37

Riverglen war eine alte, um 1900 erbaute psychiatrische Klinik. Die Rahmen der alten Holzfenster waren frisch weiß gestrichen, der rote, an etlichen Stellen bröckelnde Ziegelbau vor Kurzem sandgestrahlt worden. Aber ungeachtet der öffentlichen Gelder, die in das Krankenhaus gesteckt wurden, und der Aussagen der Politiker, dass das Haus modern, freundlich und fortschrittlich sei, lag ein Hauch von Verzweiflung über der Einrichtung, dunkel wie die Wolkenberge, die sich im Norden auftürmten.

Das war Riverglen: eine Einrichtung für psychisch Kranke. Sie unterstand den Mental Health and Addiction Services der Regierung, sofern das überhaupt jemanden interessierte.

Felicia zeigte auf den Glockenturm, der über dem Hauptdach aufragte. »Ich krieg die Krise, wenn ich so was wie das da sehe.«

Ihr Kollege nickte. »Da oben haben sie den Patienten Schocktherapien verpasst.« Kaum war es raus, bereute er das Gesagte. Felicia hatte ohnehin ein Problem mit der Klinik, da musste er nicht noch eins draufsetzen.

»Ich hasse diese Klinik«, sagte sie leise. »Meine Großmutter war hier – in der Klapse, so nannten es damals alle. Die Ärzte pumpten sie mit Tabletten voll, steckten sie in eine Zwangsjacke, verpassten ihr Elektroschocks. Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern, ich war da noch klein, aber das weiß ich noch. Ihr fielen die Haare aus von der Tortur, und sie wurde spindeldürr.«

»Das wusste ich nicht«, meinte Striker leise.

Felicia fixierte ihn mit einem harten Blick. »Vor der Therapie ging es ihr viel besser, die haben sie erst richtig irre gemacht. Nachher war sie ein menschliches Wrack und konnte nicht mehr nach Hause. Es war tragisch.«

»Die Behandlungsmethoden sind seit damals viel besser geworden«, gab Striker zu bedenken.

Felicia kaufte ihm das jedoch nicht ab. Sie starrte auf das Gebäude und schüttelte sich unwillkürlich. Striker parkte den Wagen, nickte ihr zu, und sie stiegen aus.

Der Wind vom Pitt River fegte über das Klinikgelände, riss und zerrte an den kahlen Büschen, die die Wege säumten. Felicia zog ihren langen Wintermantel fester um ihren Körper und marschierte voraus. Striker schloss zu ihr auf. Sie liefen nebeneinander die alte Steintreppe zum Eingang hinauf und betraten durch ein frisch gestrichenes weißes Säulenpaar das Foyer der Psychiatrie.

Riverglen.

Willkommen in der Klapse.

Drinnen sah es genauso deprimierend aus wie von außen. Ein Hauch von Verzweiflung durchwehte die langen Gänge. Nachdem sie sich am Empfang ausgewiesen hatten, wurden Striker und Felicia durch eine Sicherheitsschleuse geführt und von einem Aufseher in den Ostflügel gebracht, wo Dr. Erich Ostermann sein Büro hatte.

Während sie lange, enge Flure durchquerten, kam bei Striker allmählich Irrenhausfeeling auf. Die Wände waren mindestens fünf Meter hoch, die Fenster schmale, vergitterte Schlitze, die kaum Tageslicht hereinließen und die Aussicht auf die Umgebung versperrten. Es war deprimierend.

»Verdammt, dieses Krankenhaus ist eine Zumutung!«, schimpfte Felicia.

Der Aufseher, ein bulliger kleiner Typ von Mitte fünfzig, ignorierte den Kommentar und lief wortlos weiter.

Das Büro von Dr. Ostermann befand sich in dem Knick eines L-förmigen Flurs. Daneben war eine Art Aufenthaltsraum, in dem mehrere Patienten in hellblauer Anstaltskleidung saßen.

Striker warf einen Blick in den Raum. Er war klein, lang gestreckt und verfügte, anders als die Flure, über Tageslicht, das durch zwei Fenster fiel, die auf die Berge hinausgingen. Einige Patienten spielten Backgammon. Andere lasen oder scharten sich um einen alten Röhrenfernseher, der in einer Ecke stand, und verfolgten eine Kochsendung.

Das Ganze erinnerte Striker irgendwie an ein Altenheim. Während sie auf Dr. Ostermann warteten, beobachtete Striker unauffällig die Patienten.

In einer Ecke spielten vier Leute Karten. Plötzlich sprang einer von ihnen auf, ein lang aufgeschossener, dünner blasser Typ, der sich offenbar tagelang nicht rasiert hatte, und brüllte: »Du verdammtes ARSCHLOCH!« Er riss sich das Hemd vom Leib und warf es auf den Boden.

Striker und Felicia wechselten einen langen Blick miteinander.

»Spielen die etwa Strippoker?«, raunte er ihr zu.

Einer der Pfleger erhob sich geschmeidig und rief: »Henry! Beruhig dich wieder. Hast du mich verstanden?«

Der Angesprochene schien unbeeindruckt. »Er hat ein Messer am Tisch!«, erregte er sich. »Ein Messer! Er darf kein Messer haben. Das ist gegen die Regeln, es ist GEFÄHRLICH

Der Pfleger blickte über den Tisch, auf dem ein paar Pappteller mit Vollkornmuffins und Butterwürfeln standen, daneben lagen Plastikmesser. »Ist schon okay, Henry. Alles im grünen Bereich. Er darf so eins haben. Es ist aus Plastik. Entspann dich wieder, Mann.«

»Es ist GEFÄHRLICH

»Komm, reg dich ab, sei ein braver Junge. Dann geb ich dir auch ein paar von deinen Lieblingssnacks, okay?«

»M&Ms?«

»Versprochen«, sagte der Aufseher.

»Mit Erdnüssen drin?«

»Geht klar.«

Henry funkelte den Pfleger an, schob trotzig sein Kinn vor und streifte sein Hemd wieder über. Er warf die Karten auf den Tisch, seine Augen wanderten zum Eingang des Raums, wo Striker mit Felicia stand. Er fing ihren Blick auf.

»Verdammt, was wollt ihr hier?«

Striker sagte nichts; Felicia packte ihn am Arm und zog ihn fort.

»Provozier ihn bloß nicht«, zischelte sie. »Er ist psychisch krank.«

Das hatte Striker auch gar nicht vor. Bevor er das klarstellen konnte, fragte eine Frauenstimme hinter ihnen: »Bitte, was kann ich für Sie tun?«

Die beiden Cops drehten sich um.

Sie standen in dem kleinen Empfangsbereich vor Dr. Ostermanns Büro. Hinter einem Schreibtisch saß eine Frau in weißer Krankenhauskleidung. Um die dreißig, die Haare zu einem strengen Knoten hochgesteckt, kein Make-up. Sie machte einen unnahbaren, reservierten Eindruck.

Während Henry im Hintergrund randalierte, trat Striker an ihren Schreibtisch. »Detectives Striker und Santos«, erklärte er. Er zeigte der Frau seinen Dienstausweis. »Wir müssen mit Dr. Ostermann sprechen.«

»Haben Sie einen Termin mit ihm?«, fragte sie ausdruckslos.

»Für die Irrenanstalt?«, fragte er zurück. »Nein, haben wir nicht.«

Die Miene der Dame gefror – ihre erste erkennbare Emotion. »Das heißt heute nicht mehr so«, korrigierte sie. »Sie befinden sich in einer psychiatrischen Einrichtung.« Daraufhin blätterte sie durch ihren Tischkalender und seufzte missmutig. »Herr Dr. Ostermann ist in einer Therapiesitzung, die noch zwanzig Minuten dauert. Bis elf. Und danach hat er mehrere Untersuchungen … bis zwölf. Ich fürchte, es wird heute nicht mehr klappen.«

»Doch, das klappt«, beharrte Striker. »Er weiß, dass wir kommen. Ich hab gestern mit ihm gesprochen.«

»Darüber hat er mich nicht informiert.«

Felicias Miene verdunkelte sich. Sie klappte den Mund auf und schloss ihn unverrichteter Dinge wieder.

Striker grinste. »Hat er sicher nur vergessen.«

Ostermanns Mitarbeiterin ließ die Bemerkung unkommentiert. Sie zeigte auf eine Stuhlreihe an der rückwärtigen Wand. »Wie Sie wollen. Setzen Sie sich doch so lange. Ich sag dem Doktor Bescheid, dass Sie hier auf ihn warten.«

Nach einem Blick auf Ostermanns Büro durchquerte der Ermittler kurzerhand den Flur, drückte auf die Klinke und drückte die Tür auf.

»Sir! Sir! Detective!«, rief die Vorzimmerdame.

Striker stellte sich dumm. »Ja?«

»Raus da, bitte.«

»Oh, sorry. Ich dachte, wir sollen in seinem Büro warten.«

»Nein, Sie warten bitte draußen.«

Striker setzte sich neben Felicia, die sich halb den Nacken verrenkte und ihn angrinste.

»Klasse Taktik, Sherlock.«

Er erwiderte nichts darauf. Er saß neben ihr, atmete tief ein und roch Felicias Vanilleparfüm. Der Duft weckte Erinnerungen, schöne Erinnerungen, an die er jetzt nicht denken mochte. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, irgendwie in dieses Büro zu gelangen.

Nach ungefähr fünf Minuten erhob sich die Frau hinter ihrem Schreibtisch. »Ich bin gleich zurück«, verkündete sie und lief mit langen Schritten durch den Flur. Striker wartete, bis sie um die Ecke verschwunden war. Dann stand er auf.

»Was hast du vor?«, fragte Felicia.

»Überraschung«, griente er.

Er lehnte sich gegen die Wand und pfiff leise. In dem Patientenraum mopperte Henry leise weiter, dass Messer zu gefährlich seien. Er hörte das Pfeifen und sah zu Striker.

Dieses Mal sah Striker nicht weg. Stattdessen zwinkerte er dem Mann grinsend zu und flüsterte: »Schau mal, was ich habe.« Mit diesen Worten schob er seinen Mantel auseinander und enthüllte die Pistole im Holster. »Hab ich eingeschmuggelt.«

Henry entfuhr ein kehliges Keuchen. »So was dürfen Sie hier drin nicht haben!«

Striker drückte auf die Entriegelung und nahm das Magazin heraus. Er nahm eine Kugel heraus, setzte sie wieder ein, steckte das Magazin zurück. Dann blickte er zu Henry.

»Ich hab drei volle Magazine mit.«

»Die dürfen Sie hier nicht haben – die sind gefährlich!«

»Echt?«

»Das ist gegen die Regeln!«

»Ich hab mit den Regeln nichts am Hut.«

Henrys Miene verzerrte sich zur fratzenhaften Maske, und er begann, am ganzen Körper zu zittern. »DIE DÜRFEN SIE HIER NICHT HABEN – DAS IST GEFÄHRLICH!«, schrie er. Er trat aufgebracht gegen einen der Stühle. In diesem Moment kam die Vorzimmerdame zurück. Sie ließ japsend ihre Kaffeetasse fallen, als der Stuhl über den Linoleumboden schlitterte und in das Sicherheitsglas der Tür krachte.

»Henry, beruhigen Sie sich!«, befahl sie. »Nun beruhigen Sie sich doch wieder!«

»ER DARF SO WAS HIER DRIN NICHT HABEN! ER DARF NICHT! SO WAS IST VERDAMMT GEFÄHRLICH

Zwei Krankenpfleger ergriffen Henry und brachten ihn schleunigst in sein Zimmer, damit die anderen Patienten nicht auch noch aufmuckten.

Zu spät. Sie warfen ihre Karten hin und ihre Backgammonsteine. Das Fernsehen hatte seinen Reiz verloren. Striker wandte sich zu der Empfangsdame um.

»Das tut mir aufrichtig leid«, begann er. »Ich bin aufgestanden, um mich mal zu strecken, dabei hat er wahrscheinlich die Waffe gesehen. Und ist total ausgeflippt.« Er spähte in den Patientenbereich. »Herrje, die sehen so aus, als wären sie mächtig sauer auf uns.«

Die Frau blickte von der Kaffeepfütze am Boden zu den Patienten, die sie misstrauisch beäugten. »Vielleicht … vielleicht wäre es doch das Beste, wenn Sie drinnen auf ihn warten würden.«

Striker hob kapitulierend die Hände.

»Wie Sie meinen«, grinste er.

Zornesblind
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