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Die Adresse, die Dr. Richter Striker gab, lautete Stone Creek Slop in West Vancouver, Kanadas teuerstes Pflaster. Als sie den Trans-Canada Highway verließen und kurz darauf durch das betreffende Viertel fuhren, wusste Striker, warum.
Die Anwesen waren groß und idyllisch gelegen, die alleenartigen Straßen von hohen alten Zedern gesäumt. Die meisten Häuser lagen hinter hohen Mauern und Zäunen versteckt. Jedes Haus hatte eine Veranda, die zur Bucht hinausging.
Striker blickte über das Wasser, glatt und schwarz glänzend wie Marmor, ähnlich wie der wolkenlose Nachthimmel. Unter ihnen erstreckte sich die Innenstadt von Vancouver, hell erleuchtet und pulsierend.
Er fuhr langsam die sanft abfallende Böschung hinunter, bis er auf der linken Seite die gesuchte Adresse entdeckte. Eine schmale Auffahrt, verglichen mit den anderen, halb versteckt hinter Bäumen.
»Ziemlich abgelegen hier draußen«, meinte Felicia. »Als wäre man mitten in der Pampa, dabei ist die Innenstadt mit dem Auto in zehn Minuten erreichbar. Es ist wunderschön.«
»Und hoffnungslos überteuert. Deshalb wohnen hier auch bloß Ärzte und Anwälte und irgendwelche Celebritys.«
Er setzte in die Auffahrt und parkte auf einem kleinen runden Vorplatz. Sie stiegen aus. Das Haus vor ihnen wirkte zwar nicht so bombastisch wie die meisten in der Nachbarschaft, trotzdem war es bestimmt Millionen wert.
Schlagartig flammte die Außenbeleuchtung auf, und die Haustür wurde geöffnet. In der Tür stand eine Frau um die dreißig, in einem schwarzen Kostüm, die langen, braunen Haare zu einem weichen Knoten hochgesteckt. Herbes, aber hübsches Gesicht. Intelligente Augen, die Strikers Blick unbewegt erwiderten.
»Guten Abend«, sagte sie. »Ich bin Dr. Richter. Ich hab Sie schon erwartet.«
Sie führte die beiden Detectives in ein kleines Wohnzimmer, das den Außenpool und die Klippen über der Bucht überblickte. Auf dem Kaffeetisch stand eine Schale mit Mandarinen, deren Duft den Raum erfüllte.
Striker setzte sich in einen edlen Designersessel Dr. Richter gegenüber, die auf einem kleinen Zweisitzer Platz nahm. Felicia nahm das andere Sofa.
»Schön haben Sie es hier«, begann Striker.
Dr. Richter brachte ein Bein unter das andere und zog ihren Rock glatt. »Das Haus gehört meinem Onkel«, antwortete sie. »Ich zahl wenig Miete, und er wohnt schräg gegenüber. Das ist optimal, weil ich oft weg bin. Dann hat er ein Auge auf das Haus.«
»Sie waren gestern nicht erreichbar«, schob der Detective nach. »Ich habe mehrere Nachrichten hinterlassen.«
»Ja, stimmt. Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich nicht eher gemeldet habe. Ich hatte meinen Anrufbeantworter nicht abgehört. Zudem dauerte der Flug von New York fast den ganzen Tag.«
»Waren Sie auf einem Kongress?«, hakte Felicia nach.
»Nein, ich hab dort Verwandte. Ich hab ein paar Besuche gemacht, Kontakte gepflegt. Und mir die Gegend angeschaut. Ich plane, in New York eine Privatpraxis aufzumachen. Da kann ich dreimal so viel verdienen wie hier, und die Steuerlast ist nur halb so hoch.«
»Das ist natürlich ein erheblicher Unterschied«, bemerkte Felicia.
»Es ist ein Unterschied von fünfzehn Jahren – mit fünfzig oder mit fünfundsechzig in Rente zu gehen.« Nach einem kurzen Blick von Striker zu Felicia fuhr die Ärztin fort: »Ich bin nicht Psychiater geworden, weil mich dieses medizinische Fachgebiet besonders interessiert«, räumte sie offen ein. »Ich wollte eine Menge Geld verdienen, jung aufhören und das Leben genießen.«
»Und trotzdem arbeiten Sie für EvenHealth«, betonte Striker.
»Ja«, meinte sie freimütig, als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun.
Er wiegte nachdenklich den Kopf. »EvenHealth wird mit staatlichen Mitteln unterstützt, und Dr. Ostermann hat sich den Ruf erworben, dass er den Ärmsten der Armen hilft. Ich bin sicher, da bekommen Sie nicht mal annähernd, was private Kassen zahlen würden – besonders in dieser Gegend.«
»Stimmt«, gab Richter zurück. »Ich arbeite auch nicht wegen des Honorars für EvenHealth, sondern um Erfahrungen zu sammeln. Dr. Ostermann hat einen ausgezeichneten Ruf. Mich interessierte sein Programm. Ich habe vor, in New York mein eigenes Programm zu starten und Ärzte für mich arbeiten zu lassen. Damit kann man richtig Geld verdienen.«
Striker fand die Frau interessant. Ehrlich und brutal offen. Die Dame hatte einen gewissen Charme. Er blätterte durch die Seiten seines Notizbuchs, bis er das Gesuchte fand.
»Sie haben einigen Patienten Medikamente verordnet«, begann er. »Es waren die gleichen Medikamente in exakt derselben Dosierung.« Er zeigte ihr den Eintrag. »Nahmen diese Patienten am EvenHealth-Programm teil?«
»Ja. Sie besuchten die SILC-Sitzungen. Die Gruppensitzungen. Für soziale Selbstbestimmung und Lebensbewältigung.« Sie lächelte. »Das ist eins von Dr. Ostermanns Zehnstufenprogrammen. Es ist primär für bipolare Patienten, in den meisten Fällen jedenfalls. Einige der Patienten leiden auch an Angststörungen. Diese Patienten bekommen für gewöhnlich Lexapro und Effexor verordnet. Beide Medikamente sind sehr effektiv und zeigen, vor allem in Kombination genommen, besonders gute Therapieerfolge. Genaueres müsste ich allerdings in meinen Akten nachsehen.«
»Sie haben Ihre eigenen Rezepte nicht im Kopf?«, fragte Striker.
Dr. Richter lachte belustigt auf. »Detective, soll das ein Scherz sein? Neben meiner Arbeit für EvenHealth habe ich im vergangenen Jahr über siebenhundert Patienten behandelt. Jeder bekommt im Schnitt zehn verschiedene Medikamente. Das sind um die siebentausend Verordnungen. Meinen Sie ernsthaft, die hätte ich alle im Kopf?«
»Hört sich nach Massenabfertigung an.«
»Und bringt viel Geld«, sagte sie entwaffnend. »Ich sagte bereits, dass ich mir diesen Beruf ausgesucht habe, weil ich viel Geld verdienen will. Satte, dicke Honorare. Mit vierzig will ich es mir an einem Strand in Jamaika gut gehen lassen.«
Striker überging diese Bemerkung. »Mich interessieren weniger die Verordnungen als vielmehr die Patienten Mandy Gill, Sarah Rose und Larisa Logan.«
Dr. Richter schwieg eine lange Weile unbehaglich. Ihre Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an, ihre Miene blieb unbewegt. Sie sah mit einem Mal älter aus. Abgebrühter.
»Ich erinnere mich dunkel«, räumte sie schließlich ein. »Und müsste mich erst in die jeweiligen Akten einlesen. Vergessen Sie nicht, ich hab Dr. Ostermann lediglich vertreten, wenn er unabkömmlich war.«
»Was sagt Ihnen der Name Larisa Logan?«, drängte er.
Die Ärztin fertigte ihn mit einem kalten Blick ab. Dann antwortete sie: »Larisa Logan … hm … tja, das sagt mir etwas. Sie war bei der Opferhilfe tätig, nicht?«
»Stimmt«, bestätigte Striker. »Ihre Familie starb bei einem Autounfall. Daran zerbrach sie wohl psychisch.«
»Ja, ich erinnere mich an Larisa Logan. Eine sehr nette und freundliche Person. Sie tat mir leid.«
Striker bezweifelte das zwar, sagte jedoch nichts.
»Larisa ist verschwunden«, unterbrach Felicia. »Und wir versuchen verzweifelt, sie zu finden – nicht in einer Strafsache, sondern zu ihrer eigenen Sicherheit.«
Die Miene der Ärztin nahm einen verständnislosen Ausdruck an. »Und weswegen kommen Sie jetzt zu mir?«
»Ist sie denn nicht Ihre Patientin?«, fragte Striker etwas verdutzt.
»Nein, nein. Wie schon erwähnt, bin ich bei den SILC-Sitzungen immer bloß eingesprungen. Ich hatte nie private Sitzungen mit den Patienten – damit kann man kein Geld machen.«
»Und wer hat Larisa Logan behandelt?«, hakte Felicia nach.
»Dr. Ostermann natürlich.«
Striker straffte sich in seinem Sessel. »Ich darf das noch einmal klarstellen, ja? Abgesehen von gelegentlichen Vertretungen haben Sie Larisa nie therapiert, ist das korrekt?«
»Ja. Sie war Dr. Ostermanns Patientin. Darauf legte er großen Wert. Sie war so etwas wie sein ganz persönliches Projekt.«
Striker bemerkte Felicias angespannte Miene. Er brachte das Gespräch auf andere Themen. Ob Dr. Richter gelegentlich neue Medikamente an den Patienten ausprobieren würde, ob sie Verbindungen zur Army habe und ob sie jemals im Riverglen tätig gewesen sei?
Alle drei Fragen beantwortete die Ärztin mit Nein.
Damit war die Befragung beendet. Striker steckte sein Notizbuch weg und stand auf. Er schüttelte Dr. Richter die Hand und bedankte sich für ihre Zeit.
Auf halbem Weg zur Tür meinte er: »Bleiben Sie in der Nähe Ihres Telefons. Ich habe bestimmt noch ein paar Fragen an Sie.«
»Jederzeit«, antwortete sie kühl.
Sie fuhren durch die Zedernwälder von West Vancouver auf den Trans-Canada Highway und in die Innenstadt. Auf der Rückfahrt versuchte Striker zu relaxen und mental einen Gang zurückzuschalten. Felicia war jedoch das reinste Energiebündel.
»Wir haben die Verbindung«, sagte sie. »Dr. Ostermann behandelte alle vier Patienten, Gill, Rose, Mercury und Logan, und sah sie nicht bloß in Gruppen-, sondern auch in Einzeltherapien.«
Striker nickte. »Kommt hin. Außerdem hat er in etwa die Größe und Statur von dem Typen, der mich am Gill-Tatort angriff. Aber das ist bislang alles rein hypothetisch.«
»Was heißt das? Dass er erst mal außen vor ist?«
»Nein. Wir sehen uns den Doc mal genauer an.«
Felicia nickte. »Sei bloß vorsichtig, dass du ihm nicht auf die Füße trittst«, meinte sie dann besorgt.
»Hab ich was von Verhör gesagt?« Sie fuhren eben über die Lion’s Gate Bridge. Striker angelte nach seinem Handy und tippte die Nummer von Hans Jager ein, Spitzname Meathead und einer der Spezialisten vom SEK. Nach dem Gespräch steuerte der Detective zur Cambie Street Bridge, um sich das entsprechende Equipment abzuholen.