich erkannte er Marke und Modell des Fahrzeugs.

Es war zweifellos ein BMW. Und er lag richtig mit dem Modell.

Ein X5.

Aufgrund der getönten Scheiben und des schlechten Aufnahmewinkels war der Fahrer nicht zu erkennen. Außerdem fuhr der Kerl so schnell, dass die Aufzeichnung unscharf war.

Striker bezweifelte, dass die Jungs von der Technik da noch was machen konnten.

»Es ist nicht besonders gut, was?«, fragte Wanda stirnrunzelnd.

»Es ist besser als erwartet.«

Wanda grinste erfreut.

Vorn ging der Alarm los – Kunden, die in den Shop wollten –, folglich wies Striker Wanda an, die Fronttür aufzuschließen. Er wollte sich in der Zwischenzeit das Video noch einmal ansehen.

Die nächsten zehn Minuten versuchte er, die Bilder zu vergrößern und schärfer zu stellen. Es war nicht leicht. Doch dann war er sich ziemlich sicher, dass der erste Buchstabe auf dem Nummernschild ein J war. Der Rest blieb unscharf.

Er nahm sich eine DVD aus dem Regal und brannte eine Kopie für die forensische Videotechnik. Vielleicht konnten seine Kollegen damit mehr anfangen, allerdings hatte er wenig Hoffnung. Das Problem war nicht die Videoqualität, sondern die Positionierung der Kamera.

Mehr als das J auf dem Nummernschild würden die vermutlich auch nicht rauskriegen.

Er startete eine neue Videoaufzeichnung für die Tankstelle, dann verließ er das Büro und schloss die Tür hinter sich ab. Im Shop lief Felicia ihm schon entgegen.

»Und, irgendwas Neues?«, fragte sie atemlos.

Er kratzte sich am Kopf. »Es ist ein BMW. Dunkel, vermutlich schwarz. Ein X5, wir haben richtig getippt. Der erste Buchstabe auf dem Nummernschild sieht wie ein J aus. Mehr konnte ich leider nicht erkennen.« Er musterte sie hoffnungsvoll. »Haben Sie ein Video?«

»Nein«, sagte sie und lächelte. »Aber ich hab was Besseres – ich hab einen Zeugen aufgetan.«

Zornesblind
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