23
Die Pathologie befand sich im Nordflügel des Vancouver General Hospital, gleich hinter den Parkplätzen für Polizei und Krankenwagen. Der Weg war nicht ausgeschildert. Nur zwei grau gestrichene Türen, die zu einem Lastenaufzug führten. Das war alles.
Als Mordermittler ging Striker hier ein und aus. Wann immer er herkam, kamen lange verdrängte Erinnerungen wieder hoch, Erinnerungen an Mordopfer, Unfalltote und Suizide.
Wie der von seiner Frau. Der Tag, an dem er herkommen musste, um Amanda zu identifizieren, war in sein Gedächtnis wie eingemeißelt. Die Wände hatten ihn schier erdrückt, das Licht war zu grell gewesen, und das Zeug, mit dem sie die Leichen wuschen, hatte in seiner Lunge gebrannt. Er würde die Erinnerung wahrscheinlich nie loswerden.
Sie nahmen den Aufzug, der sie zwei Stockwerke tiefer in die Pathologie brachte. Striker trat zurück, damit Felicia nah an der Lifttür stehen konnte. Sie litt unter Klaustrophobie und hetzte halb panisch aus dem Aufzug, sobald die Türen wieder aufglitten.
Striker folgte ihr. Im Korridor schlug ihm der muffige Geruch von alter, abblätternder Farbe und feuchter, abgestandener Luft entgegen. Das Gebäude war alt. Er durchquerte den langen Gang, bog nach rechts und blieb vor einer hässlichen grauen Tür stehen. Es war der Haupteingang zu den Autopsiesälen.
Dort hatte er damals Amanda identifizieren müssen.
Es war wie ein Schlag in sein Gesicht. Schlimm, schmerzvoll. Ein trauriger Ort, traurig und grausam. Er riss sich wahrlich nicht darum hierherzukommen, aber es gehörte nun mal zu seinem Job als Mordermittler.
Er drückte die Tür auf und trat ins Innere.
Auf einem der Untersuchungstische lag Mandilla Gill. Neunzehn Jahre jung. Und mausetot. Ihr Körper war bis zu den Schultern mit einer weißen Plastikplane verhüllt, das Gesicht jedoch unbedeckt, was ungewöhnlich war. Anscheinend war die Gerichtsmedizinerin Kirstin Dunsmuir gerade damit beschäftigt, die Leiche für die Obduktion vorzubereiten.
Striker blickte sich suchend um.
»Hast du Dunsmuir schon irgendwo gesehen?«, fragte er Felicia.
»Die Todesgöttin?« Felicia schüttelte den Kopf. »Nein. Bin ehrlich gesagt auch nicht scharf drauf. Die sehen wir noch früh genug.«
Striker musste sich ein Grinsen verkneifen. In einer anderen Situation hätte er laut gelacht. Felicia konnte Kirstin Dunsmuir nicht ausstehen – er im Übrigen auch nicht. Das erging vielen so. Die Frau war kälter als die Toten, die sie obduzierte, und vollkommen humorlos.
Kopfschüttelnd streifte er Latexhandschuhe über und trat zu der Leiche auf dem Stahltisch. In der schneidenden Helligkeit der Untersuchungslampen wirkte Mandy Gills Haut fast aschig. Ihr Gesicht war mangels Blutzirkulation etwas eingesunken, die Muskeln um ihre Augen jedoch noch straff. Striker hatte gehofft, dass die tote Mandy friedlicher erscheinen würde, aber das tat sie nicht.
Er zog das Laken zurück und betrachtete den Körper. Die Tote war nackt. Dies ließ darauf schließen, dass die Autopsie bereits begonnen hatte.
»Dunsmuir untersucht sicher gerade die Unterwäsche auf irgendwelche Spuren«, folgerte Felicia. »Warten wir lieber, bis sie zurückkommt. Du weißt, wie fuchsig sie werden kann, wenn man ihr in den Kram pfuscht.«
Striker zuckte wegwerfend mit den Schultern. »Ich hab nichts angerührt. Ich will mir die Leiche bloß mal anschauen.«
»Weswegen?«
»Spuren.«
Er richtete den Strahl der Untersuchungslampe direkt auf den Körper. Das Blut sammelte sich schwach violettgrau im unteren Fünftel des Leichnams. Mandys Gesichtsmuskulatur wirkte maskenhaft starr, vor allem um die Augenlider herum und im Wangenbereich.
Die Totenstarre war eingetreten.
Striker konzentrierte sich auf die Haut der Toten. Zunächst suchte er mit Blicken nach möglichen Einstichen an den üblichen Körperstellen – Schultern, Arme und Handgelenke. Als er nichts fand, ließ er seine Augen von Mandys Zehen aus langsam über deren Körper wandern.
Am Hals wurde er fündig. Eine winzige Schwellung, die trotz der grellweißen Klinikbeleuchtung kaum erkennbar war. In dem dämmrigen Apartment war sie überhaupt nicht aufgefallen.
»Schau mal«, sagte Striker zu Felicia. »Da, links am Hals. Über dem Schulterblatt.« Er zeigte mit dem Finger auf die Stelle.
»Also ich seh da nichts.« Felicia schüttelte den Kopf.
Striker nahm seinen Kugelschreiber zu Hilfe und zeigte auf eine kleine, erhabene Stelle.
»Siehst du das?«, fragte er. »Das Gewebe ist leicht geschwollen. Es fällt kaum auf, erst wenn man es mit der anderen Schulter vergleicht, erkennt man einen Unterschied.«
»Und, was schließt du daraus?«
»Dass sie eine Injektion verabreicht bekam.«
Felicia blieb skeptisch. »Bist du sicher?«
»Absolut sicher. Und die Schwellung deutet darauf hin, dass Mandy zu dem Zeitpunkt noch lebte – sonst gäbe es keine Immunreaktion. Wenn du genauer hinschaust, siehst du die kleine Schwellung, direkt hier.«
Felicia schüttelte den Kopf. »Seit wann hinterlassen Einstiche solche Schwellungen?«
Striker musterte sie stirnrunzelnd. »Tun sie normalerweise nicht, es sei denn, jemand wehrt sich, und die Nadel ritzt die Haut.« In dem Augenblick zerschnitt eine Stimme, kalt wie Eisnadeln, die Luft im Raum, und er stoppte in seinen Ausführungen.
»Sind Sie wahnsinnig! Was tun Sie da?«
Eine sehr aufgebrachte Kirstin Dunsmuir stürmte in den Raum. Striker erkannte mit einem Blick, dass die Gerichtsmedizinerin nicht zuletzt auch an sich selbst herumschnippeln ließ. Die Segnungen der ästhetischen Chirurgie – darauf fuhr die Dame wohl total ab. Sie verschränkte die Arme vor ihren Brustimplantaten und blaffte die beiden mit ihren aufgespritzten Lippen an: »Lassen Sie gefälligst die Finger von meiner Leiche!«
Striker zeigte auf die betreffende Stelle. »Schauen Sie doch mal kurz selbst, ja? Für mich sieht es so aus, als hätte man ihr irgendwas injiziert.«
Statt einer Reaktion starrte Dunsmuir ihn aus eisblauen Kontaktlinsen vernichtend an. Dann schritt sie wichtigtuerisch zu dem Stahltisch, die Enden ihres langen blauen Autopsiekittels umwehten wie Frackschöße ihre Waden. Sie inspizierte die Hautregion und nickte kaum merklich.
»Ja, sieht tatsächlich so aus, als wäre ihr irgendwas gespritzt worden«, meinte sie deutlich versöhnlicher.
Sie trat zurück und nötigte sich ein Lächeln ab, das sündhaft teure, strahlend weiße Jacketkronen aufblitzen ließ. »Exzellentes Detail«, befand sie, an Striker gerichtet, »und wenn ich Sie noch einmal dabei erwische, dass Sie an meinen Leichen rummachen, bevor die Autopsie beendet ist, werf ich Sie eigenhändig raus.«
Striker biss die Kiefer aufeinander. Er hatte allen Grund, hier zu sein. Schließlich war er mit den Ermittlungen im Fall Mandy Gill betraut, und Dunsmuir spielte lediglich die zweite Geige. Ein unschlagbares Argument.
Doch was hätte er davon gehabt? Alle wussten doch, wie Kirstin Dunsmuir war. Nicht umsonst hatte sie den Ruf einer Todesgöttin. Sich mit ihr anzulegen würde die Ermittlungen bloß erschweren.
»Sorry«, ruderte er zurück, »wenn ich meine Kompetenzen überschritten haben sollte. Es ist bloß so … Ich kannte die Tote. Sie war ein nettes Mädchen. Es ist tragisch, was mit ihr passiert ist.«
Die Gerichtsmedizinerin zuckte mit keiner Wimper. »Wenn Sie sie kannten, sollten Sie den Fall besser an jemand anderen abgeben. Von wegen Befangenheit und so.«
Striker ließ die Bemerkung unkommentiert. »Schauen Sie, ich will Ihnen nicht auf die Zehen treten oder mich in Ihre Arbeit einmischen. Ich bin bloß skeptisch, ob das hier nicht mehr ist als ein simpler Suizid.«
Die Gerichtsmedizinerin überlegte. Strikers Entschuldigung schien sie zu besänftigen. Ihre Miene entspannte sich. »Ich stehe noch am Anfang der Obduktion«, gab sie zu bedenken.
»Gut. Was ist mit einer toxikologischen Untersuchung?«, fragte Striker.
»Ich mache grundsätzlich toxikologische Tests – wenn es gewünscht wird.«
Striker nickte bekräftigend. »Wann können wir das Ergebnis bekommen?«
»Die Auswertung der toxikologischen Untersuchung? Die Proben muss ich wegschicken. Geben Sie mir vierundzwanzig Stunden, okay?«
»In Ordnung«, sagte Striker. Der Geruch der Reinigungsflüssigkeiten und seine Erinnerungen setzten ihm mächtig zu. Er gab Dunsmuir seine Dienstkarte mit seiner privaten Handynummer. »Rufen Sie mich an, sobald Sie das Ergebnis haben.«
Dunsmuir nahm die Karte und nickte. Dann verabschiedeten sich die beiden Detectives. Draußen im Gang meinte Felicia grinsend: »Ich dachte schon, du reißt der Tussi da drinnen den Kopf ab.«
»Leben und leben lassen«, entgegnete er darauf mit einem gönnerhaften Schulterzucken.
Er hielt es nicht mehr aus. Er brauchte Platz, frische Luft. Zeit zum Nachdenken. Vor allem aber wollte er weg von Kirstin Dunsmuir und der Pathologie.
Die Geschichte drückte ihm verdammt schwer aufs Gemüt.