91

Gegen fünf Uhr am Nachmittag hatte Striker die Brandywine Falls im Rückspiegel. Der Wasserfall war im trüben Dämmerlicht kaum auszumachen, der Canyon tief steingrau, dass er mit der Baumgrenze verschmolz.

»Wir sind bald da«, sagte er.

Felicia nickte abwesend. »Und was dann? Sollen wir auf einen Anruf warten, der vielleicht nie kommen wird? Oder willst du ihr eine E-Mail schicken in der Hoffnung, dass sie darauf reagiert?«

»Nein, wir klappern die Straßen nach ihr ab. Die gute, altmodische Personensuche, knifflige, langwierige Polizeiarbeit. Wir zeigen überall ihr Foto rum, erst in Whistler und dann in Blackcomb. Mal sehen, was passiert.«

Felicia war nicht zu überzeugen. »Wir wissen überhaupt nicht, ob sie noch in einem der beiden Dörfer ist. Sie könnte sonstwo in der Gegend sein. Oder längst wieder in Vancouver.«

»Sie ist hier«, betonte Striker. »Und wenn dir was Besseres einfällt, bitte, ich bin für jeden Vorschlag offen.«

Sie fuhren schweigend durch die verschneite Berglandschaft. Als der Verkehr zunahm und Striker ein Hinweisschild »Whistler Golf and Country Club« sah, räusperte er sich.

»Wir sind fast da.«

Felicia blickte von ihrem Laptop auf. »Mir tun die Augen weh von dem kleinen Monitor, und mir ist schon ganz schlecht vor Hunger. Ich brauch dringend einen Kaffee, bevor wir anfangen. Und was zu futtern. Wir haben seit heute Morgen nichts mehr gegessen. Hast du denn keinen Hunger?«

Bevor Striker antworten konnte, klingelte sein Handy. Er schnappte sich das Teil und las das Display. Die eingeblendete Nummer sagte ihm nichts. Er fuhr an den Straßenrand.

»Detective Striker.«

»Schiffswrack«, antwortete eine tiefe, sonore Stimme. Es war sein alter Freund und früherer Mitstreiter Tom Collins von der Collins Group.

»Hey, Tommy, was hast du für mich?«

«Ich hab die Namen, die du mir gegeben hattest, mal durch unsere Versicherungsdatenbanken laufen lassen«, sagte er. »Willst du mich auf die Rolle nehmen, oder was?«

»Jetzt kann ich dir echt nicht folgen, Tom.«

Collins führte weiter aus: »Ich dachte, die Leute wären allesamt Opfer von Identitätsbetrug geworden.«

»Stimmt. Und? Wo liegt das Problem?«

»Das Problem ist, sie sind alle tot.«

Eine kurze Pause entstand. »Auf der Liste standen über fünfzig Personen. Wie viele hast du gecheckt?«

»Alle.«

»Grundgütiger.« Striker merkte, dass Felicia gespannt zu ihm blickte. »Wie sind sie zu Tode gekommen?«

»Ach, alles Mögliche. Natürliche Ursachen. Durch Unfälle. An Krankheiten. Jede Menge Selbstmorde.«

»Und welche Policen hatten die Menschen?«

»Tja, jetzt wird’s spannend. Alle hatten hohe Lebensversicherungen abgeschlossen. In gut der Hälfte der Fälle haben wir bereits gezahlt. Ich hab die Berechnungen durchgeführt. Alles in allem sprechen wir von vierundzwanzig Millionen Dollar von vierzehn verschiedenen Versicherungsunternehmen. Wie ich schon sagte, gut die Hälfte der Ansprüche wurde bereits abgewickelt.«

Striker ließ die Information erst mal sacken. Vierundzwanzig Millionen. Das war eine stolze Summe.

»Ich dachte, Lebensversicherungen zahlen bei Selbstmorden nicht?«, hakte er nach.

»Das ist ein weit verbreiteter Irrtum«, erwiderte Collins. »Lebensversicherungen zahlen auch bei einem Selbstmord, allerdings nicht in den ersten zwei Jahren nach Abschluss der Police. Die Überlegung, die dahintersteckt, ist folgende: Selbstmordgefährdete Klienten sind gar nicht in der Verfassung, zwei Jahre zu warten, bevor sie sich selbst etwas antun. Wer seine Police jedoch mindestens zwei Jahre hat und sich dann selbst umbringt, ist für gewöhnlich komplett abgesichert.«

Das Handy an sein Ohr gepresst, beobachtete Striker die Rückleuchten der vorbeifahrenden Autos. Kleine rote Lichtrauten, die mit der Dunkelheit verschmolzen. Er ließ das Gesagte auf sich wirken.

Gestohlene Identitäten. Geänderte Namen. Und vierundzwanzig Millionen Dollar aus Lebensversicherungen.

»Bist du noch dran?«, fragte Collins.

»Kannst du mir die Policennummern geben und die Namen der Versicherer?«, drängte Striker.

»Kein Problem.« Collins las sie laut vor.

Striker schrieb mit. Beim vierzehnten Namen hörte er auf zu schreiben und hob den Kopf von seinem Notizbuch. »Sekunde mal, Tommy.« Er schnippte zu Felicia.

»Wo ist die Akte aus dem Mapleview?«

»Welche Akte?«

»Die aus Lexas Büro. Die mit den medizinischen Abrechnungsschlüsseln.«

Felicia griff auf den Rücksitz und angelte nach der roten Mappe. Striker überflog die erste Seite – die mit den langen Ziffern- und Buchstabenkombinationen – und stellte spontan die Verbindung her.

Er deutete auf eine der Zeilen.

10-14141ML-MG900412.

»Schau dir das an.« Striker pfiff leise. »Die ersten sieben Ziffern sind identisch mit der Nummer von Mandy Gills Lebensversicherungspolice.«

Felicia nickte nach kurzem Hinsehen. »Stimmt. Und der Rest?«

»ML steht für Manual Life, das ist der Name des Anbieters.«

»Scheiße – du hast Recht. Und MG steht für Mandilla Gill, dann folgt ihr Geburtsdatum, 12. April 1990.« Mit einem Blick erfasste sie die Seite. »Herrgott, sie sind alle hier aufgeführt. Über zehn Seiten.«

Striker nickte. Er fing Felicias bestürzten Blick auf. »Tommy, ich ruf dich später wieder an.«

»Was hast du?«, wollte er von seiner Kollegin wissen.

Sie antwortete fast widerstrebend. »Ich hab den Eindruck, dass Lexa, Dalia und Gabriel den Leuten die Identität raubten und sie systematisch ausplünderten. Danach brachten sie ihre Opfer um, um die Lebensversicherung zu kassieren, ließen es jedoch wie Unfälle, Selbstmorde und so aussehen.«

Striker nickte. »Kompliziert und komplex, ja.«

»Ich hab da allerdings ein kleines Problem. Theoretisch macht es keinen Sinn.«

»Inwiefern?«

»Weshalb sollten sie das tun? Durch ihre Eheschließung ist Lexa an den Einkünften aus dem EvenHealth-Programm beteiligt. Das bringt jährlich zighunderttausend Dollar ein. Und sie bekommt einen prozentualen Anteil von jeder SILC-Therapie, die andere Kliniken durchführen. Sie fahren einen dicken BMW und einen Landrover. Ihnen gehört ein Anwesen in Point Grey.«

»Und wo liegt das Problem?«

»Ich kapier nicht, warum sie so etwas macht. Sie braucht das Geld nicht. Sie ist verdammt gut abgesichert.«

Striker schüttelte langsam den Kopf. »Du vergisst das entscheidende Motiv. Hier geht es gar nicht um Geld, Feleesh. Lexa ist es nie wirklich um das Geld gegangen.«

»Worum geht es ihr dann?«

»Um Dominanz, Manipulation, Kontrolle. Lexa ist die treibende Kraft, die diese krummen Dinger dreht, und das geht schon über Jahre so. Sie hatte Ostermann in der Hand. Und sie hat Dalia und Gabriel in der Hand. Die beiden sind völlig durch den Wind. Sie macht es nicht wegen der Kohle. Oder um sich finanziell abzusichern. Oder aus sonstwie gearteten materialistischen Erwägungen. Sie macht es, weil sie den Thrill braucht, das Jagdfieber. Weil sie eine Psychopathin ist. Eine Serienmörderin. Und sie lebt nur für diese eine Sache – das Spiel

Zornesblind
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