29
Es war kurz nach sechs, als Striker und Felicia den kleinen Bungalow in der Camosun Street verließen und in die Innenstadt fuhren. Courtney schlief noch, und Striker mochte sie nicht wecken. Irgendwie fanden sie nie richtig Zeit füreinander, realisierte er schmerzlich. Und wie so oft signalisierte ihm sein Gewissen, dass er kein besonders guter Vater war.
Zumal Courtney in letzter Zeit häufiger depressiv wirkte, weil sie unzufrieden war, dass es mit der Krankengymnastik nach ihrem Unfall nicht so klappte, wie sie es sich vorstellte. Sie brauchte viel Ruhe, und da mochte er sie nicht stören.
Er heftete eine Notiz an den Computer, dass sie ihn unter gar keinen Umständen benutzen solle, dann verließ er mit Felicia das Haus. Bevor er in den Ford stieg, warf Striker einen letzten langen Blick auf sein gemütliches kleines Nest.
Felicia bemerkte seinen Blick. »Mein Gott, ihr passiert schon nichts, du Angsthase.«
Striker verzog missmutig die Mundwinkel, woraufhin Felicia ihn auslachte. Er stieg ein, ließ den Motor an, und sie fuhren zum Dezernat in der Cambie Street. Dort war die Opferhilfe untergebracht.
Immerhin bestand eine verschwindend geringe Chance, dass Larisa Logan dort war.
Bis zur Cambie Street waren es knapp zehn Minuten, so dass sie um 6.15 Uhr dort eintrafen. Der Parkplatz war ungewöhnlich leer. Die Echo-Schicht hatte bereits Feierabend, das Alpha-Team war auf der Straße und Bravo noch nicht wieder zurück.
Striker sprang aus dem Wagen und lief ins Foyer. Das Gebäude auf der Cambie gehörte der Insurance Corporation of British Columbia und nicht dem Vancouver Police Department, zum Ärgernis etlicher Cops, weil sie sich die Tiefgarage mit ICBC-Mitarbeitern teilen mussten und die Aufzüge die halbe Zeit defekt waren. Genau genommen entsprach der Bau absolut nicht den Erfordernissen der Polizei.
Und das war nur logisch. Das Gebäude war für Leute konzipiert, die einen geregelten Achtstundentag hatten, und nicht für Cops, die rund um die Uhr und sieben Tage die Woche malochten. Ein Umzug war zwar im Gespräch, aber bisher hatte sich noch nichts getan. Leere Versprechungen passten halt zu einer leeren Haushaltskasse.
Es war typisch für Vancouver.
Striker konnte es letztlich egal sein. In dem Bau an der Cambie war hauptsächlich der Streifendienst untergebracht. Er selbst war die meiste Zeit unten an der 312 – wenn er nicht ohnehin auf der Straße war.
Neben der Streife hatte die Opferhilfe ihr Büro. Darin war Larisa Logan tätig gewesen.
Sargheit Samra war ein alter Hase und seit einem Jahr der verantwortliche Sergeant für die Opferbetreuung. Vorher war er acht Jahre lang in der Alpha-Schicht gefahren und daher ein Frühaufsteher, das wusste Striker. Deshalb hatte er sich auch nicht vorher angekündigt. Er tippte darauf, dass Samra schon im Dienst war.
Um sechs Uhr morgens.
Striker und Felicia durchquerten das Foyer und bogen nach rechts in entgegengesetzte Richtung der Aufzüge. Das Büro der Opferhilfe lag südwestlich der Eingangshalle und war ein Kubus aus getöntem Glas. Es war eine kleine Abteilung. Mit sechs Schreibtischen und ständig zu wenig Personal. Folglich waren die Mitarbeiterinnen im Dauerstress, denn sie wurden rund um die Uhr zu den grausigsten Verbrechensschauplätzen gerufen. Der Schichtdienst verlangte diesen Kollegen eine Menge ab.
Striker beneidete sie nicht um ihren Job.
Er klopfte mit den Fingerknöcheln energisch gegen die Glastür, drückte die Klinke hinunter und betrat das Büro. An einem der Schreibtische saß Sargheit Samra. Er hatte seine Polizeistiefel ausgezogen, die Füße hochgelegt und blätterte im lokalen Sportteil der Tageszeitung.
Im Kollegenkreis hieß er immer bloß der Sarj.
Er war Inder, in den Fünfzigern und ein kräftiger, trainierter Mann. Glatt rasiert. Die Uniformjacke spannte eindrucksvoll über seiner Muskelmasse. Der Mann war ein wahres Kraftpaket.
Rauchen war zwar im gesamten Gebäude verboten, trotzdem baumelte eine Zigarette in seinem Mundwinkel, ein dampfend heißer Starbucks-Kaffee stand vor ihm auf dem Schreibtisch. Schwarz wie die Nacht und wie üblich im Pappbecher.
Bei Strikers Eintreten hob der Sarj den Kopf, seine vollen Lippen verzogen sich zu einem süffisanten Grinsen. »Heiliger Strohsack, Schiffswrack, der Kater lässt das Mausen nicht.« Er sprach akzentfrei. Er blickte zu Felicia und strahlte über das ganze Gesicht. »Treiben Sie sich immer noch mit diesem Loser rum? Passen Sie bloß auf, dass Sie durch den nicht in Verruf geraten.«
»Schon passiert«, erwiderte sie schlagfertig. »Wie stehen die Aktien, Sarj?«
Er faltete die Zeitung zusammen und warf sie auf den Schreibtisch. »Läuft ruhig an heute Morgen – ist auch mal wieder schön.« Er legte skeptisch den Kopf schief. »Wieso? Ihr beide seht glatt so aus, als hättet ihr Arbeit für mich.«
Striker schloss die Tür hinter ihnen. »Wir kommen wegen einer Ihrer früheren Kolleginnen. Larisa Logan. Sie hat mir damals sehr geholfen.«
Das Grinsen verlor sich, der Sarj schwang die Füße vom Schreibtisch. Setzte sich kerzengerade auf, nahm einen langen Zug von seiner Zigarette und räusperte sich. »Mensch, Striker, Sie können einem echt am frühen Morgen schon die Laune verderben. Was wollen Sie über Larisa wissen?«
»Alles. Unter anderem beispielsweise, warum sie mir mitteilt, dass sie Informationen zu einem meiner Fälle hat.«
»Hat sie das?« Der Sarj hob eine Braue und drückte seine Zigarette in dem Plastikdeckel seines Kaffeebechers aus. Er drehte die Kippe nachdenklich zwischen den Fingern, als wälzte er irgendwas in seinem Kopf hin und her. Nach einer langen Weile hob er den Kopf und sah mit einem Mal um Jahre gealtert aus. Müde, verbraucht. »Ihr wisst, dass sie nicht mehr hier arbeitet, oder?«
Striker nickte.
»Kurz nachdem ich hier angefangen hab, hat sie aufgehört. Folglich weiß ich nicht allzu viel über meine Exkollegin.«
»Sie war doch schon länger hier tätig, nicht?«, wollte Felicia wissen.
»Mmh, an die drei Jahre, glaub ich, als ich hierherversetzt wurde. Sie war eine von den Guten.«
»Gute Arbeitsethik?«, hakte Striker nach.
Der Sarj nickte bekräftigend. »Absolut diszipliniert. Anders kann man hier auch nicht arbeiten. Als ich hier anfing, war die Opferhilfe bloß mit zwei Leuten besetzt, obwohl hier dauernd die Post abgeht. Jetzt sind wir zu fünft. Larisa und Chloe waren total im Stress. Verdammt, die waren überarbeitet. Ausgebrannt.«
»Chloe?«, forschte Felicia.
»Chloe Sera. Hat sich später versetzen lassen. Nach Burnaby South – Abteilung für Verbrechensanalyse, glaub ich.«
Striker nickte. »Kamen Sie gut miteinander aus?«
»Larisa und ich?«, kam es verblüfft vom Sarj. »Na klar. Larisa war ein Goldschatz. Die konnte mit allen hier gut. Immer fröhlich, nie schlecht drauf. Sie machte ihre Arbeit und redete nicht groß darüber. Kein böses Wort, keine Kritik. Verdammt, ich wünschte, ich könnte dasselbe von den neuen Mädels sagen – die kommen sich heutzutage alle so verflucht wichtig vor … Ich vermisse Larisa.«
Striker verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Wand. »Was war denn? Wieso hat sie eigentlich hier aufgehört?«
Der Sarj öffnete eine neue Packung Lucky Strikes ohne Filter. Schnippte mit Daumen und Zeigefinger eine Zigarette heraus. »War schlimm. War echt schlimm. Die volle Ladung für Larisa.«
»Die volle Ladung?«, wiederholte Striker begriffsstutzig. »Hey, Sarj, reden Sie mal Klartext. Machen Sie es nicht so spannend.«
Der Inder schnaufte betreten. Er zündete sich die Zigarette an, inhalierte tief und blies eine Rauchwolke aus, die sekundenlang das kleine Büro vernebelte. Dann sagte er mit belegter Stimme: »Ihre Eltern und ihre Schwester kamen bei einem Unfall ums Leben.«
Felicia entfuhr ein verblüffter Laut. »Mein Gott, die Ärmste!«
»Autounfall. Mehr weiß ich auch nicht. Larisa hat nie darüber gesprochen, aber danach war sie völlig verändert. Sie bat um Urlaub, das war kein Thema für mich. Scheiße, Mann, aber nach dieser furchtbaren Geschichte hatte sie eine Auszeit bitter nötig. Es war eine schlimme, schlimme Zeit für das Mädchen.«
Eine schlimme Zeit, dachte Striker. Das war gelinde gesagt Untertreibung.
An einer Wand hingen die Fotos der Mitarbeiterinnen von der Opferhilfe. Larisas Porträt war mit dabei. Dunkelbraune Haare mit einem warmen Rotschimmer. Ein offener Blick. Und ein strahlendes, gewinnendes Lächeln, wie Striker es in Erinnerung hatte.
Irgendwie vermisste er das jetzt.
Er wandte sich zum Sarj um, fing dessen Blick auf. »Hatten Sie in letzter Zeit Kontakt mit ihr?«
Der Sarj blickte versunken auf das Foto, als hätte er vergessen, dass es dort an der Wand hing.
»Nein«, antwortete er nach einer langen Weile. »Nein, wir hatten keinen Kontakt mehr.« Als Striker nicht weiter nachhakte, schloss der Sarj seufzend seine Schreibtischschublade. Dann fuhr er fort: »Ich will ganz ehrlich mit Ihnen sein, Schiffswrack – und das bleibt jetzt bitte unter uns –, aber Larisa wurde zuletzt ein bisschen … merkwürdig im Umgang mit uns.«
»Merkwürdig? Wie?«
»Ist echt nicht einfach zu erklären. Sie nahm alles persönlich. Verdammt persönlich. In gewisser Weise kann ich das ja verstehen – ich meine, der Büroklatsch hier, da kommt man sich manchmal wirklich vor wie im Kindergarten. Aber nach der Tragödie mit ihrer Familie wurde sie zunehmend verschlossener und schottete sich immer mehr ab. Sie kam nicht mehr zu den Dienstbesprechungen. Redete hier im Büro nur noch das Nötigste – und es war keinesfalls so, dass wir nicht alles versucht hätten. Wir haben regelmäßig bei ihr angerufen, ihr Hilfe angeboten, sie sporadisch besucht, um sicherzugehen, dass mit ihr alles okay war.«
»Und, hat es was genützt?«, wollte Felicia wissen.
Der Sarj zog stirnrunzelnd an seiner Lucky Strike. »Ob es was genützt hat? Keine Ahnung, verdammt! Je mehr wir uns bemühten, den Kontakt mit ihr zu halten, desto öfter blieb sie einfach weg. Einmal bin ich zu ihr gefahren, weil ich definitiv wusste, dass sie zu Hause ist. Und obwohl sie da war, hat sie mir nicht geöffnet. Ich hab geklopft wie ein Gestörter. Nichts. Es war wirklich sehr, sehr seltsam mit ihr. Danach hab ich eine E-Mail an die Personalabteilung geschickt. Dachte, die können vielleicht was für Larisa tun. Sich einschalten und ihr professionelle Hilfe anbieten oder so.«
»Und dann?«
»Und dann war sie plötzlich weg.«
»Sie hat gekündigt?«, erkundigte sich Felicia.
»Korrekt. Sie hat gekündigt. Das war so gegen Ende April, kann auch Mai gewesen sein. Ich will mich nicht festlegen, aber es war lange nachdem ihr sozialer Abstieg begann.«
»Hat Sie Ihnen die Kündigung schriftlich reingereicht?«, wollte Striker wissen.
»Nein. Sie schickte eine E-Mail, worin sie allen mitteilte, dass es ihr zwar sehr leidtue, aber sie könne den Job nicht mehr machen. Und wissen Sie was? Ich kann es ihr nicht verdenken, nach dem, was sie durchgemacht hat. Die Mädchen bekommen nämlich gar nicht die entsprechende Ausbildung und Unterstützung für den Job, den sie hier leisten müssen.«
»Ausbildung, wie hab ich das denn zu verstehen?«, fragte Felicia verdutzt.
»Na, eben wie man mit dem ganzen Kram umzugehen hat, Trauerbewältigung, Traumata und dergleichen.«
»Ich dachte, hier arbeiten durchweg ausgebildete Psychologinnen«, schob sie nach.
Der Sarj schüttelte den Kopf. »Von wegen ausgebildete Psychologinnen! Das ist ein weit verbreiteter Irrtum. Okay, seit Kurzem sind es ausschließlich Psychologinnen – hauptsächlich deshalb, weil das Department weiteren Ärger vermeiden will –, aber früher waren es bloß junge Mädchen, an deren Schulter man sich ausweinen konnte. Sie wurden nicht richtig auf ihren Job vorbereitet und bekamen null Unterstützung. Die Gewerkschaft hat lange gebraucht, um daran was zu verändern.«
Felicia nickte bedachtsam. »Den Stress hielt Larisa irgendwann nicht mehr aus. Sie brach zusammen.«
Der Sarj schwieg.
Striker schloss sich Felicias Analyse an. Er ließ sich von dem Sarj Larisas Anschrift, Telefonnummer und E-Mail-Adresse geben und glich sie mit den Infos aus der PRIME-Datenbank ab. Sie waren jedoch identisch.
»Ich hab ein Foto von ihr gespeichert. Jpeg. Geben Sie mir kurz Ihr Handy, dann spiel ich es Ihnen auf«, erbot sich der Sarj.
Striker drückte ihm das iPhone in die Hand und bekam das Foto aufgespielt. »Es ist das aktuellste Foto, das wir von ihr haben.«
»Besser als nichts«, versetzte der Detective. Bevor sie gingen, wandte er sich ein letztes Mal an den Sarj. »Wir haben es hier mit einem hochbrisanten Fall zu tun. Sie rufen mich sofort an, sobald Sie irgendwas von ihr hören sollten, okay, Sarj? Egal was, klar?«
Der Sarj nickte ernst und erhob sich.
Er umrundete seinen Schreibtisch und lief auf Socken zur Tür. Unterwegs blieb er stehen, um Larisas Foto an der Wand zu betrachten. »Sie war wahnsinnig nett und sympathisch«, seufzte er. »Das fanden wir alle. Leider ist sie zunehmend … abgedriftet. Es ist eine Schande.«
Striker nickte knapp und schob sich aus dem Büro.
Auf dem Weg zum Wagen hallten Sarjs Worte in seinem Kopf. Der Mann hatte Recht. Larisa war eine von den Guten, und sie hatte Schlimmes durchgemacht. Aber anstatt ihr wirklich zu helfen, hatten alle sie im Stich gelassen.
Er schloss sich selbst großzügig mit ein.
Felicia schenkte ihm ein warmes Lächeln. »Alles okay, Großer?«
Striker wich ihrem Blick aus. »Sie war verdammt einsam, und keiner hat was gemerkt. Nicht mal ich.«
Er stieg in den Wagen und knallte die Tür zu.
Dann fuhren sie zum VPD Mental Health Team, Wagen 87. Striker war davon überzeugt, dass sie dort eine Akte »Larisa Logan« hatten.