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Es war eher Zufall, dass Mandy Gill so schnell gefunden wurde. Ein Anrufer, der anonym bleiben wollte, hatte die Polizei informiert, dass ihm etwas Verdächtiges aufgefallen sei. Laut seiner Aussage versteckte sich jemand in den Büschen hinter dem baufälligen Lucky Lodge, irgendwo in der Nähe der Union Street.
Das war an sich nichts Besonderes – verdächtige Subjekte wurden andauernd gemeldet, vor allem in Strathcona –, zudem hatte die Stadt seit einem Dreivierteljahr Probleme mit einem Brandstifter. Deswegen hatte die Gegend von der Union Street bis Perdon oberste Priorität. Folglich war umgehend ein Streifenwagen dorthin geschickt worden.
Newcomer Wong hatte die Arschkarte gezogen. Allein auf Streife in dem betreffenden Bezirk, war er zum Lucky Lodge gefahren und buchstäblich über die Leiche gestolpert.
Mandy Gill.
Striker betrat das kleine Apartment, sorgfältig darauf bedacht, keine Spuren zu vernichten. Drinnen war es fast so kalt wie draußen, und das fand er frustrierend.
Er sah sich um. Die Bude war winzig, ein separates Bad und ein Zimmer, komplett mit Kochnische und Sitzecke, an einer Wand stand ein schmales Bett mit einem schäbigen Eisengestell. Alles in allem war es die traurige Bestandsaufnahme eines kurzen Mädchenlebens.
Schmutziges Geschirr türmte sich im Spülbecken. Eine geöffnete Milchpackung stand auf dem Herd. Auf dem Tresen und überall auf dem Boden lagen alte Zeitungen und Werbebroschüren.
Nach einem langen Augenblick atmete Striker tief durch und trat schweren Herzens zu der Toten. Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf Mandys Gesicht und betrachtete das Mädchen.
Es tat ihm in der Seele leid.
Mandy Gill saß zurückgelehnt in dem zerschlissenen Polster eines alten Klappsessels. Das Möbel war so positioniert, dass sie aus dem einzigen Fenster des Raumes schauen konnte – das Fenster hatte eine mehrfach gesprungene Glasscheibe und ging nach Westen hinaus. Mandy hielt ein leeres Tablettenröhrchen in der Hand, in ihren Mundwinkeln klebte eine weißlich schimmernde Kruste von der Pillensubstanz. Sie atmete nicht mehr.
In dem grellweißen Strahl der Taschenlampe sah er, dass sämtliche Farbe aus ihrer olivfarbenen Haut gewichen war, ihr Teint wirkte aschig grau.
Striker beugte sich dichter über die junge Frau. Ihre Gesichtsmuskulatur war erschlafft, ihre Augen weit geöffnet und glasig, starrte sie durch das Fenster in eine Welt, die im Tod genauso abweisend zu ihr war wie zu Lebzeiten. Der leere Ausdruck auf ihrem Gesicht traf Striker hart wie ein Schlag in den Solarplexus.
Mandy Gill sah traurig aus, sogar im Tod.
Striker verdrängte den Gedanken. Er drehte sich zu Constable Wong, der schweigend in der Tür stehen geblieben war.
»Wann trafen Sie hier ein?«, wollte er wissen.
»Was?«
»Wie lange sind Sie schon hier?«
»Äh … zwanzig Minuten, vielleicht auch länger.«
Striker nickte. »Haben Sie die Umgebung überprüft?«
Wong deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Die anderen Apartments sind alle unbewohnt. Eigentlich dürfte sie gar nicht hier sein. Das Haus wurde vor gut einem Monat zwangsgeräumt. Alle anderen Bewohner sind ausgezogen. Keine Ahnung, wieso sie überhaupt hier ist.«
»Sie ist hier, weil sie nicht wusste, wohin sie sonst sollte. Haben Sie die Telefonnummer des Verwalters?«
»Liegt im Wagen.«
Striker grinste gezwungen. »Da nützt sie uns momentan herzlich wenig.«
»Kein Problem. Ich hol sie.« Wong schnellte herum und lief aus dem Apartment. Striker hörte die schweren Stiefel des jungen Cops über die Stufen nach unten donnern und wandte sich wieder dem toten Mädchen zu. Angestrengt bemüht, sie nur als »die Leiche« oder »die Tote« zu sehen.
Ganz egal, bloß nicht als Mandy.
Es war unmöglich. Sein Gewissen sperrte sich dagegen. Erinnerungen stürmten auf ihn ein – traurige Erinnerungen. Er hatte für Mandy gehofft, dass sie es schaffen würde. Den Absprung aus diesem Loch. Aus dieser Gegend. Aus dieser verdammten Stadt. Aber wie so viele andere vor ihr war sie geblieben. Und hatte am Ende ihren eigenen Weg gefunden.
Der einzige Weg, den sie kannte.
»Es tut mir so leid«, sagte er weich. »Ich hätte mich einfach mehr kümmern sollen.«
Er berührte mit den Fingern behutsam ihre Wange.
Zwischen seine Brauen schob sich eine steile Falte.
Ihr Gesicht war noch warm.
Schlagartig meldete sich sein innerer Radar. Er straffte sich, lief zu der Küchenzeile und zum Herd. Legte seinen Handrücken prüfend an den Milchkarton.
Die Milch war verhältnismäßig kalt.
Die Frau konnte noch nicht lange tot sein – zumindest ermittlungstechnisch betrachtet. Und jeder mysteriöse Todesfall zog Ermittlungen nach sich und lief so lange unter der Rubrik Verbrechen, bis sich etwas anderes herausstellte. Er schnappte sich Stift und Notizbuch und notierte: Todeszeitpunkt? Als er den Kopf hob, fiel sein Blick auf den Teppichläufer am Boden.
Es war ein altes Ding, das Mandy sich vermutlich von der Heilsarmee oder der Caritas organisiert hatte. Schmutzig grün und fadenscheinig wie der Sessel, mit schreiend gelbem Blumenmuster.
Farbe und Muster waren jedoch nebensächlich, Striker interessierte sich viel mehr für den Teppichflor. Genauer gesagt für die Abdrücke, die in dem weichen Gewebe erkennbar waren. Bei genauerer Betrachtung stellte er nämlich fest, dass der Sessel von seinem ursprünglichen Platz weggerückt worden war. Und so platziert, dass man den Blick aus dem Fenster hatte.
Eigenartig.
Hatte Mandy in der Stunde ihres Todes den Sonnenuntergang betrachten wollen? Das Timing kam hin. Und wenn nicht die untergehende Sonne, was dann?
Striker ging zum Fenster. Draußen wurde es langsam dunkel. Vereinzelte Sonnenstrahlen kämpften sich blutorangerot durch die bleigraue Wolkendecke, ließen die Welt wärmer erscheinen, als sie es in Wirklichkeit war.
Das Nachbargrundstück, zwei Stockwerke unter ihm, war eine einzige Bauruine.
Strikers Blick sondierte das Areal, auf dem sich bergeweise Bauschutt von einem Hausabriss türmte. Gerade als er sich wieder dem Zimmer zuwenden und Mandys persönliche Sachen durchgehen wollte, registrierte er aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung – von einem gleißenden Sonnenstrahl getroffen, blitzte da draußen irgendetwas metallisch glitzernd auf. Auf einem Mauervorsprung direkt vor dem Fenster stand ein kleiner Gegenstand mit einer kreisrunden Glasfront.
Eine Videokamera.
Das Objektiv fokussierte das Zimmer.
Striker packte kurz entschlossen den Griff des Fensters und versuchte es zu öffnen, der alte Holzrahmen hatte sich jedoch im Laufe der Jahre verzogen und gab keinen Zentimeter nach. Null Chance, das Fenster zu öffnen.
Wer auch immer die Kamera auf den Sims gestellt hatte, musste es von draußen getan haben.
Automatisch drückte Striker die Stirn an die kalte Scheibe, als er ein weiches, leise ächzendes Geräusch hinter sich wahrnahm. Mit dem Schlimmsten rechnend, wirbelte er herum …
Und entspannte sich wieder. Es war bloß die Luft, die aus der Toten entwich – ein ganz normales Phänomen, das mit beginnender Leichenstarre einsetzte. Erleichtert drehte er sich wieder zum Fenster. Und bekam einen mittleren Schock:
Die Kamera war weg.